MusikTexte 161 – Mai 2019, 87

Frankenstein im Nuklearlabor

Zur Uraufführung von Michael Wertmüllers jüngster Oper „Diodati. Unendlich“ am Theater Basel

von Thomas Meyer

Der Abend hinterlässt extrem gemischte Gefühle. Was will man mehr? Rührung und Entzücken, Abscheu, Ablehnung, Überdruss, Überwältigt- und Mitgerissensein. Er bietet also das, was Alexander Kluge an der Oper einst als „Kraftwerk der Gefühle“ bezeichnet hat. Nur leistet „Diodati. Unendlich“ das weniger über die zentrale treibende Kraft dieses Genres, den Gesang. Der wirkt gelegentlich sogar etwas antiquiert modernistisch, manchmal konventionell leidenschaftlich, auf jeden Fall nicht auf dem gleichen Niveau wie der rumorende Orchesterklang, in dem sich ständig mehreres vollzieht, manch­mal geschichtet gleichzeitig, manchmal in sehr abruptem Wechsel. Das hält wach. Da ist der Komponist Michael Wertmüller in seinem Element. Und das wurde vom Sinfonieorchester Basel unter Titus Engel auch mit enormem Drive dargeboten.

Zusätzliche PS kamen vom selbsternannten Hammond Avantcore Trio „Steamboat Switzerland“, das zu Wertmüllers bevorzugten Partnern gehört. Die Musik bewegte sich ständig in einem Nirwana von Neuer Musik, Jazz und Rock. Schließlich hat der Komponist ja einst in der Berner Jazz-Rock-Core-Band „Alboth!“ angefangen, die für ihren „Zwölftonrock“ berüchtigt war. Und heute noch verschreckt er selbst in Donaueschingen manche Zuhörer mit seinen Klängen. „Meine Stücke können manche Leute bei Neue-Musik-Festivals tatsächlich aufregen, weil sie auch extre­me und ungewohnte Jazzelemente enthalten. Eine solche Sprache kennt oder mag man in diesem Kontext nicht unbedingt. Für Neue-Musik-Puristen ist ja selbst ein Schlagzeug mit einer Kickdrum oder eine Hammond Organ des Teufels“, sagte er vor einiger Zeit im Gespräch.

Es war eine leise Pointe, dass ein Engel vor dem Orchester stand, wo’s doch in „Diodati. Unendlich“ um so sehr Dämoni­sches ging. Die Geschichte, die sich um den einen Teil des Titels, die heute noch existierende Villa Diodati in Cologny am Genfersee, rankt, ist wohlbekannt. Lord Byron hatte sich mit seinem Leibarzt John Polidori dort eingemietet – 1816, in jenem Jahr ohne Sommer, weil in Indonesien der gewaltige Vulkan Tambora ausgebrochen war. Ein eh schon düsteres Ambiente war so vorgegeben. In eben jenem Sommer kamen der Dichterkollege Percy Shelley mit seiner Geliebten und späteren Frau Mary Godwin zu Besuch, in Begleitung von deren Halbschwester Claire Clairmont, die von Byron schwanger war. Die fünf verbrachten die verregneten Tage damit, einander Geschichten zu erzählen und neue zu erfinden. So entstand unter anderem Polidoris „The Vampyre“ und vor allem Mary Shelleys „Frankenstein“.

Der Doktor und sein Monster tauchen allerdings in dieser Oper nicht leibhaftig auf, sondern nur kurz und spät in einer verknappten Erzählung Marys – ein besonders dramaturgischer Kniff des Librettos, das Dea Loher für Wertmüller geschrieben hat. Frankenstein ist hier vielmehr das Ergebnis diverser Erinnerungen und Emotionen, die sich allmählich hochschaukeln. Das Baby Percys und Marys, das schon nach zehn Tagen gestorben war, wird dabei auf der Bühne wieder zum Leben erweckt. Hinzu treten die schwangere Claire, der in Byron verliebte Polidori (Seth Carico), dieser wiederum (Holger Falk) von Sexmanie und Lebensgier besessen, arrogant und oft rücksichtslos, aber andererseits immer noch seiner Schwester Augusta (Samantha Gaul) verfallen. Er ist die treibende Kraft in dieser Oper, jedenfalls viel stärker als der sensible und unsichere Percy (Rolf Romei). So wirbelt das Stück zwischen den Extremen musikalisch und emotional durcheinander, erregt, nervös und dementsprechend auch nervenaufreibend. Einzig Mary (Kristina Stanek) setzt dazu einen traurig-ruhigen, elegischen Kontrapunkt.

Es geht um Schöpferkraft allgemein: himmlische und teuflische, sexuelle, aber auch wissenschaftliche. Nicht genug mit dieser eh schon hochangespannten Situation: Loher und Wertmüller umgeben sie mit der wissenschaftlichen Entourage des CERN. Die Nuklearforscher (Warum eigentlich sie und keine Mediziner? Ach ja, das CERN ist auch in Genf beheimatet.) beobachten die menschelnde Versuchsanordnung in der Villa. Und so wird das Ganze denn auch noch in die im Titel angedeutete Unendlichkeit befördert, hinaus zu den Supernoven, zwischen All und Nichts. Die Oper ist also auch ein Welttheater.

Dieser CERN-Rahmen bot zwar dem Basler Chor einige pracht- und kraftvolle, am Ende ja musikalisch durchaus gewaltsame Einsätze, wirkte aber insgesamt etwas outriert und überbedeutsam. Wie überhaupt erzählerische Schlüssigkeit nicht die Stärke des Librettos ist. Auf der anderen Seite freilich ergaben sich gerade aus der Unlogik einige der musikalisch schönsten Momente, etwa das grandiose Kampfduo „Early Universe“, das sich Sara Hershkowitz (Claire) mit dem Schlagzeuger Lukas Niggli gab: Virtuose Exzentrik vom Feinsten, wenn auch nicht ganz einleuchtend in der Bedeutung.

Mit seiner nun schon dritten Opernuraufführung innerhalb von nur vier Jahren (und weiteren Musiktheaterproduk­tionen) erreicht Wertmüller hier ein weiteres Niveau – allein der zeitlichen Dimensionen wegen. Mit zweieinhalb Stunden Spieldauer – und das ist durchaus gefüllt und erfüllt mit kaum nachlassender musikalischer Intensität, so sehr, dass man über die wenigen ruhigeren Passagen dann doch ganz froh ist. Wie nun lässt sich solch ein aufgeladenes und die Sinne oft überfahrendes Kraftpaket inszenieren? Die Diodati-Szenen erinnerten in ihrer grotesken Überzeichnung an Edward Gorey (Bühne: Flurin Borg Madsen; Kostüme: Ursula Kudrna); die Wissenschaftler gerieten daneben zu klischiert. Mit einigen Szenen konnte die Regisseurin Lydia Steier weniger anfangen, also überzeichnete sie diese. Überhaupt hat sie, wie Loher und Wertmüller ja auch, ein bisschen viel und dann noch einiges mehr hineingepackt, manchmal wohl bloß, um den Zuschauer zu blenden und zu verwirren, was in seiner Mehrfachmoppelung etwas verdrießlich stimmte. Das Bühnengeschehen wirkte zuweilen nur noch aktio­nistisch, versext und vergendert. Der Mix wollte aktuell sein, vermochte aber oft nur wenig zu erhellen. Aber gleichzeitig: Wie soll man diesem Stoff anders nahekommen als mit berstendem Kitsch? Immerhin zeugt selbst das noch von einer gewissen Sprengkraft.