MusikTexte 160 – Februar 2019, 3–4

#MeToo und Konsequenzen für die Neue Musik

von Moritz Eggert

Die #MeToo-Diskussion in der klassischen Musik scheint im Alltag angekommen zu sein. Auch wenn kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo neue Vorwürfe wegen sexueller Belästigung durch Musiker bekannt wer­den, hat sich in der Öffentlichkeit ein gewisser Abnut­zungs­effekt eingestellt, der vielleicht auch eine not­wen­dige Gegenreaktion auf übergroße Hysterie darstellt. Gleich­zeitig besteht aber auch die Gefahr, dass die Agenda an sich versandet. Denn es geht keineswegs „nur“ um sexu­elle Übergriffe (auch wenn der Schutz vor diesen weiter­hin ein dringendes Thema sein muss), sondern um eine neue gesellschaftliche Definition der Geschlechterrollen in der klassischen wie auch zeitgenössischen Musik.

Im deutschsprachigen Raum ist das Selbstbild der klas­si­schen Musik durch die allgegenwärtige Historie weiter­hin zutiefst patriarchalisch geprägt. In den Opernhäusern starren uns die Büsten von ausschließlich männlichen Komponisten an, im Musikunterricht tauchen Komponis­tinnen nicht auf, außer man widmet sich aktuellster zeit­genössischer Musik (was nur selten der Fall ist). Auch in der Darstellung in der Populärkultur sind die Rollen klar verteilt: Männer sind dort die „Macher“, Frauen aus­schließ­lich Interpretinnen, und in dieser Rolle meist nur erfolgreich, wenn sie hübsch anzuschauen sind. Die gro­ßen weiblichen Klassikstars von heute müssen meistens vor allem eines: gut aussehen. Die Covers von Klassik­ma­ga­zinen sind daher inzwischen kaum noch von Modema­ga­zinen zu unterscheiden, die meisten weiblichen Stars präsentieren sich wie Models.

Auch in der Popmusik betätigen sich die meisten Frauen vornehmlich als Interpretinnen. Männer sind Produzen­ten und Songwriter in Personalunion (Beispiele wären Kanye West und Pharell Williams), wogegen Frauen sich meist männlicher Songwriter bedienen, und sich „produzieren lassen“, wenn auch zunehmend selbstbestimmter, wie etwa Madonna oder Lady Gaga. All dies ist wei­ter­hin nahe an der Weltsicht des neunzehnten Jahr­hun­derts, in dem Frauen nicht zugetraut wurde, eine schöp­fe­rische künst­lerische Rolle zu spielen. Die Literatur war historisch die erste Kunstgattung, die dagegen aufbe­gehrte, aber den­noch war es ein langer Weg von Jane Austen bis zu Mar­ga­ret Atwood. Und bis heute werden Bücher von männlichen Autoren bevorzugt rezensiert und besprochen. Dennoch ist der Erfolg von Autorinnen nicht zu übersehen. Es deprimiert daher, wenn man den Einfluss von Frauen in der Literaturszene mit dem Ein­fluss von Frauen in der klassischen und neuen Musik­szene vergleicht. Hier tut sich nach wie vor ein riesiger Spalt auf.

Während meines Studiums in den Achtziger- und Neunzigerjahren war „Frauen taugen nur für bestimmte Dinge“ nach wie vor der Status quo. Zu dieser Zeit be­haup­tete zum Beispiel ein ehemaliger Münchener Kom­po­sitionsprofessor allen Ernstes im Unterricht, dass Frauen im Ge­hirn bestimmte „Synapsen“ zum Kompo­nieren fehlten (derselbe Professor ist inzwischen wegen Vergewaltigung angeklagt). Inhaltlich ähnliches hörte ich auch von anderen Lehrkräften während meines Stu­diums, meistens in trauter Männerrunde. Diese Äußerungen wa­­ren oft keinem grundsätzlichen Frauenhass geschuldet, man glaubte tatsächlich nicht, dass Frauen zum Beispiel als Blechbläserinnen, Komponistinnen oder Dirigen­tin­nen „ihren Mann“ stehen könnten. Hierzu wurden zahl­reiche „physische“ Handicaps aufgezählt, die heutzutage geradezu lächerlich anmuten. So sagten Orchester­mu­si­ker, sie würden einer Dirigentin immer nur „auf den Bu­sen“ schauen, die Bewegungen seien zu rund und zu weich, et cetera. Komponistinnen wiederum wurde nicht zugetraut, jemals so gut wie die „Altvorderen“ sein zu können, oder zum Beispiel selbstbewusst genug vor ein Orchester treten zu können, um ihre Musik zu verteidigen. Die wenigen Komponistinnen, die ich in dieser Zeit ken­nen­lernte, trauten sich daher meist nicht, Komposition als Hauptfach zu studieren, sondern betrieben sie eher als „Hobby“, zum Beispiel als Ergänzung zu einem Schul­musikstudium. Als Nebenbetätigung versandete das Kom­ponieren dann meist später.

In meiner Studienzeit an der Münchner Musik­hoch­schule (immerhin sechs Jahre lang) bewarb sich unter hunderten von Bewerbern keine einzige (!) Frau für das Kompositionsstudium, erst in London (Anfang der Neun­zigerjahre) erlebte ich zum ersten Mal eine Kommilitonin im Fach Komposition, aber auch dort war das Verhältnis Männer zu Frauen Zwanzig zu Eins. Dies änderte sich später zum Beispiel in München, allerdings fiel seit den jüngsten Skandalen um die Münchner Musikhochschule die Frauenquote bei den Bewerbungen wieder gegen Null.

Bei meinen Reisen ins Ausland fiel mir auf, dass es zum Beispiel in Osteuropa ganz anders aussah. In Russland oder der Ukraine lernte ich zahlreiche Komponistinnen meines Alters kennen; diese traten selbstbewusst und ehrgeizig auf, und erlebten auch offensichtlich in ihren Ländern mehr grundsätzliche Akzeptanz als hierzulande. Die Gründe hierfür sind vielfältig und haben auch mit der zum Teil vom Staat forcierten Gleichberechtigung in ehemals kommunistischen Ländern zu tun. Es ist aber klar, dass das einmal erlangte Selbstbewusstsein Bestand hatte und sich auf Karrieren von Künstlerinnen positiv auswirkte, weitere Generationen prägte und anregte. Ähn­liches war aber auch in Ländern zu beobachten, deren (klassische) Musikgeschichte eher „jung“ ist, und in denen männliche Komponisten als historische Vorbilder nicht so dominant sind wie hierzulande.

Dennoch, seither hat sich auch bei uns viel getan – zahl­reiche Initiativen zur Förderung speziell von Kompo­nis­tinnen wurden ins Leben gerufen. Inzwischen gibt es Archive, Sonderstipendien, Wettbewerbe nur für Werke von Frauen. Man könnte meinen, dass die Situation für weibliche Musikschaffende in unserem Kulturraum im Gegensatz zu früher nun besonders günstig sei – wenn nicht durch die #MeToo-Skandale klar geworden wäre, dass die hässliche Seite des Patriarchats nach wie vor exis­­tiert, allerdings meist hinter verschlossenen Türen. Weiterhin werden Intendanten bevorzugt vor Intendan­tinnen engagiert, und es gibt in der Musik deutlich we­ni­ger Frauen in leitenden und verantwortlichen Positionen als es zum Beispiel Politikerinnen gibt. Bis sich das kulturell lange etablierte Rollenbild ändert, können wir uns hundertmal vornehmen, nun „gleichberechtigt“ zu agieren, denn wir sind es erst, wenn das Thema an sich von der Tagesordnung verschwinden kann, weil es nicht mehr notwendig ist, darüber zu reden.

Die „Sonderbehandlung“ von Frauen, ja, auch die Dis­kussion des Themas an sich hat Schattenseiten: Sie macht ein neues Ghetto auf, das seit kurzem auch unter der zunehmend kontroversen und rechtspopulistischen Diskussion um „politische Korrektheit“ und dem leider nicht irrealen Gespenst des „frustrierten, mittelalten weißen Mannes“ leidet, der seine Pfründe schwinden sieht. Auf der einen Seite steht zunehmende Kritik an überkommenen Konzepten wie zum Beispiel dem all­mächtigen „Maestro“ , auf der anderen Seite gibt es die Gegenreaktion, zum Beispiel zahlreiche gehässige Kom­mentare in den sozialen Medien, die versuchen, die #MeToo-Diskussion als Hysterie kleinzureden. Unter einem satirischen Video zum Thema, das ich zusammen mit der jungen Komponistin Carlotta Rabea Joachim ver­fasste,1 fand ich noch vor wenigen Tagen den ano­nymen Kommentar: „Du Arschloch, es stimmt WIRK­LICH, dass Frauen Synapsen zum Komponieren feh­len !!!“ Ein Pianistenkollege, der ausschließlich Neue Musik spielt, schrieb mir auf Facebook neulich, dass er die meisten Frauen „nur mit der Kneifzange“ anfassen würde, und deren angestammter Platz „am Herd“ sei.

Der Umgang mit der Thematik ist also alles andere als entspannt – wo Gleichstellung mit Quoten durchgesetzt wird, hat es nicht nur positive Effekte, da dann den unter­stützten Frauen indirekt die Fähigkeit abgesprochen wird, allein mit ihren musikalischen Fähigkeiten reüssieren zu können. Ohne Quote wiederum entgeht vielen Frauen die Gelegenheit, eben diese Qualitäten unter Beweis zu stellen.

Was fehlt, ist der normale und ungezwungene Umgang mit der Gleichberechtigung, die Alltäglichkeit, die nicht mehr hinterfragt oder künstlich unterstützt werden muss. Frauen sollten sich nicht als „Minderheit“ behaup­ten müssen, denn sie sind keine und waren es nie. Ich kenne viele Komponistinnen, die sich daher weigern, ihre Kar­rie­ren dieser Debatte unterzuordnen, sie wollen we­gen ihrer Musik geachtet werden, nicht wegen ihres Ge­schlechts. Auf der anderen Seite stehen die Kolleginnen, die trotz Erfolg weiterhin dezidiert auf diskriminierende Behand­lung hinweisen, als Beispiel wäre die angesehene Kom­po­­nistin Olga Neuwirth zu nennen, die dies in zahlreichen Interviews angeprangert hat.

Wo stehen wir, in welche Richtung bewegen wir uns? Ich denke, dass die momentane Diskussion eine schwie­rige, aber notwendige Phase ist. Es ist zu konstatieren, dass die klassische (und damit teilweise auch die neue) Musik hier gesellschaftlichen Entwicklungen eher hin­ter­herhängt, anders als in anderen Künsten. Die Ge­schlechter (und hierbei sollte man auf jeden Fall auch die diversgeschlechtlichen Menschen nicht vergessen) sind verunsichert, und diese Verunsicherung zeigt sich in allen Facetten dieser Diskussion. Daher wäre es tatsächlich wichtig, eine neue Sachlichkeit in den Diskurs einzu­füh­ren. Die Phase des Humbugs („Frauen können nicht kom­ponieren/dirigieren et cetera“) liegt hinter uns, auch wenn mancher Holzkopf sich daran noch abarbeitet. Aber wir sind momentan in einer Folgephase, in der eine neue Form von idealisierendem Aberglauben („Frauen sind die besseren Menschen“) beziehungsweise verteu­feln­dem („alle Männer sind Machos“) Argumente ins Spiel bringt, die die Alltäglichkeit von Gleichberechtigung verhindert. Die junge Generation von heute ist jedoch vermutlich schon längst weiter, und wird ihren Teil dazu beitragen, die Zukunft entscheidend zu prägen.

Am Ende kommt tatsächlich der neuen Musik eine besondere Rolle als Hoffnungsträger zu: weil hier in­zwi­schen weniger Diskriminierung herrscht als ansonsten in der klassischen Musik (und die Zahl der Komponistinnen beständig wächst), könnte aktuelle Musik einen ent­schei­denden Beitrag dazu leisten, die Dinge dauerhaft zu ver­ändern. Doch die Verantwortung liegt nicht allein bei den Schöpferinnen und Schöpfern neuer Musik, sondern vor allem bei den Institutionen, die diese Musik aufführen. Wenn mehr neue Opern ge­spielt würden, gäbe es auch mehr Komponistinnen als Vorbilder für junge Talente. Wenn mehr zeitgenössische Orchester- und Ensemble­werke gespielt würden, vor allem im „normalen“ Abo-Repertoire, wäre die Chance wesentlich höher, dass diese von Frauen sind, als wenn man (wie weiterhin üblich) auf einem immer kleiner werdenden Repertoire des vor­nehm­lich neunzehnten Jahrhunderts herumreitet. Daher ist im Moment vor allem die Ebene der Intendanzen von Opernhäusern, Orchestern und Musikfestivals gefragt. Denn eines ist sicher: Eine emphatische Hinwendung zum Neuen würde auf entspannteste und natürlichste Weise dazu beitragen, den Chauvinismus der klassischen Musik endgültig zu überwinden.

1„Zu Besuch bei einer ‚Komponistin‘“, www.youtube.com/