MusikTexte 160 – Februar 2019, 94

Beckmesser’s Choice

Ausgewählte Compact Discs neuer Musik

von Max Nyffeler

... und immer wieder Ars nova

Neue Musik gibt es bekanntlich nicht erst seit hundert, sondern seit siebenhundert Jahren. 1322 veröffentlichte Philippe de Vitry, Bischof, Komponist und Musiktheo­­­retiker, seinen Traktat „Ars nova“, in dem er durch neue Notationsprinzipien die weltliche Öffnung der Musik vorantrieb und die gegenüber der Naturtonstimmung zu große pythagoreische Terz gegen den Willen des Papstes salonfähig machte. Der Geiger Helge Slaatto und der Kontrabassist Frank Reinecke haben zweistimmige Motetten und Chansons von Vitry und seinem kongenialen Glaubensbruder Guillaume de Machaut in pythagoreischer Stimmung eingespielt, und hier ist die verruchte, leicht scharf klingende Terz zu hören. Die instrumentale Reduktion zeigt die Vokalwerke in Feinzeichnung und zeitloser Frische; vertrackte Rhythmen und eine konstruktive, für uns kaum durchschaubare lineare Logik machen die Stücke zu einer Entdeckungsreise. Das verbindet sie mit der „Plainsound Study Nr. 1“ von Wolfgang Schweinitz. Das Trennende ist die Stimmung, denn diese mit bewährter Schweinitzscher Akribie gearbeitete harmonische Studie basiert auf der Naturtonleiter. Das klingt berückend schön, und der Aufstieg in die höchsten Flageolettlagen ist atemberaubend. Der Brückenschlag über sieben Jahrhunderte befreit das Wort „neu“ vom heutigen Mar­ke­tinggeruch. (Neos, 2018)

Traumszenen

Auf der Porträt-CD „Obraz“ („Antlitz“) von und mit Fabio Nieder dominiert das Klavier. Der Klang wird durch das Pedal verhallt oder elektronisch verfremdet, was zusammen mit den durchwegs langsamen Tempi eine Atmosphäre der Unwirklichkeit erzeugt. Die slowenischen Volksliedmelodien weiten sich ins Monumentale, das „Pentatonische Fragment einer tatarischen Volksweise“ wird zum körpernahen akustischen Porträt des Pianisten Aldo Orvieto. In „Zwei Spiegel“ mit Texten von Paul Celan und Fabio Nieder klingt die Stimme des Komponisten gruftig-hohl, während das in einer Klavier- und einer Lautsprecherversion als Cantus firmus verarbeitete Lutherlied Vom Himmel hoch“ die Zeit ins Unermessliche dehnt. Die Musik hat insgesamt einen stark reflexiven Charakter und öffnet traumartige, dramatisch bewegte Innenräume. Fabio Nieder ist in Triest, einer Stadt im Schnittpunkt der Kulturen, aufgewachsen. Die Mischung von slowenischen, italienischen und habsburgischen Ingredienzien verleiht seiner Musik einen beunruhigenden Ausdruck, irgendwo zwischen unheimlich und nostalgisch. (Stradivarius, 2018)

Feinarbeit und Geknattere

Musik aus dem Computer hat mit ihrer Uneigentlichkeit stets etwas Schillerndes, was sich auch bei den elf Stücken auf der von der Degem edierten CD „Drop the Beat“ zeigt. Sie reichen vom überdrehten Blubber- und Knatterakt bis zum abstrakten Konzept. Jiayi Wu lässt Klänge mit unterschiedlichen Physiognomien in Loops gegeneinander antreten, Kirsten Reese erzeugt mit fehlerhaften Algorithmen leicht nervige Ostinati, Johannes Kreidler demonstriert mit einem Mix von Banal und Komplex seine Verachtung für Ferneyhoughs Ästhetik, Lina Posėčnaitė praktiziert feine Übergänge zwischen Alltags- und Computergeräuschen. Den Vogel schießt Jörg Lindenmaier ab, indem er über die Dauer von drei Minuten einfach zwei eng benachbarte metallene Klänge langsam verschwinden lässt, wobei man der Interferenz nachhören kann. (Edition Degem, 2018)

Die große Freiheit

Eine klanglich und rhythmisch abwechslungsreiche, von einem elastischen Zeitverlauf geprägte Ensemblestudie ist „anstatt dass“, dessen Titel auf Brechts Song aus der „Dreigroschenoper“ verweist. Robin Hoffmanns Stück besitzt Innenspannung, aber dass die Verlagerung der Akzente vom schweren auf den leichten Taktteil Zeichen einer permanenten Rebellion sein soll, wie das Booklet behauptet, basiert auf einem veralteten Verständnis von Rhythmus und Metrik und ist nach hundert Jahren Jazzgeschichte ohnehin obsolet. Auf das Phänomen des beweglichen, durch den Akt der Hervorbringung lebendig modifizierten Klangs fokussiert Hoffmann auch in einer Material­studie für Violoncello (Michael Kasper) mit ihren im Wortsinn „griffigen“ Klängen und in „Street Music“ für Posaune solo (Bruce Collings), wo mit Signalhorn­imitation und auskomponiertem Dopplereffekt räumliche Bewegung suggeriert wird. Hoffmanns Vorliebe für heterophone und homorhythmische Strukturen tritt auch in dem für die Neuen Vocalsolisten Stuttgart komponierten Sextett „was stimmt“ hervor; allerlei Tierlaute lockern den Verlauf auf. „Kunst pfeifen“ für einen Kunstpfeifer/Sänger und Ensemble verrät schließlich etwas von seinen heimlichen Träumen: der großen Freiheit des Cowboys, dem Ausbruch aus der Enge der Festivalformate und institutionalisierten Normen. Oder ist das etwa nur ironisch gemeint? (Thorofon, 2018)

Klangzeichen aus dem Osten

Strahlende Präsenz des Klangs ist ein Hauptmerkmal des unter der Leitung von Olga Prykhodko musizierenden Vokalensembles „Alter Ratio“ aus der Ukraine. Der satte zwölfstimmige, harmonisch changierende Cluster, mit dem die „Marianischen Antiphonen“ von Maxim Shalygin beginnen, springt einen förmlich an, die weiteren Sätze vertiefen den suggestiven Eindruck bis in die Pianowirkungen hinein. Die individuelle Linie ist eingebettet in einen warmen Gesamtklang, ein intensiv leuchtendes, vielfarbiges und enorm bewegliches körperhaftes Gebilde, oder sie geht gleich ganz in ihm auf. Der Chorstil wurzelt offenkundig in einer Tradition des gemeinschaftlichen Gesangs, vermutlich in der ostkirchlichen Praxis. Dem entspricht die Auswahl der Werke der vier Komponisten auf dieser Doppel-CD, deren Produktion vom Institut für Religionswissenschaften in Kiew unterstützt wurde. Es sind alles Mariengesänge. Svyatoslav Lunyov arbeitet in „Mariologia“ mit reduzierter Besetzung, hervortretenden Soli und Begleitung von Harfe und Schlagzeug, Maxim Kolomiiets in seinen Antiphonen mit scharfen Dissonanzen, die kammermusikalisch aufgelöst sind und bis zum Geräuschklang reichen; bei Alexey Retinsky dominieren mikrotonal aufgespaltene Melodik, abrupte Zäsuren und dramatische Höhepunkte. Jenseits aller kirchlichen Inhalte zeichnen sich in den Werken die Umrisse eines Chorstils ab, in dessen aufwühlender Diktion ein Stück europäischer Befindlichkeit zum Ausdruck kommt, die in der neuen Musik nicht eben häufig anzutreffen ist: In der Ukraine herrscht Krieg. (Kontakt über www.facebook.com/AlterRatio/ oder Email: prikhodkoolya@gmail.com)