MusikTexte 161 – Mai 2019, 18–22

Zwischen Ratio und Emotion

Doppelbegabungen im arbeitsteiligen Musikleben: Maxim Kolomiiets

von Rainer Nonnenmann

Der Komponist und Oboist Maxim Kolomiiets1981 in Kiew geboren – versuchte bereits im Kindesalter, Musik aufzuschreiben. An der Nationalen Musikakademie der Ukraine absolvierte er 2005 zunächst jedoch ein Studium der Oboe, auch wegen der Perspektive auf ein etwas gesicherteres Einkommen. Erst anschließend studierte er in Kiew Komposition bis zum Examen 2009. Er sieht sich mehr als Komponist, spielt aber weiterhin professionell Oboe und möchte die praktische Musikausübung nicht missen. Die Oboe trat für ihn auch deswegen in den Hintergrund, weil er die Ausbildung in Kiew als unzulänglich empfand und er erst im Alter von dreißig Jahren ein professionellen Ansprüchen genügendes Instrument erhielt. Zentral für Kolomiiets’ Entwicklung als Oboist wurde seine Teilnahme an der Ensembleakademie des ensemble recherche in Freiburg 2006, wo er durch den Oboisten Jaime González erweiterte Spieltechniken des Instruments kennenlernte. Später vertiefte er diese Erfahrungen bei der Internationalen Ensemble- und Komponisten­akademie Impuls in Graz.

Die Horizonterweiterungen auf der Oboe gaben Kolomiiets den Anstoß zur Gründung des Kiewer Ensembles „Nostri Temporis“ für zeitgenössische Musik, das er 2007 zusammen mit dem Komponisten und Pianisten Alexey Shmurak ins Leben rief. Ferner gründete Kolomiiets das „Luna Ensemble“ für Barockmusik, in dem er als Oboist spielt und das er als Manager betreut. Außerdem ist er Solo-Oboist des Ensembles für zeitgenössische Musik „Ukho“ in Kiew und der „Russischen Kammerphilhar­monie St. Petersburg“, die 1990 von Absolventen des dortigen Rimski-Korsakow-Staatskonservatoriums gegrün­det wurde. Das Kammerorchester unternimmt Konzertreisen durch Europa und verlegte im Jahr 2000 seinen Sitz nach Frankfurt am Main. Über CDs hatte Maxim Kolomiiets bereits früh Musik von Johannes Schöllhorn kennengelernt, bei dem er von 2014 bis 2016 in Köln erneut Komposition studierte. Seitdem lebt Kolomiiets wieder in Kiew: Dort ist er Oboist im Kyiv State Orchestra und vollendete eine Oper mit dem Arbeitstitel „Die Wege der Abgestoßenen“ auf Texte verschiedener Dichter.

Varianzen: „Re-Puls“

In den gut vierzig Stücken, die Kolomiiets’ Werkverzeichnis1 bisher umfasst, findet sich die Oboe dreizehn Mal besetzt. Sie ist damit gut vertreten, doch nicht auffallend prominent. Zwei Solostücke für Oboe hält der Komponist zurück, da er nicht mehr zu ihnen steht. Dass er jedoch ein ausgezeichneter Oboist ist, zeigt „Re-Pulse“ (2012) für Oboe und Akkordeon, dessen Oboenpart er – wie bei anderen Werken – selbst übernahm. Die Partie ist geprägt von hochdifferenzierten und schnell wechselnden Spieltechniken: Slaps, Glissandi, Doppelzungenspiel, große Sprünge, schnelle Läufe, verschiedene Griffkombinationen, Vierteltöne und Mehrklänge. Das permanent variierte Geschehen verfängt sich zuweilen in starren Repetitionen, langen Trillern oder charakteristischen Klangmustern, die mehrfach wiederholt werden, als bliebe eine Schallplatte hängen.

Als ich „Re-Pulse“ schrieb, habe ich überhaupt nicht daran gedacht, das Stück selbst auf der Oboe zu spielen. Erst als es fertig war, habe ich versucht, es zu spielen, und dabei festgestellt, dass es unglaublich schwer und sehr unbequem ist. Trotzdem möchte ich das, was ich gerade schreibe, nicht selbst ausprobieren, weil man dann versucht, Sachen für sich bequemer zu machen. Das stört die Musik, denn die muss fließen, abgesehen davon, ob dir etwas bequem ist oder für dich als Oboist schön klingt. Es gibt die Gefahr, für uns als Interpreten bequeme und sehr schön klingende Sachen zu komponieren. Das ist nicht gut, weil Komponieren für mich – und ich glaube, auch für alle anderen Komponisten – mit einer gewissen Armut beginnt. Komponieren ist auch immer ein Experiment, ein Schaffen von etwas Neuem, das vielleicht nicht für die Leute neu ist, es aber zumindest für einen selber sein sollte.2

In „Re-Pulse“ führt Kolomiiets Oboe und Akkordeon stellenweise so eng zusammen, dass die Partien verschmelzen. Dann wieder stellt er das Blasinstrument als solistische Stimme heraus, zumal in kadenzartigen Soli. Das Tempo wechselt häufig zwischen Viertel = 120 und 50 oder gar 40. Als eigener Formteil folgt ab Takt 84 ein ausgedehntes „Adagio molto“ Viertel = 60. Diesen Abschnitt bestimmt zunächst das Akkordeon, dann aber wieder die Oboe mit Mehrklängen, Trillern, Clustern und Repetitionen wie im ersten Formteil, nur in Tempo und Dynamik zurückgenommen. Ähnliche Pulsationen finden sich auch im Ensemblewerk „Supremus“ für elf Performer (2015). Sie stehen – so Kolomiiets’ Vorwort zum Duo „Re-Pulse“ – metaphorisch für verschiedene Perioden, vom ruhigen Herzschlag (Viertel = 60) über den zyklischen Wechsel von Tag und Nacht bis zu mehrjährigen Planeten-Umlaufbahnen: „Pulse is the possible metaphorical entrance into the existence and filling the space with itself. The heartbeat, day and night and the trajectories of planets are the different forms of emptiness. The emptiness slowly fills in the space and transforms into the familiar shapes of color, desire, fading glance.“

In „Re-Pulse“ erscheint das mehrfach wiederkehrende Klangmaterial letztmalig ab Takt 100 in einem kurzen Schlussteil, nun jedoch „Prestissimo, feroce“ im fünffachen Forte, gehetzt und schreiend. Die Ausgestaltung im Detail ist den Instrumentalisten überlassen: „improvvisazione ad libitum“. Im Akkordeon sind wild fauchende Cluster und Glissandi nur als graphische Gesten notiert.

Explosives Spiel: „Rejection“

Große Dichte, Agilität, Haptik und Virtuosität zeigt auch Kolomiiets frühes „Rejection“ für Klavier (2003). Die Partitur ist ohne metrische Fixierung auf bis zu vier Systemen notiert und erinnert an den Komplexismus eines Brian Ferneyhough. Dessen Musik kannte Kolomiiets zum Zeitpunkt der Komposition jedoch noch nicht:

Als ich dieses Stück geschrieben habe, wusste ich von Ferney­hough nur vom Hörensagen, dass er sehr kompliziert schreibt, aber ich hatte keine Partituren gesehen. „Rejection“ war ein Experiment für mich selbst, sehr stark strukturiert, vor allem was die Tonhöhen und die Reihenfolge der Ziffern eines bestimmten Datums betrifft. Diese Mischung aus starken Strukturen und großer Intuition war für mich eine wichtige Erfahrung. Denn es geht beim Spiel dieser Partitur nicht um Präzision, sondern darum, dass man die Musik als etwas Lebendiges und Intuitives wahrnimmt. Mich interessiert nicht so sehr die Struktur, sondern die Explosion und die Buntheit von verschiedenen Harmonien, Intonationen und Spielarten.

Das „utopische“ Klavierstück – wie Maxim Kolomiiets es nennt – besteht aus polyrhythmisch überlagerten Läufen, Intervall- und Akkordketten, die auf eine akute Überforderung des Pianisten zielen. Auf Seite 4 finden sich simultane Schichtungen von Zweiunddreißigstel- und Hundertachtundzwanzigstel-Quintolen in rhythmischen Verhältnissen von 6 : 4, 5 : 3, 13 : 8, 8 : 6 und 10 : 7. Strenggenommen hat der Pianist also gleichzeitig sieben eigenständige Zeitebenen zu gestalten – ein Ding der Unmöglichkeit. Zugleich wirft die Bedeutung des englischen ­Titels „Ablehnung“ ein kritisches Licht auf diese geradezu parodistisch übersteigerte Kompliziertheit und virtuose Hyperaktivität, deren klingendes Resultat letztlich einem immer wieder neu ansetzenden Arpeggio gleicht. Nur an wenigen Stellen weicht die ex­treme Dichte sanft schwebenden Einzeltönen und Akkorden, die im Tempo Viertel = 42 ausreichend Zeit zu individuellem Verklingen erhalten.

Licht, Echo, Präparation

In „Light Figures“ für Oboe, Violine, Viola und Klavier (2009) haben die Instrumentalisten bei dem ruhigen Grundtempo Adagissimo all ihr Können in eine möglichst differenzierte Gestaltung zarter Klänge in meist hohem Register zu legen. Es entsteht eine traumhaft schwebende Atmosphäre, als sehe man helle Lichtgestalten in sanftem Windhauch und Sonnenlicht über leichte Gazevorhänge tanzen. Tatsächlich erinnert sich Kolomiiets, als Kind in der elterlichen Wohnung in Kiew stundenlang von der Sonne geworfene Schatten von Pappelblättern beobachtet zu haben.3 Im Vorwort der Partitur charakterisierte er sein Stück als: „Singing light, supple and soft like a limp dough, sticks to the fingers, easily finds the intricate forms. Flattened, bulky, oblong and rectified – the sleeping shapes piled and forgotten by all.“ Der Fokus liegt nicht auf verschiedenen Tonhöhen, sondern auf möglichst großer Varianz nuancierter Klangfarben. Ähnlich den Einton-Musiken von Giacinto Scelsi zieht Kolomiiets nur den Ton h als Faden durch die Instrumente und Oktavlagen. Für dessen Umfärbungen sorgen in den Streichern Tremoli, Triller, Flageoletts, Achteltöne und Verlagerungen zum und auf den Steg; in der Oboe sind es Bisbigliando, Überblasungen, Register- und Dynamikwechsel; im Klavier schließlich Oktav-Arpeggien durch verschiedene Register sowie chromatische Nebentöne. Im weiteren Verlauf des sieben Minuten dauernden Klaviertrios mit Oboe folgt jede Stimme einer eigenen Reihenkonstruktion, durch welche Tonhöhen, Metren und Spieltechniken organisiert werden. Da diese vier Reihen unterschiedlich lang sind, verschieben sie sich gegeneinander, so dass stets neue Gesamtkonstellationen entstehen. Vor allem die Oboe kommt – als Folge ihrer Reihe – immer wieder auf den Initialton h2 zurück, mit dem das Stück auch endet. Auffallend am Part der Oboe sind ferner notierte Hinweise auf Zähleinheiten, die dem Oboisten erlauben, das Kammerensemble notfalls auch zu dirigieren.

Auch in „Echoes of Drowning Reflections“ für fünf In­strumente (2013) verlegt Kolomiiets alle Raffinesse auf hoch differenzierte Einzelereignisse, die teils überlappend, teils durch kurze Pausen abgesetzt erfolgen. Zunächst lässt das Stück keine übergeordnete Entwicklung oder Dramaturgie erkennen. Doch nach und nach nimmt das Tempo ab und sinken die Tonhöhen tiefer. Entsprechend dem Werktitel „Echos ertrinkender Reflexionen“ beziehen sich der erste und dritte Abschnitt wie eine unkorrekte Punktspiegelung aufeinander. Metrum, Tempo, Einsatzzeitpunkt, Farbe und Register der Klänge erscheinen jeweils ins Gegenteil verkehrt. Den hohen Klängen von Abschnitt I korrespondieren in Abschnitt III folglich überwiegend tiefe Klänge. Zugleich „ertrinkt“ diese Sym­me­trie im Detailreichtum des ansonsten konstant wirkenden Geschehens. Kontraste bilden zu Beginn lediglich kurze „furioso“-Passagen, die unvermutet losbrechen und nach wenigen Takten ebenso schlagartig aussetzen, um den feinen Klanggespinsten wieder Platz zu machen. In Abschnitt III erscheinen diese impulsiven Ausbrüche dann im Gegenteil als ruhige Einschübe.

Eine überraschende Wendung nimmt „Echoes of Drown­ing Reflections“ am Schluss. An die Stelle der sonst ständig veränderten Klangereignisse treten in den letzten vier Takten synchrone Mehrklänge in tiefer Lage, die in abnehmender Folge viermal, dreimal und zweimal gespielt werden, bis der letzte Takt mit einem einzigen Akkord schließt. In der Partitur charakterisierte Kolo­miiets diese Akkordfolge als „Deep submergence into the precipice of the horizon“. Das Quintett sprengt hier plötzlich seinen bisherigen Radius zugunsten eines „tiefen Eintauchens in den Abgrund des Horizonts“. Nach der bisherigen Vielgestaltigkeit und Komplexität bewirken die minimal abgewandelten Akkorde einen Kategorienwechsel. Die Musik geht über sich hinaus in eine andere Dimen­sion. Und dieses Moment von Transzendenz berührt ein grundsätzliches Anliegen von Kolomiiets:

Ich glaube, es ist die Aufgabe der Musik, auch etwas Spirituelles ins Leben zu rufen, was nicht unbedingt aus der Wissenschaft oder dem Alltag kommt. Irgendwo ganz tief in uns existiert ein Feuer, was uns zwischen Ratio und Emotion zu Menschen macht. Ich bin nicht besonders gläubig, aber ich bin auch gar nicht atheistisch. Gefühl und Denken gehören im Leben wie in der Musik zusammen.

In Stücken wie „Pavane“ (2011) für Violoncello, Kontrabass und Schlagzeug vertraut Kolomiiets das Resultat weit­gehend den Interpreten an. Die Partitur besteht überwiegend aus graphischen Zeichen, zu denen die Musiker ihre Klänge in möglichst maximale Übereinstimmung bringen sollen. Vorgeschrieben sind Skordaturen bis zu mehr als einer Oktave sowie erweiterte Spieltechniken und Präparationen mittels Holzhammer, Bambusstock, Werkzeugen, Wäscheklammern, Gummistücken und Fingerhut. Im Schlagzeug sind auf den Fellinstrumenten stellenweise Metallfedern, Plastikstäbe, Metall- oder Glaskugeln aufzulegen. Da sich diese Zugriffe auf die Instrumente möglicherweise fatal auswirken könnten, emp­fiehlt Kolomiiets, keine guten, sondern allenfalls mittelmäßige Instrumente zu verwenden. Ab Minute 4 : 10 ist der Kontrabass mittels Schraubenschlüssel umzustimmen, und ein zusätzlicher Assistent soll auf der dritten Basssaite mehrere Holzwäscheklammern anbringen, außerdem auf der vierten Saite hinter dem Steg einen Metalldämpfer fixieren und diese Saite mit einem Sechskantschlüssel bearbeiten. In der Partitur entspricht die Dicke des Schriftbilds der Dynamik. Die zumeist gleitenden und bei stacheliger Graphik perforierten Aktionen der Streicher beantwortet der Schlagzeuger mit reibendem Superball-Schlägel und perkussiven Fingeraktionen auf Tomtom oder Trommel.

Musik mit Beethoven: „Ende“

Eine eklektizistische Kreuzung aus Beethovens Kammermusik mit Strawinskys Montagetechnik und Kagels in­strumentalem Theater ist Kolomiiets’ „Ende – Neun Variationen über den Schluss von Klaviertrio # VII op. 97 von L. van Beethoven“ (2015) für Violine, Violoncello und Klavier. Das Stück entstand für das Lions Gate Trio um die Pianistin Florence Millet. Im Konzert der Uraufführung spielte das Trio ansonsten klassisches Repertoire, darunter Beethovens siebtes Klaviertrio in B-Dur. Wie Kolomiiets in seinem Stücktitel signalisiert, unterzieht er das Ende von Beethovens sogenanntem „Erzherzog-Trio“ neun Variationen. Idealerweise beginnt „Ende“ direkt attacca im Anschluss an eine vorherige Aufführung von Beethovens Trio mit demselben B-Dur-Schlussakkord. Die Interpreten quittieren dies zunächst skeptisch mit den Worten „Sollen wir wirklich fortsetzen?“, um den Akkord dann rhythmisch-metrisch abzuwandeln und in unregelmäßiger Folge mit der Dominante F7 abzuwechseln. Das Pianissimo in Takt 18 kommentieren die Musiker mit „vorsichtig“, das Fortissimo in Takt 19 dagegen mit „mutig!“. Weitere Einwürfe, die an Kagels instrumentales Theater er­innern, lauten „na endlich!“, „bingo!!“, „uufff“, „Schluss!“, „oh doch“. Die zahllosen Akkordwieder­holungen führen über sukzessives Accelerando schließlich in Takt 70 zu regelmäßigen Achtel-Viertel-Terzenketten im Originaltempo „Più Presto“ von Beethovens Finalsatz, was die Musiker glücklich mit „Ah, Musik“ begrüßen.

Variation II beginnt in Takt 88 mit den Worten „die Kunst ist ewig“. Und in der Tat „ewig“ wirken dann die Wiederholungsschleifen eines Sechsachtel-Gestus, der sechsmal hintereinander „jedes Mal böser“ gespielt werden soll. Nach einer Generalpause heißt es dann parallel zur Dominante F7: „Aber das Leben ist kurz“. Anschließend wird der schwungvolle Sechsachtel-Schluss von Beethovens Finalsatz abermals viermal hintereinander wiederholt. Die Musiker kommentieren dies am Ende eines Durchgangs jeweils mit „und wie spät ist es?“ / „das kann noch ewig dauern!“ / „ist es schon das dritte oder vierte Mal?“ / „na los!“. Die letzte Wiederholung mündet endlich in Beethovens Schlusskadenz, nach der sich die Musiker erheben, als sei das Stück zu Ende. Doch mit beginnendem Applaus setzten sie sich wieder und fahren mit Variation III fort.

Die Idee war, dem riesigen Schluss bei Beethoven attacca noch einen Schluss folgen zu lassen, der nie endet. Das Stück endet, endet, endet, und endet dabei eben gerade nicht, weil immer noch ein weiterer Schluss folgt. Ich fand das lustig und wollte auch mit der Reaktion der Zuhörer spielen. Nach ein paar Minuten haben wir ja plötzlich das echte Ende wie bei Beethoven erreicht. Die Musiker stehen auf, alle klatschen, aber plötzlich setzen sie ihr Spiel fort. Es ist ja normal, dass am Ende alle klatschen, aber mich hat interessiert, ob man diese Reaktion zu einem Teil des Stücks machen kann.

Während der anschließenden 271 Takte spielen die Instrumentalisten die restlichen sieben Variationen ohne weitere verbale Kommentare. Auch hier verarbeiten sie bestimmte Abschnitte oder ausgewählte Takte aus dem Finalsatz von Beethovens Klaviertrio opus 97. Die entlehnten Phrasen unterzieht Kolomiiets rhythmisch-me­trischen Versetzungen und unterschiedlich langen und häufigen Wiederholungen. Passagenweise schafft er dadurch eine flirrende und rhythmisch fluktuierende repetitive Minimal Musik.

Multifunktionalität

Das Schaffen von drei jungen Komponisten-Interpreten, wie es in MusikTexte 155, 160 und hier porträtiert wurde, gibt dem Phänomen der zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung im Musikbetrieb noch eine andere Wendung. Statt nur eine Ursache für Verengung zu sein, vermag die perfekte Beherrschung eines Metiers im Gegenteil auch eine Voraussetzung dafür zu bilden, sich auf der Grundlage der vollständigen Durchdringung eines Tätigkeitsbereichs dann auch einem anderen mit derselben Neugierde und Ernsthaftigkeit zu nähern. Vielleicht erlaubt gerade die Fundierung in einem bestimmten Metier auch substantielle Überschneidungen oder Querverbindungen mit anderen. Denn einer voll ausgeprägten Profession verdanken sich gefestigte Maßstäbe und ausgebildete Fähigkeit zur Selbstkritik. Und diese sind unerlässlich, damit Erkundungen auf fachfremdem Terrain bei notwendigerweise unzureichender Kenntnis und Beherrschung nicht in Dilettantismus münden, wie es bei immer mehr interdisziplinären, transkulturellen, multimedialen und spartenübergreifenden Arbeiten aus der Hand eines einzigen Künstlers leicht geschieht. Dem anfangs diagnostizierten Trend zu stärkerer Separierung der verschiedenen Arbeitsbereiche des Musiklebens korrespondiert daher auch ein Trend zu Multitasking, Pluralisierung und Multifunktionalität, der sich konträr zu aller Spezialisierung des Arbeitslebens ebenso findet. So wie immer mehr Unternehmen verschiedene Aufgaben- und Dienstleistungsbereiche in die Home Offices ihrer Mitarbeiter auslagern, sind auch immer mehr Komponisten in eigener Sache vieles zugleich: Verleger, Graphiker, Notensetzer, Sekretäre, Elektroniker, Agenten, Manager, PR-Abteilungen – und selbstverständlich auch Interpreten.

1Abgedruckt in: MusikTexte 148, Köln, Februar 2016, 60.

2Die Zitate stammen aus einem Gespräch, das der Autor im Januar 2017 mit dem Komponisten in Köln geführt hat.

3Maxim Kolomiiets zitiert nach Olesya Naydiuk, „Musik aus der Asche: Porträt des Komponisten Maxim Kolomiiets“, in: MusikTexte 148, Köln, Februar 2016, 55.