MusikTexte 161 – Mai 2019, 83–84

Ich war da.

Gemeinschaft und Teilhabe am Festivalfreitag bei Eclat in Stuttgart

von Leonie Reineke

Na gut. Versuche ich mich mal in einem persönlichen Erlebnisbericht. Eine gar nicht abwegige Aufgabe im Zusammenhang mit dem Eclat-Festival 2019. Denn in diesem Jahr schien das subjektive Erleben und Empfinden ohnehin im Zen­trum zu stehen. Mehr noch: Einige Projekte schrien förmlich danach, aus einer hyperprivaten Perspektive geschildert zu werden. Ich gehe also Schritt für Schritt meine Erinnerungen durch (mit der Betonung auf meine ).

Mein erster Festivaltag ist für viele der zweite: Am Freitag, dem 8. Februar, betrete ich nachmittags das Stuttgarter Thea­terhaus. Hier geht gleich das Projekt „Circles“ in seine zweite Runde – eine Zusammenstellung von sieben Arbeiten verschiedener Urheber, die mit „Gemeinschaft zwischen Spiel und existenzieller Erfahrung“ untertitelt ist. Von Freunden und Kollegen, die das Hundertsiebzig-Minuten-Programm schon am Vortag erlebt haben, bekomme ich im Foyer noch vereinzelte Infos (beziehungsweise Warnungen) zugeraunt, wie etwa „… du musst mitmachen … musst dein Gegenüber anfassen … wird lustig … peinlich … komisch“ et cetera. Das alles klingt für mich erstmal nicht abschreckend, sondern relativ unterhaltsam. Ich zwänge mich also – so unvoreingenommen wie möglich – in die engen Sitzreihen des kleinen Saals T3. Schon vor Beginn werden wir (das Publikum) über bevorstehende Ortswechsel im Laufe der Veranstaltung informiert. Ich spüre Erleichterung, denn ein Knapp-drei-Stunden-Programm in diesem leicht klaustrophobischen Setting hätte anstrengend werden können.

Los geht es vergleichsweise konventionell, oder besser gesagt: musikzentriert. In Ricardo Eiziriks Komposition „in steps“ geben fünf Mitglieder der Neuen Vocalsolisten Stuttgart Töne, Laute, Rauschklänge und Worte von sich, jeder von ihnen ein Mikrophon vor der Nase. Ein sechstes Ensemblemitglied schaltet die Mikrophone der Reihe nach schnell ein und aus, so dass lang gehaltene Töne in kurze Einzelimpulse aufgespalten werden. Aus den Lautsprechern höre ich Impulsketten und rhythmisch wiederkehrende Stille, getrennt durch harte Schnitte. Ein typischer Ex-negativo-Ansatz also, bei dem die Stimmen ihre „menschliche“ Klangcharakteristik verlieren – immer dann, wenn Ein- und Ausschwingvorgang der Töne abgeschnitten werden. So klingt „in steps“ streckenweise fast nach Synthesizermusik. Und auch, wenn das Stück mit performativen Anteilen arbeitet, steht klar ein musikalisch-kompositorischer Ge­­dan­ke im Zentrum. Von „mitmachen“, „an­fassen“ und „peinlich“ also (noch) keine Spur.

Das ändert sich schlagartig mit Huihui Chengs „Your Turn“ am Ende des ersten Konzertblocks: In dieser Kartenspiel-Performance nach dem Prinzip „Ich packe meinen Koffer“ müssen sich die Neuen Vocalsolisten kurze Laut-, Sprach- und Musikfragmente einprägen, um beim anschließenden Wiederholen in clownesker Überzeichnung zu scheitern. Die Klangfragmente beschränken sich übrigens neben Zitaten aus berühmten Opernarien auf bizarre Laute wie „oh!, puchi!, po!, kata!, bom!, kete!, ha!“ et cetera – wenn da nicht der Nonsens-Faktor von vornherein garantiert ist.

Wir, das Publikum, dürfen uns als Korrektiv beteiligen, etwa wenn der Ablauf aus dem Ruder zu geraten droht. Binnen kürzester Zeit artet das Ganze in eine hemmungslos alberne Slapstick-Show aus, die allerdings von allen Beteiligten mit derart eiserner Konsequenz durchgezogen wird, dass ich nicht umhin komme, merkwürdig beeindruckt zu sein. Und das, obwohl ich kalkulierten Humor in neuer Musik im Regelfall nur schwer aushalte, oder eher noch: für hochgradig publikumsverachtend halte.

Tapetenwechsel: Im Publikumskollektiv begeben wir uns in einen größeren Saal, in dem gleich Martin Schüttlers und Mara Genschels „Workshop der Liebe“ beginnt. Das Szenario geht hier klar in Richtung Mitmach-Performance: Wir werden angehalten, Platz zu nehmen, auf Hockern in einem Stuhlkreis. Die Neuen Vocalsolisten positionieren sich vereinzelt dazwischen. Aufgabe ist es, seinen rechten Sitznachbarn respektvoll und wohlwollend zu beschreiben. Eine typische Warm-up-Übung aus dem Theatermetier. Macht Spaß, keine Frage. Aber für so etwas einen Kompositionsauftrag? Na gut, warten wir es erstmal ab.

Was in den nächsten etwa dreißig Minuten passiert, ist faszinierend: Die (teilweise schüchternen, trotzdem bemerkenswert phantasievollen) Beschreibungen der Teilnehmer beginnen mit starkem Bezug auf optische Merkmale, wie etwa: „… trägt einen Pullover, der mich spontan an Eierschachteln erinnert“. Nach und nach werden die Schilderungen dann immer persönlicher, privater. Irgendwann verwandeln sie sich in Ich-Botschaften, wie: „Neben mir sitzt jemand, der mir sehr viel bedeutet“, oder „Ich traue mich kaum, meine Nachbarin so genau zu mustern“. Und tatsächlich wandelt sich auch langsam die Atmosphäre im Raum: von einer anfänglich eher gefühlsneutralen Passivität hin zu einem Zustand des spürbar aktiven Wohlwollens und der kollektiv liebevollen Aufmerksamkeit für alle noch so unterschiedlichen Personen im Raum. Während des gesamten Prozederes singen die Vocalsolisten immer wieder leise chorische Vokalisen, (die ich allerdings ob meiner leichten Nervosität, gleich auch etwas über meinen Sitznachbarn sagen zu müssen, recht schnell ausblende und höchstens noch als Stimmungsuntermalung wahrnehme).

Die soziale Dynamik, die sich in Schüttlers und Genschels „Workshop der Liebe“ entfaltet, ist zweifellos von einer gewissen Magie. Trotzdem frage ich mich, was einen Komponisten und eine Lyrikerin wohl ausgerechnet zu einer gruppenpädagogischen Maßnahme dieser Art veranlasst hat.

Bevor ich über die Frage weiter nachdenken kann, werden wir schon in den nächsten Raum geführt, wo das letzte der sieben „Circles“-Projekte auf uns wartet. Rätselhafte rote und blaue Karten bekommen wir vorab in die Hand gedrückt. Danach entscheidet sich, welche „Rolle“ wir im nächsten Stück einnehmen. Denn in Alexander Schuberts „A Perfect Circle“ werden wir in Gruppen eingeteilt: in diejenigen, die ihre eigene Realität sehen, und diejenigen, die die Realität einer anderen Person sehen. Ich gehöre zu denjenigen, die ihre eigene Realität sehen. Und zwar durch eine Virtual-Reality-Brille, die ich nach einiger Anstrengung auf meinem Kopf fixiert habe. Mir gegenüber auf einer Sportmatte sitzt (wie bei allen anderen auch) ein Partner. Es ist ein Kollege, mit dem ich mich glück­licherweise vorher noch schnell absprechen konnte. Wäre es jemand mir Unbekanntes (oder Unangenehmes) gewesen, hätte ich möglicherweise schlechte Karten gehabt, denn jetzt kommt der Teil mit dem angekündigten „Anfassen“.

Als eine „therapeutische Gruppensitzung, die sich mit Selbstwahrnehmung und Körpererinnerungen beschäftigt“ bezeichnet Alexander Schubert sein Stück „A Perfect Circle“. Und in der Tat trifft die Beschreibung auf mein Erlebnis zu: Von einer tiefen Lautsprecher-Stimme mit dezentem Gruselfaktor bekommen wir Instruktionen auf vernuscheltem Englisch. Etwa, dass wir unsere Hände betrachten sollen, unser Gegenüber berühren, an der Schulter packen und schütteln sollen, und so weiter. Alles, was ich tue, sehe ich – von einer Kamera gefilmt – durch meine VR-Brille. Allerdings mehr schlecht als recht, denn bei dem schwachen Lichteinfall wird das Bild immer wieder unscharf oder so düster, dass praktisch nichts mehr zu erkennen ist. (Ob man hier zur Discounter-Ware auf dem VR-Brillen-Markt gegriffen hat?)

Irgendwann stelle ich fest, dass auch Musik zu hören ist; stimmungsuntermalende Begleitklänge nämlich, die aus einem Thriller-Videospiel stammen könnten. Leider kann ich mich darauf kaum konzentrieren, da ich die meiste Zeit damit beschäftigt bin, die In­struktionen richtig zu verstehen und zuzusehen, dass die schwere Brille samt Halterungsgeschirr mir nicht vom Kopf rutscht (oder mir den Kopf ausrenkt). Und obwohl mir mein Gegenüber vertraut ist, empfinde ich das Berühren auf Kommando als relativ unangenehm. Ich mache trotzdem alles mit, denn ich trage eine gewisse Verantwortung: In einem anderen Raum sitzt jemand in einer ähnlich beklemmenden Lage, nur dass diese Person alles sieht, was ich sehe. In dem Moment, in dem sie die Schulter ihres Gegenübers berührt, sieht sie – per Bildübertragung –, wie sich mein Arm ausstreckt und ich meinem Partner auf die Schulter tippe. Ich bin also gewissermaßen ihr virtueller Avatar. Und da ich selbstverständlich alles richtig machen möchte, damit das Spiel funktioniert, halte ich mich so gut es geht an die Vorgaben. Ins Erlebnis eintauchen? Klappt nicht wirklich, dafür ist alles zu hektisch und unbequem.

Am Ende des etwa zwanzigminütigen Spuks bin ich erleichtert. Erleichtert, wieder richtig sehen zu können, selbstbestimmt zu sein und vor allem: niemanden mehr auf Befehl anfassen zu müssen. Ein anderer Sitznachbar flüstert mir zu, er habe die Prozedur als „faschistisch“ empfunden. So weit würde ich mit meinem Urteil nicht gehen, frage mich aber, ob eine bessere Bildqualität der VR-Brillen wohl für eine mitreißendere immersive Erfahrung gereicht hätte. Was hätte der versierte Besucher einer Gaming-Messe zu diesem Projekt gesagt? Ich weiß es nicht.

Überhaupt war die diesjährige Eclat-Ausgabe erstaunlich digital: Nur kurz schaue ich zwischen den Konzerten auf mein Telefon und entdecke bei Facebook sofort drei neue Videos, in denen Festival­besucher oder -beteiligte über zeitgenössische Musik, Hashtags und Filterblasen ausgefragt werden. Ich habe Mühe, zum letzten Komponistengruppen-Foto oder Interview-Video von vor drei Stunden zu scrollen, so viel ist inzwischen dazugekommen. Der Veranstalter „Musik der Jahrhunderte“ hat sich also mit vollem Einsatz ins digitale Leben eingeklinkt. Kein Festivalbesucher scheint vor der Social-Media-Offensive sicher zu sein, jeder landet irgendwann (mit einem schlagfertigen oder auch unbeholfenen Statement) auf der Eclat-Timeline. Für alle Interessierten, die nicht beim Festival sein können, sicherlich ein unterhaltsames Nebenprogramm. Für alle Anwesenden dagegen eine gewöhnungsbedürftige Situation. Denn jeder Moment könnte von der Handykamera der Social-Media-Abgesandten eingefangen worden sein.

„Social“ ist auch das Stichwort für das nächste Konzert: Als „drei Stunden Glück“ kündigt das Klangforum Wien seinen Film-und-Musik-Abend „Happiness Machine“ an. Thematischer Kern ist das Konzept der „Gemeinwohl-Ökonomie“ von Christoph Felber – ein Wirtschaftsmodell, das nicht auf Profitmaximierung, sondern auf das Wohlergehen der Gemeinschaft und der Umwelt ausgerichtet ist. Von der EU empfohlen, soll das Modell dem sozialen Zusammenhalt und einer (menschen-)gerechteren Wirtschaftsordnung dienen, ob in landesweiten öffentlichen Strukturen oder einzelnen Institutionen. Auch das Klangforum Wien bekennt sich zu dem alternativen Unternehmensmodell. In seinem abendfüllenden Programm präsentiert das Ensemble mehrere von Live-Musik begleitete Animationsfilme, konzipiert von zehn Frauen-Duos, die sich aus je einer Komponistin und einer Filmemacherin zusammensetzten. Von Profitgier über Ausbeutung und Burnout-Syndrom bis hin zur Umweltzerstörung werden alle möglichen Themen abgehandelt – mal explizit, mal implizit.

Die Filme sind denkbar phantasie- und liebevoll gemacht. Zumindest, soweit ich das beurteilen kann, denn was momentan in der Animationsfilmszene als originell, zeitgemäß oder diskurswürdig gehandelt wird, weiß ich natürlich nicht. Die Musik allerdings steht wieder einmal an zweiter Stelle. Zu den Filmen verhält sie sich die meiste Zeit wie die Butterdose zur Butter: Sie ist notwendig, sie rahmt, stützt, aber auffällig oder erwähnenswert ist sie nicht unbedingt. Als stimmige, teils ergreifende Filmmusik funktionieren viele der Stücke wunderbar. Doch letztlich sorgt die Tatsache, dass bei einem so radikalen Schritt in Richtung Frauenförderung in einem Musikfestivalprogramm die Frauen doch nur Begleitmusik schreiben, für einen leicht bitteren Beigeschmack.

Am Ende des langen Tages frage ich mich, welche Stücke des heutigen Marathons eigentlich genuin musikalisch gedacht und komponiert waren. Ich komme auf etwa anderthalb. Das ist ebenso bemerkenswert wie erschreckend. Steckt die neue Musik möglicherweise in einer Selbstwert-Krise? Traut sie sich selbst – als abstrakte Kunstform ohne „plus“ – nichts mehr zu? Oder versucht sie vielmehr, die Chance zu nutzen, an anderes, an Konkreteres anzudocken; alte Dogmatismen loszuwerden und sich anderen Sparten und Ausdrucksformen zu öffnen? Ich bin mir nicht sicher, beobachte diese Entwicklung aber mit Interesse. Und muss feststellen, dass mich der Tag nicht gleichgültig zurückgelassen, sondern durchaus zum Nachdenken angeregt hat.

Ob man die beiden Drei-Stunden-Programme nun geliebt oder gehasst hat (oder irgendwas dazwischen): Es hat sich ganz klar etwas bewegt. In welche Richtung(en), wird sich zeigen – vermutlich in den kommenden Jahren. Fest steht jedenfalls: Das Eclat-Festival schafft es, Tendenzen und Entwicklungen voranzutreiben und zuzuspitzen, anstatt sie stagnieren oder versiegen zu lassen. Und mit dieser Bilanz sage ich mir: Es bleibt spannend und es lohnt sich, dabei zu sein.

Übrigens spricht mich später am Abend noch eine Frau an. Sie erzählt mir, sie habe meine Version der Virtual-Reality-Show durch die Brille erlebt. Gesehen? Nein, habe sie auch nicht viel. Aber meine Schuhe seien ihr aufgefallen. (Das muss der Augenblick gewesen sein, als ich kurz an mir heruntergeblickt habe.) Denn daran habe sie mich gerade erkannt.