MusikTexte 161 – Mai 2019, 89–90

Archaik und Moderne

2D2N – 25. Internationales Festival in Odessa

von Insa Oertel

Seit 1995 veranstaltet die Association New Music (ANM), die ukrainische Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, das Festival Two Days and Two Nights of New Music in Odessa. Gemeinsam haben die Komponistin Karmella Tsepkolenko, der Kulturmanager Oleksandr Perepelytsia und der Schlagzeuger und Dirigent Bernhard Wulff den postsowjetischen Impuls der Unabhängigkeit nach 1991 aufgegriffen und mit der Gründung dieses Festivals einen Freiraum für die zeitgenössische Kunst geschaffen, nachdem Kriege, ethnische Säu­berungen und Diktaturen die Moderne in Osteuropa in ein kreatives Vakuum getrieben hatten.

Der Präsentationsmarathon von achtundvierzig Stunden ist ein Experimentierfeld fernab des Establishments. Hier am Schwarzen Meer wird Kunst vor allem zu einem Epizentrum künstlerischer Kommunikation. Die daneben existierenden anderen ukrainischen Festivals, zum Beispiel das Kyjiw Music Fest und Kon­trasty in Lwiw, die ebenfalls ambitioniert den interkulturellen Dialog mit Polen, China, Österreich und anderen Ländern bestärken, sind eher traditionell ausgerichtet, wie die Vorsitzende des ukrainischen Komponistenverbands, Lessia Oliinyk, erläutert. Dieser schnappschussartige Blick auf die musikalische Landkarte der Ukraine bezeugt das Bestreben des Kulturministeriums, mithilfe der 2017 gegründeten Ukrainian Culture Foundation nationale Kunst über die Grenzen hin­auszutragen. Zugleich ist der seit einem Vierteljahrhundert pulsierende Schaffensdrang der Künstler ein Beweis dafür, dass sich Erneuerungsbestrebungen in all den Jahren nicht haben aufhalten lassen.

Seit 1998 existiert am Staatlichen Peter-Tschaikowsky-Konservatorium ein Elek­tronisches Studio, das die Komponistin und Musikwissenschaftlerin Alla Zagaykevych nach dem Vorbild des Pariser ­Ircam aufgebaut hat. In Lwiw gibt es seit 2014 ein modern ausgestattetes elektroakustisches Studio, CD-Labels wurden gegründet und Komponisten aus dem Kreis der Kyjiwer Avantgarde erhielten internationale Preise. Diese standen in den Sechzigern mit ihren zwölftönigen Kompositionen in Opposition zum staatlich verordneten Stil des Sozialistischen Realismus. Seine frühen Werke wurden oft im Ausland aufgeführt.

Stilistische Offenheit, intermediale Kon­zeptionen und ideologiefreie kulturelle Vielfalt prägten auch die diesjährige Jubiläumsausgabe. Die Architektur des Programms entspricht einem Megakonzert, das minutiös auskomponiert ist und in seiner Dichte etwas Berauschendes hat. Der Titel 2d2n wird als Format umgesetzt: Um Mitternacht wechselt der Veranstaltungsort von der Bühne im großen Saal ins Foyer, ein riesiger Durchgangsraum mit Jugendstilornamenten an den Säulen des Gewölbes. In einer Nische die bis zum Morgengrauen geöffnete, nach Tag und Nacht heiß begehrte Caféte.

Den Auftakt bildeten natürlich Jubi­läumsreden. Ganz unerwartet wurden die bedeutsamen Worte der Redner von Studenten in papiernen Modern-Art-Kostümen leise knisternd umrahmt. Man lässt sie, freut sich. Ebenso wie über die eigenwilligen Ideen der Lichtregie, die mitunter die Projektion der Live-Malerei des ukrainisch-amerikanischen Künstlers Misha Tyutyunik überstrahlt. Am linken Bühnenrand plaziert, demonstriert Tyutyunik den Willen zur Synthese aller modernen Kunstformen. Im Gespräch zwischen den Umbaupausen beschrieb er, wie er bei seinem Work in Progress musikalische Impulse in seine Gesamtidee integriert. Zwischenzeitlich ist ein Chagall nachempfundener „Gefallener Engel“ zu sehen, der im folgenden Block – weil Tyutunik das Bild umdreht – als sonnetragender Tänzer erscheint. Dieser Traditionsbezug im Zusammenhang mit Verfremdung, Dekonstruktion und Per­spektivenwechsel spiegelt die Projek­tionsfläche der Festivalidee wider.

Seit 2010 beginnt die Eröffnung mit Nicolaus A. Hubers „Clash Music“ für einen Beckenspieler, dieses Mal mit perkussiver Energie vom Leipziger Schlagzeug­ensemble aufgeführt. Der rhythmisch geordnete, scheppernde Sound gräbt sich ein in die plüschbesetzten Polster des Auditoriums. Virtuos spielen die Musiker die Unmöglichkeit aus, so etwas wie Klang zu erzeugen. Es bleibt jedoch beim harten Knall des Aufeinanderpralls und dem daraus entstehenden höchst diffusen Schallereignis. In der Astrophysik bedeutet „Clash“: Blick in die Tiefe des Alls, ein Taumeln vor der sich selbst produzierenden Unendlichkeit, die das unermesslich Große und Kleine gleichermaßen umfasst. So also fängt alles an.

Der Schlagzeugblock wird fortgesetzt mit Xenakis’ „Rebonds B“ und endet mit dem neue Stück „A frame II“ des Kanadiers Michael Murphy in einer Festival-Version für alle Schlagzeugensembles zusammen. Aufführungen „klassischer“ Literatur sind seit 1995 Programm. Tristan Murail entwarf seine „Cloches d’adieu et un sourire“ 1992 zum Gedenken an seinen Lehrer Messiaen und in Anlehnung an dessen frühes Prélude „Cloches d’an­goisse et larmes d’adieu“. Diesen Ansatz der Spektralmusik eigensinnig aufgreifend, zelebriert das Schweizer Trio Soyuz21 elektronisch verfremdete Granulationsprozesse, bei denen der Computer als Live-Mitspieler den Raum ins Unendliche zu weiten scheint.

Gegenpolig dazu „Rain Tree Sketch II“ aus der „Sea“-Reihe des Japaners Tōru Takemitsu, die bewusst die Lettern s-e-a aus dessen Namen als Emblem einer unverwechselbaren Subjektivität exzerpiert, die im globalen Anything Goes vielleicht Authentizität verbürgt.

Die solistisch besetzten Teile bilden einen atmosphärischen Kontrapunkt zu den Ensembleblöcken. Der US-amerikanische Geiger Dan Auerbach bewies sein feines Stilgefühl mit dem meditativen „Nocturne“ des russisch-amerikanischen Komponisten Anton Rovner, Violeta Dinescus „Satya I“, einer Hommage an den rumänischen Parlandostil mit seinen Vierteltönen, Bisbigliandi und Mehrklängen und Karmella Tsepkolenkos „solo-solissimo No. 1“. Die anschließenden ­Duell-Duo-Blöcke bildeten einen dialektischen Rahmen für Interpreten unterschiedlichster Herkunft.

Die „Grand-Szene“ am Folgetag wurde mit Edgard Varèses „Ionisation“ eröffnet – auch das ein Klassiker der Moderne. Hier werden alle rhythmischen Gedanken und vertikalen Konstruktionen der jeweiligen Technik der Instrumente selbst entnommen und ganz ohne elektronische Mittel verklanglicht. Wenn aber alle Perkussions­ensembles (aus Odessa, Lugano, Freiburg, Leipzig und Basel) dieses Werk zusammen einstudieren, geht der Amalgamierungsprozess noch über die auszuhandelnde Kontroverse von Rhythmus und Klangfarbe hinaus: Das Stück wird zu einem leibhaftigen Ereignis. Direkt danach folgte „Zonen 4.3“ des Hamburger Komponisten Michael Maierhof. In Anlehnung an die Musique concrète untersuchte er die Klangqualität ordinärer Plastikbecher. Aus Wegwerfartikeln unserer Zivilisation entstehen kultivierte Klän­ge. Komisch wirkte das Auftreten des litauischen Blechbläser-Trios mit zwei Posaunen und einer oft sehr eigensinnig agierenden Tuba, was die jungen litauischen Komponistinnen und Komponisten Vaida Striau­paite˙-Beinariene˙, Žibuokle˙ Martinaityte˙, Andrius S¯iurys und vor allem die Ukrainerin Hanna Kopiyka szenisch zu nutzen wussten. In deren neuen Stück „Tri-angels“ kommunizieren die Instrumentalisten mit Elektrosounds und Radionachrichten aus dem Off und versuchen, die nach einem heftigen Knall entstandene apokalyptische Stille mit prosaischen Tönen wiederzubeleben. Riesenbeifall für diese souverän inszenierte Groteske, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt und die Musik ihren existentiellen Charakter offenbart.

Herzstück des Megakonzerts sind die Mini-Opern: Seit 2007 ist der österreichische Bassbariton Rupert Bergmann Gast des Festivals. Seine Darbietung von Tsepkolenkos „Heute Abend Bo­ris Godunow“ mit dem Ensemble Senza Sforzando unter der Leitung von Olexander Perepelytsia junior war phänomenal. In derselben Besetzung wurden später auch dreiminütige Auf­trags­komposi­tionen junger Komponisten präsentiert: Als „Musical Zoo“ waren die zwölf Titel mit Tieren überschrieben. Amüsant wurde es besonders, wenn es den Komponisten gelungen war, das Komödiantisch-Allegorische über das Akademische zu erheben: wie bei „insect“, wenn Nazar Skrypnyk (Ukraine) Kafkas „Verwandlung“ nachempfindet, „Animal Farm“ des Österreichers Benjamin Blaikner mit seinem gescheiterten Revolu­tionsvorhaben oder dem zum Brüllen verdammten „Lion“ der Ukrainerin Anna Stoyanova.

2d2n in Odessa ist nicht nur ein internationaler Anziehungspunkt für ambitionierte Künstler, sondern erfüllt auch einen völkerverständigenden und erzieherischen Anspruch. Kulturelle Vielfalt gerät in einen gegenseitigen Austausch, zumal wenn „ukrainische Musiker Werke ausländischer Komponisten aufführen und ausländische Interpreten zeitgenössische Werke ukrainischer Komponisten präsentieren“. Diese interkulturelle Grundidee trägt längst Früchte globalen Ausmaßes: Cracking Bamboo in Vietnam, Caspian Fires in Aserbaidschan und Roaring Hooves in der Wüste Gobi gehen auf Bernhard Wulffs Initiative zurück, der von der mongolischen Regierung zum Kulturbotschafter der Mongolei ernannt wurde. Während 2d2n trug er seine Botschaftertracht, sicher nicht nur wegen der stetig den ungeheizten Saal durchziehenden kühlen Frischluft: Archaik und Moderne in Personalunion.