MusikTexte 161 – Mai 2019, 88–89

Nukleus der Vielheitsgesellschaft

Das zwanzigste Forum neuer Musik im Deutschlandfunk Köln

von Rainer Nonnenmann

Keine Kultur ist pur, abgeschlossen, ein für alle Mal fixiert. Jede speist sich aus unterschiedlichen Einflüssen und Wandlungen. Was später als Wiener Klassik zum Inbegriff überzeitlich gültiger Kunst­musik vereinheitlicht, kanonisiert sowie nationalistisch vereinnahmt wurde, verdankt sich in Wirklichkeit einer Verschmelzung von Volks-, Hof- und Kirchen­musiktraditionen aus Italien, Frankreich, Böhmen, Wien, Mannheim, Berlin. Neben kriegs- und klimabedingten Völkerwanderungen gab es in Wissenschaft, Kunst und Musik immer schon fachlich motivierte Migration.

Seit dem dreizehnten Jahrhundert trafen sich die europäischen Gelehrten an Universitäten, und heute entfalten hochspezialisierte Forschungszentren wie das CERN, die Europäische Organisation für Kernforschung in Genf, weltweite Anziehungskraft. Wer als Komponist neueste Techniken, Gattungen und Stile kennenlernen wollte, musste im frühen siebzehnten Jahrhundert nach Venedig reisen, ab Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach Wien kommen, sich während der neunzehnhundertzwanziger Jahre in Paris oder Berlin aufhalten, während der Fünfziger in Köln sein, in den Achtzigern am Pariser Ircam, heute hier, morgen fort.

Der Begriff „postmigrantisch“ betont die Selbstverständlichkeit der Wanderung von Menschen, Sprachen, Ideen. Ähnlich der „Postmoderne“, welche die Moderne kritisierte, überwand und zugleich fortsetzte, benennt die Silbe „post“ vor „mig­ran­tisch“ die Zeit nach und während Wan­derbewegungen, die so umfassend, vielfältig und selbstverständlich geworden sind, dass es kaum mehr Gesellschaften gibt, die sich nicht aus Menschen unterschiedlicher Herkunft, Tradition, Religion zusammensetzen. Der Internationalismus von Wissenschaft, Kunst und Musik wirkte stets sowohl als utopischer Modellfall einer kosmopolitischen Weltgemeinschaft sowie als Sündenfall für identitäre Abwehrideologien.

Das Forum neuer Musik des Deutschlandfunk Köln stellte seine zwanzigste Ausgabe unter das Motto „Postmigrantische Visionen“. Die im Jahr 2000 von DLF-Redakteur Reinhard Oehlschlägel als Nachfolgefestival der NovAntiqua weitergeführte Veranstaltung wird seit 2002 von Frank Kämpfer geleitet und durch flankierende Vorträge und Diskussionsrunden zu aktuellen Themen und Zeitfragen erweitert. Bevorzugt präsentiert werden Komponistinnen sowie junge Musikschaffende aus Ostdeutschland, Osteuropa und anderen Teilen der Welt, namentlich aus Asien, Latein- und Südamerika. Kämpfer belegte dies statistisch: Von vierhundertfünfundsiebzig bislang aufgeführten Werken stammen hundertfünfundzwanzig von Frauen, und erkleckliche zweiundvierzig der einhundert vergebenen Aufträge gingen an Komponistinnen. Diesmal bot das von vier auf zwei Tage komprimierte Festival Werke von zehn Frauen und acht Männern.

Einem „Artist Talk“ nacheifernd schwärmte der Festivalleiter in einer einstündigen „Producer Lecture“, es wäre ihm und seinem Team gelungen, die alte materialästhetische Avantgarde samt überkommener Gewohnheiten, verhärteter Dogmen und Sichtweisen zu überwinden, ohne dabei zu verraten, wen oder was er damit meinte, und warum er die großgeschriebene „Neue Musik“ für ein so schlimmes „Instrument der Ausgrenzung“ hält. Bezeugt das Schaffen von Bernd Alois Zimmermann, Cage, Nono, Stockhausen, Kagel, Ligeti, Berio, Scelsi und vielen anderen nicht gerade das Gegenteil? Und auch das Wirken von Vorgänger Reinhard Oehlschlägel – in Kämpfers Historie schlicht totgeschwiegen – war bereits bestimmt von der Offenheit für Komponistinnen und Komponisten unterschiedlicher Stilistiken aus der DDR, aus Osteuropa, Nord- und Südamerika. Neben dem Dreschen anonymer Strohpuppen zum Zweck der Selbstprofilierung tendierte Frank Kämpfer mit einem halben Dutzend weiterer Ansprachen vor, zwischen und nach den Konzert- und Gesprächsveranstaltungen zudem mehr zu egomanem Monologisieren als zu kritischem Dialog.

Andere Wortbeiträge zu Integration, Bikulturalität, Pluralität und Musik stammten von Politikern und Fachleuten. Der Migrationsforscher Mark Terkessidis plädierte für ein in Bewusstsein und In­stitutionen zu verankerndes Selbstverständnis einer ent­hierarchisierten „Vielheitsgesellschaft“, die im Gegensatz zur dominierenden „Leitkultur“ von Mehrheitsgesellschaften keine Minderheiten zu konditionieren sucht, weil in der pluralen Gesellschaft schlicht jede Gruppierung nur eine unter vielen ist.

Dass das zeitgenössische Musikschaffen divers und migrantisch geprägt ist, zeigten fünf Konzerte mit rund zwanzig aufgeführten Werken von Komponistinnen und Komponisten aus nahezu ebenso vielen Nationen, die zwischen Mitte der Siebziger- und Mitte der Achtzigerjahre geboren wurden und alle ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden haben, weil hier die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen verhältnismäßig gut und vielfältig sind.

Den Anfang machte im Kammermusik­saal des dlf die fast einstündige Solokomposition „Ihr sollt die Wahrheit erben“ des 1945 in Zeitz geborenen und 2018 in Berlin verstorbenen Komponisten Hermann Keller, die mit dem Fes­ti­val­thema freilich nichts zu tun hatte. Grundlage des 2015 entstandenen Stücks für spielende und sprechende Cellistin ist das 1997 erschienene gleichnamige Buch der Holocaust-Zeitzeugin Anita Lasker-Wallfisch, die das Vernichtungslager Auschwitz als Cellistin des dortigen „Mädchen­orchesters“ überlebt hat. Der Cellopart besteht aus Anklängen an „Donauwalzer“ und „Carmen“ sowie ebenso programmatisch lesbaren Bartók-Pizzikati, schreienden Doppelgriff-Dissonanzen, müde schleppenden Auf- und Abstrichen sowie einer wiederkehrenden, expressiv aufsteigenden Kantilene als einem Symbol für Musik, Schönheit, Hoffnung. Zu intensivem Cellospiel rezitierte Constance Ricard den Text mit nüchterner Erzählstimme, um die erschütternden Erinnerungen an Deportation, Völkermord und Todesmärsche für sich sprechen zu lassen.

Solo- und Duowerke der zwei aus Korea stammenden Migranten Isang Yun und Younghi Pagh-Paan präsentierten Organist Dominik Susteck und Schlagzeuger Michael Pattmann in der Kunst-Station Sankt Peter. Die sichtbar gestische Klangproduktion auf den Perkus­sionsinstrumenten verband sich ebenso komplementär wie schlüssig mit den im Inneren der Orgel verborgenen Pfeifen- und Schlagwerkregistern.

Bereits zum elften Mal beim Forum gastierte das Ensemble 20/21 unter Leitung von David Smeyers. Studierende der Hochschule für Musik und Tanz Köln präsentierten einen durchkomponierten Konzertablauf mit eigenen Performances und hochkonzentrierten Interpretationen. Herausragende Leistungen boten Geigerin Veronique De Raedemaeker und Saxophonistin Maria de los Angeles del Valle Casado mit Solostücken von Adriana Hölszky und Samir Odeh-Tamimi.

Das spannendste Konzert gab das Freiburger Ensemble Aventure mit einer Uraufführung und reifen Wiederaufführungen von Werken der letzten Jahre. Farzia Fallah verband in ihrem neuen Stück „Unter Bewunderung der Farben“ die Ensembleklänge mit gestrichenen Metallplatten und klirrender Stahlfeder zu einem eindringlichen Klang- und Wahrnehmungsfeld. Jamilia Jazylbekovas „ÜberGrenzen“ kombinierte flirrend-helle Flächen mit einsamen Trompetenrufen. Eres Holz verschränkte in „Kata­klothes“ sämtliche Stimmen zu labyrinthisch dichtem Gewirr, das erst am Schluss wie der Schicksalsfaden der Moiren abgeschnitten wurde. Im Trio „In Schritten“ von Zeynep Gedizlioğlu ballten sich Klarinette, Viola und Klavier zunächst zu kompakten Mixturen, bevor sie sich aus der konformierenden Klammer lösten und als zunehmend eigenständige, gleichberechtigte Partner begegneten: Polyphone Kammermusik als kommunikative Minia­tur einer pluralen, partizipativen, demokratischen Gesellschaft.

Das von Regisseurin Sophia Simitzis inszenierte Konzert des 2010 gegründeten Berliner Ensembles LUX : NM begann mit einem großen Alufolien-Haufen, der wie eine unbekannte Spezies aus einer Star-Trek-Episode durch den Saal trippelte und schließlich auf der Bühne die Musiker ausspuckte. Die klamottige Irritation entpuppte sich aber schnell als sinnfreier Verpackungsmüll und wiederkehrender Pausenfüller. Optisch garniert wurden die konzertanten Stücke mit
Videoprojektionen, die kaum mehr sehen ließen als belanglose Bildschirmschoner-Animationen: Farbflächen, kreisende Graphiken, wabernde Punkte, sich auf- und abbauende Zacken- und Schlangen­linien, deren Massenstrukturen man womöglich mit Sozialmodellen in Verbindung bringen sollte. Gelegentlich auftretende Analogien zur Musik kamen über Mickey Mousing nicht hinaus. Zu schnellen Repetitionen und Läufen in Gordon Kampes „Dark Lux-Suite“ sah man unter einem Mikroskop hin- und herwuselnde Geißeltierchen. Die klare Klanglandschaft von Lisa Streichs uraufgeführtem „Mole’s Breath“ illustrierten treibende Eisschollen und grün blubbernde Computer-Bläschen.

Hinzu kamen weitere Uraufführungen. Annesley Black reihte in „SCRAB“ abgehackte und live-elektronisch spatia­lisierte Fragmente. Oxana Omelchuks „Piano Concerto“ mündete in per Tastatur abgerufene Soundfiles, welche die Reproduktionstechnologie als Sieger aus dem Wettstreit mit der Live-Produktion hervorgehen ließen. Zusätzliche Statements einer Spezialistin für künstliche Intelligenz sowie Räsonnements der ­Musikerinnen und Musiker über Welt, Menschheit, Grenzen, Solidarität wirkten ebenso aufgesetzt wie die in Reden und Programmheft beschworenen Jubiläen von siebzig Jahren Grundgesetz und BRD sowie dreißig Jahren Mauerfall, mit denen die aufgeführte Musik allesamt nichts zu tun hatte.

Das Fazit fällt zugleich skeptisch und zu­versichtlich aus: Die Vision und Realisation einer postmigrantischen Vielheits­ge­sellschaft muss einzelne Werke und Festivals zwangsläufig überfordern, ist aber insgesamt in der Szene der neuen Musik seit sechzig Jahren eine ebenso schöne wie täglich neu gelebte Selbstverständlichkeit. Neue Musik ist längst ein unendlich ausdifferenziertes Pluriversum, das viel offener und vielstimmiger war und ist, als verengende Feind- und Zerrbilder immer wieder glauben machen wollen.