MusikTexte 160 – Februar 2019, 15–17

Betrunkene Engel und klappernde Knochen

Doppelbegabungen im arbeitsteiligen Musikleben: Vladimir Guicheff Bogacz

von Rainer Nonnenmann

Der 1986 in Montevideo geborene Vladimir Guicheff Bogacz, ein weiterer Komponist-Interpret,1 hat bis 2012 an der Musikuniversität der uruguayischen Hauptstadt Gitarre bei Mario Paysée, Tangogitarre bei Julio Cobelli und Komposition bei Osvaldo Budón und Luis Jure studiert. Anschließend machte er seinen Master in Komposition bei Johannes Schöllhorn in Köln. Vladimir Gui­cheff arbeitet als Komponist sowie Gitarrist, Tango-Gitarrist, Improvisator und Vokalperformer in verschiedenen Ensembles. Er möchte alles zugleich sein und ist sich auch des Einflusses bewusst, den sein Hauptinstrument Gitarre auf sein Komponieren hat:

Als Kind gab es zuhause eine Gitarre, aber ich wusste überhaupt nicht, wie man darauf spielt, weder Akkorde noch Melodien oder so etwas. Stattdessen habe ich die Saiten gescratcht und mit einem Mikrophon aufgenommen. Als ich dann richtig Gitarre studierte, habe ich von den ersten Etüden an immer Dinge verändert und aus dem Notierten meine eigenen Variationen gemacht. Da war mir schon klar, dass ich komponieren wollte. Von Anfang an habe ich beides gemacht. In meiner Musik gibt es zum Beispiel sehr oft einen Akkord, der arpeggiert wird. Das ist eigentlich eine Übersetzung dessen, was ich auf der Gitarre mache. Denn mit diesem Akkord kann ich auch in meiner Ensemblemusik verschiedene Patterns gestalten und dazu die Klangfarben ändern.2

Auratisches Komponieren: „angelitos ebrios (o el brío)“

Vladimir Guicheffs „angelitos ebrios (o el brío)“ von 2016 wurde vom Ensemble Garage im Rahmen der Biennale New Talents Cologne im Kunstmuseum Kolumba uraufgeführt. Der Komponist reagierte dabei auf die Exponate und hallige Akustik des Museums, von dessen großem Zentralraum mehrere Ausstellungsräume abzweigen. In seinem Werkkommentar schrieb er: „Das Stück handelt von Abwesenheit, Distanz und Kommunikation; davon, wie diese drei Elemente interagieren und sich gegenseitig aufheben. Es dreht sich auch um die Idee von einer Transmutation der Raumerfahrung durch bestimmte Kondi­tionen, eines Raumes voller Filter, die uns magische Dinge glauben machen.“ Die Klanglichkeit des Stücks ist bisweilen scharf und energetisch. Die Instrumente spielen alle denselben Modus in jeweils eigener instrumentenspezifischer Ausprägung mit schnellen Repetitionen, motorischem Rattern, kraftvoll zupackenden und geräuschhaften Spielweisen. Neben schnellem Gewisper und klirrenden Morsesignalen im höchsten Register des Klaviers erscheinen auch expressive Kantilenen und sprachhafte Wendungen, als solle etwas Bestimmtes ausgesagt oder mitgeteilt werden. Als spezifische Ausprägung des Modus spielt das Klavier plötzlich einen Walzer „grandioso“, der durch gepresste Streicherklänge sowie harmonikale und metrische Schwankungen allerdings leicht grotesk verzerrt erscheint. Die schwungvolle Ausgelassenheit gerät daher – worauf der spanische Werktitel „Betrunkene Engel (oder die Lebhaftigkeit)“ anspielt – ins Trudeln.

Das Stück „angelitos ebrios“ hat auch den anderen mög­lichen Titel „(o el brío)“, der dieses Gefühl von Lebendigkeit meint, das im Deutschen keine genaue Entsprechung hat. Mir war es wichtig, in dieses Stück einen Walzer reinzulassen. Der ist kein Zitat, sondern selbstkomponiert. Er könnte wie ein Zitat klingen, ist aber irgendwie falsch, denn sein erster Teil besteht nur aus Moll-Akkorden und der zweite nur aus Dur-Akkorden. Die Tonhöhenlinie entspricht dem Modus, der durch das ganze Stück gespielt wird, eine Art Messiaen-Modus mit falschen Tönen, die es so bei Messiaen nicht gibt. Was vorher und danach die ganze Zeit über da ist, erscheint plötzlich in diesem Walzer, nur in einer ganz anderen Form.

Abgesehen von Soli und kammermusikalischen Ausdün­nungen besteht „angelitos ebrios“ vor allem aus schnellen Repetitionen, kraftvollen Akkorden, langen Liegetönen, sirrenden Trillern, aggressiven Multiphonics und flirrenden Lineamenten. Die Energetik, Rauhheit und geheimnisvolle Sprachhaftigkeit hat etwas Archaisches, Kultisches, Urtümliches. Diesen Eindruck verstärken instrumentatorische Eigenheiten. Scheinbar als direkte Antwort auf den „falschen“ Walzer bläst der Fagottist nur auf drei Fagott-Mundstücken wie auf einer „Hand-Okarina“. Indem er den Blasdruck variiert und die Enden der Mundstücke mit einer Hand wahlweise abdeckt oder öffnet, erfährt der schrille Klang glissandoartige Tonbeugungen. Dieselbe Spieltechnik verwendet Guicheff Bo­gacz auch in seinen Improvisationen, bei denen er unter anderem eine Trompete mit Fagott-Mundstück bläst. In seinen Anmerkungen zu „angelitos ebrios“ charakterisiert er die Fagott-Mundstücke – als Pendant zu den „betrunkenen Engeln“ – als gefallene Engel beziehungsweise als „die drei Teufel“.

Eine Besonderheit ist auch der Platz der Posaune: möglichst weit vom Ensemble entfernt im Rücken des Publikums. Zuerst spielt der Posaunist nur leise, kurz eingeworfene Töne, deren Herkunft das Publikum kaum verorten kann, danach möglichst mit Zirkularatmung ein über sechzig Takte gestrecktes und daher ebenfalls kaum merkliches Glissando von d bis fis. Später platzt er lautstark wie ein Nebelhorn mit einem ffff-Liegeton heraus. Auch im letzten Teil lässt er machtvolle Signaltöne aus dem Nichts ins fff anschwellen und während anschließender Generalpausen im Raum verklingen. Das Ensemble soll dazu „senza misura“ auf die Posaunen-Rufe reagieren und die eigenen Einsätze den akustischen Gegebenheiten des Aufführungsorts anpassen. Schließlich verselbständigt sich der Posaunenpart. Statt wie bisher in chromatisch-vierteltöniger Stimmung im Dialog mit dem Ensemble bläst er ab Takt 322 auf der Grundlage unterschiedlicher Zugstellungen natürliche Obertöne. Dadurch kommt es zu mikrotonalen Reibungen und spek­tralen Konstellationen mit dezent hinzugefügten natürlichen Flageoletts der Streicher. Das letzte Wort behalten dann insistierende Posaunenrufe. Im Kontext der vom Werktitel beschworenen Engel sowie des Orts der Uraufführung, dem Kunstmuseum des Erzbistums Köln, erscheint die Posaune als das biblische Instrument der göttlichen Sendboten beziehungsweise der Apokalypse: erst fern, dann laut und nah, wie die siebte Posaune am Tag des Jüngsten Gerichts.

Das Museum ist über den Ruinen einer Kirche gebaut und enthält alle diese Ikonen. Das ist sehr stark und war wichtig für mich. Obwohl ich Atheist bin, finde ich den künstlerischen Aspekt von Religion und Ritus sehr interessant. Entscheidend ist auch, dass der Raum unsere Erfahrung transformiert, Glas, Licht, Hall, Klang, Stimme. Die Posaune ist da­rin natürlich ein Ruf. Aber mit dem Posaunisten geht es uns auch wie im Orgelkonzert in einer Kirche. Auch da sitzt man und sieht nicht den Musiker auf der Orgelbank, dessen Klänge ebenfalls von ferne kommen.

Improvisation und Vokalismen

Als Komponist, Gitarrist und Improvisator ist Vladimir Guicheff Bogacz Mitglied des spartenübergreifenden Künstlerkollektivs „Traspuesto de un Estudio para un Retrato Común“ in Montevideo. Im Kölner Trio „drei-drei-drei“ spielt er mit dem Komponisten-Oboisten Maxim Kolomiiets und dem Komponisten-Kontrabassisten Corné Roos zusammen. Auch im 2006 in Montevideo gegründeten Instrumental- und Vokaltrio „Pechitos Ecuestres“ tritt er mit zwei weiteren Komponisten-Interpreten auf: dem zweiten Gitarristen Juan Martín López und dem Vokalperformer Marcelo Rilla Sánchez. Die für südamerikanische Folklore typische Besetzung vertauscht dieses Trio gerne auch mit Vokalstimmen, Horn, Trompete, Bandoneon, Akkordeon und verschiedenen Flöten. Die akustische Physis der Instrumente, Stimmen und deren Klänge versuchen die drei Musiker „wie eine Religion“ zu nehmen, indem sie aus bestimmten akus­tischen Phänomenen – etwa Schwebungen zwischen eng benachbarten Tonhöhen – einen regelrechten Ritus machen. Da sich die Musiker gut kennen und wissen, was der jeweils andere kann und bevorzugt, haben sie für jede ihrer möglichen Besetzungen eine eigene Tradition ausgebildet, innerhalb der sie aufeinander reagieren. Gerne verwendet das Trio auch vorsprachliche Lautäußerungen, Wimmern, Brüllen, Jaulen, Hecheln. Die ungewöhnlichen, teils animalischen Stimmaktionen, an denen sich auch Guicheff beteiligt, verkörpern eine vorzivilisatorische Kreatürlichkeit und Archaik. Manche Aufführungen erwecken den Eindruck, es handle sich um imaginäre Kulte oder verschwörerische Orgien eines geheimen Ordens.

Ich wäre traurig, wenn ich nie einen Kompositionsauftrag bekäme, aber ich würde auch traurig sein, wenn ich so viele Aufträge hätte, dass ich gar nicht mehr zum Spielen käme. Ich möchte beruflich gerne alles machen, und bis jetzt mache ich es auch. Manchmal habe ich einen Auftrag, spiele Tango in einer Kneipe, und ich improvisiere. Natürlich kriegt man nicht so viel Geld damit, aber lieber so! Ausschließlich zu komponieren, fände ich ein bisschen langweilig, weil es eine sehr einsame Arbeit ist, und das mag ich nicht so, ich bin sehr sozial. Viele Free-lanced-Komponisten sind ein bisschen wie Sklaven, denn sie werden nicht gut bezahlt. In Uruguay kann man seinen Lebensunterhalt als Komponist nicht verdienen. Deswegen gibt es – wie bei einer Art Darwinismus – nur solche Komponisten, die das wirklich aus Leidenschaft machen.

Bezeichnenderweise hat Vladimir Guicheff nichts mehr für Gitarre komponiert, seit er im Trio „drei-drei-drei“ spielt. Umgekehrt jedoch finden Elemente seines Improvisierens durchaus Eingang in seine Kompositionen, beispielsweise stimmliche Aktionen. In „bulle apenas“ für Ensemble (2015) artikulieren die Bläser zu bestimmten Griffen gleichzeitig stimmlos Konsonanten in ihre Instrumente: „S“ und „Sch“, „H“ wie in „hier“ oder „hoch“, sowie „R“ wie in „rot“. Ähnlich „redende“ Klänge und konsonantische Geräusche erzeugen vier Schlagzeuger, die Triangeln, Zimbeln und Gongs mit unterschiedlichen Schlägeln, Kontrabassbögen, Resonatoren und Aktionsweisen bespielen (Reiben, Kratzen, Streichen, Wischen, Schlagen).

Fleisch und Knochen: „estudio anatómico“

Dieselben phonetischen Aktionen verlangt „estudio anatómico“ (2013) für Pikkoloflöte, Bassklarinette, Trompete, Posaune, Schlagzeug, Harfe, Violine und Violoncello. Der Titel des Oktetts bezieht sich auf Leonardo da Vincis posthum veröffentlichten „Trattato della Pittura“. In vier Zitaten, die Guicheff der Partitur voranstellte, empfiehlt Leonardo jungen Malern das Studium von Perspektive, Schattenwurf, Anatomie des menschlichen Körpers und Liebe zu den Dingen. Zu Beginn zischen die Bläser paarweise „S“ und „Sch“ in ihre Instrumente, und zwar mit wechselnder Vokalfärbung, zwischen zwei Griffen pendelnd sowie von Mal zu Mal in anderer Reihenfolge und Rhythmisierung. Kombiniert werden die pneumatischen Schattenklänge mit unregelmäßig zuckenden Schlagfolgen auf Xylophon, Wood- und Tempelblocks, als handle es sich – den Werktitel beim Wort genommen – um Knochengeklapper.

Ich habe Momente der Musik nicht nur als ein Körper gedacht, sondern so, wie man durch Anatomie einen Körper versteht, also nicht als Einheit, sondern in seine Bestandteile zerlegt. Am Anfang des Stücks gibt es zum Beispiel – das ist eine paradoxe Vertauschung – den Hauch von rauschenden Klängen in regelmäßigem rhythmischen Puls, und es gibt die Knochen im Xylophon, deren Struktur sehr unregelmäßig ist.

An die Stelle der klappernden Schlaginstrumente treten später pfeifend hohe Streicher-Flageoletts, die wie die Blasgeräusche ebenfalls kaum reale Tonhöhen erkennen lassen. Schließlich hört man im Hintergrund tickende Ton­wechsel der Harfe und eigenartig amorphes Krabbeln, Schleifen, Knarren. Darüber schieben sich lautstark anschwellende und leicht abwärts glissandierende Liegetöne der Bläser. Guicheff Bogacz dachte dabei an die über Atem, Gerippe und Nervenbahnen sich spannenden Muskeln. Zugleich erinnern die anschwellenden Glissandi an den Dopplereffekt, als fahre hupend ein Schnellzug vorüber. So entsteht hier eine nachgerade filmreife Western-Szene, mit flirrender, gespannter Atmosphäre wie beim Warten auf einem leeren Bahnsteig inmitten der Prärie, etwa zu Anfang von „Once Upon a Time in the West“.

1Der erste wurde mit Jan Esra Kuhl in MusikTexte 155 vor­gestellt.

2Die Zitate stammen aus einem Gespräch, das der Autor mit dem Komponisten im Januar 2017 in Köln geführt hat.