MusikTexte 161 – Mai 2019, 85

Startbahn West im Osten

Julia Mihály beim Tonlagen-Festival Hellerau

von Tobias Schick

„Stimme“, so lautete das diesjährige The­ma des Festivals Tonlagen in Hellerau, das alle zwei Jahre stattfindet und im Zuge des Intendantenwechsels nun vom Oktober in den März verlegt wurde. „Stimme“, das meinte beim Dresdner Festival mindestens dreierlei: Nicht nur die naheliegende Fokussierung von Vokalmusik mit so unterschiedlichen Werken und Formaten wie Morton Feldmans Klassiker „Three Voices“ (1982) mit Noa Frenkel, dem experimentellen Performanceabend der Wiener Stimmkünstlerin Agnes Hzvidalek oder dem Konzert des Dresdner Ensembles AuditivVokal, das dreißig Jahre nach der Wende unter dem Titel „Ostgezeter“ neue Vokalmusik aus Ostdeutschland in den Blick nahm.

„Stimme“ meinte auch die individuellen Lautäußerungen der Komponistinnen und Komponisten und mit ihnen die beeindruckende Vielstimmigkeit der künstlerischen Positionen und Konzepte, die sich vom Orchesterkonzert der Elbland Philharmonie Sachsen mit Friedrich Goldmanns Oboenkonzert von 1978/1979 (mit Burkhard Glaetzner, dem Solisten der einstigen Uraufführung) und der Uraufführung der fünften Sinfonie des Dresdner Komponisten Wilfried Krätzschmar bis hin zum Clubkonzert mit Akteuren und Performerinnen der Underground-Musikszene der ägyptischen Me­tropole Kairo erstreckte. „Stimmen“ können jedoch auch erhoben werden, um sich Gehör zu verschaffen und sich für oder gegen etwas zu äußern. Daher war auch die Weltbezogenheit von Musik und oft auch dezidiert Politisches ein tragender Bestandteil des Festival-Konzepts.

Julia Mihály thematisierte in ihrer als Auftragswerk entstandenen Musiktheaterperformance „18WEST – Songs für den Untergang“ den Protest von 1979 gegen die Startbahn 18 West des Frankfurter Flughafens, der damals von einer breiten Bürgerbewegung getragen wurde. Nach zunächst friedlichem Protest eskalierte das Geschehen im Zuge der am 2. November 1981 erfolgten Räumung eines Hüttendorfs, das die Demonstranten in dem zur Rodung bestimmten Wald errichtet hatten. Nach einer Blockade der Flughafeneingänge Mitte November ging die Polizei gewaltsam gegen die Demon­stranten vor, die sich auf die naheliegende Autobahn flüchteten und dort Barri­kaden errichteten, bis die Autobahn durch per Hubschrauber abgesetzte Bundesgrenzschutz-Einheiten geräumt wurde. Der nach der Eröffnung der Startbahn im Jahr 1984 stark geschrumpfte Protest fand sein unrühmliches Ende 1987, als aus einer Demonstration anlässlich des Jahrestags der Räumung des Hüttendorfs heraus zwei Polizeibeamte erschossen wurden.

Derart gewalttätig ging es in Julia Mihálys Performance allenfalls am Rande zu, da die Szene vorwiegend an einem früheren Zeitpunkt spielte. „Wir üben die Revolution – das Publikum zieht ein ins Hüttendorf“, hieß es im Programmheft, und dementsprechend nahmen die Besucher in kleinen Wellblech- und Holzverschlägen Platz, die um eine mittige Bühne gruppiert waren. Zur Mischung aus Protestcamp- und Festivalatmosphäre trugen außer dem beeindruckenden Bühnenbild (Peter R. Fiebig) auch die unbequemen Sitzgelegenheiten und die eingespielten Vogelstimmen bei. Wer aufgrund der an eine Handvoll Mitwirkende und Gäste ausgeteilten Regenmäntel befürchtete, auch noch nass zu werden, hatte jedoch Glück.

Inhaltlich bestand der Abend aus einer losen Szenenfolge teils musiktheatralen, teils konzertanten, teils performativen Charakters, die unterschiedliche Momente des Hüttendorf-Alltags beleuchtete: Mal rezitierte Mihály auf dem Rücken liegend ein Fontane-Gedicht, mal probte sie verschiedene Protestsongs mit ihrer Band (Martin Lorenz und Sebastian Hofmann), mal berichtete sie in der Funktion einer Erzählerin von den damaligen Ereignissen. Die Abfolge der Szenen war locker und insbesondere die Übergänge wirkten etwas zufällig und nur in Ansätzen inszeniert. Was man als fehlendes Regiekonzept hätte abtun können, erwies sich jedoch angesichts des Sujets des unstrukturierten Protestcamp-Alltags als durchaus passend.

Ohnehin war die lebensechte Atmosphäre die große Stärke des Stücks. Die in Frankfurt lebende Komponistin/Performerin und ihre dreiköpfige Band trafen den engagierten, aber zumeist eher schlecht musizierten Tonfall unbeholfener Naivität vieler Protestsongs ausnehmend gut. Und die häufig eingespielten Start- und Lande­geräusche von Flugzeugen wa­ren wie die später erklingenden O-Töne von Demon­strationszügen von einer dynamischen Wucht, die durchaus körperliches Unbehagen erzeugte. Dank der elektronischen Zuspielung und des Band-Instrumenta­­riums (E-Gitarren, Schlagzeug) war die Musiktheaterperformance großteils von einer elektronisch-geräuschhaften Ästhetik geprägt, die häufig die Funktion einer flächigen Hintergrundtextur hatte, zuweilen aber auch in den Vordergrund rückte.

Aufhorchen ließ gleich der Anfang des Stücks, als Mihály durch den Raum wanderte und eine mit den Saiten auf dem Boden schleifende E-Gitarre hinter sich herzog, so dass minimalistische und zugleich abwechslungsreiche Klänge entstanden. Später hingegen ergaben sich spannungsvolle klangliche Differenzen durch die musikalische Nachahmung klanglicher Realien. So wurde etwa das Geräusch von Motorsägen durch das Streichen mit Kontrabassbogen an einem Polizeischild nachgestellt. Umso bedauer­licher war es, dass derartige Konstellationen häufig nach kurzer Zeit wieder verlassen wurden, anstatt wirklich kompositorisch entfaltet zu werden.

Problematischer war hingegen das Verhältnis zwischen dem Inhalt des Stücks und seiner künstlerischen Umsetzung. Der Konflikt zwischen Bürgerprotest und staatlicher Interessendurchsetzung wurde kaum in den strukturellen, formalen oder personellen Konstellationen des Werks verhandelt und somit künstlerisch re­flek­tiert, sondern weitgehend bloß illustrativ bebildert. Symptomatisch dafür war der Umgang mit den Protestsongs, die in ihrer Unbeholfenheit ausgestellt wurden, ohne das Spannungsfeld zwischen berechtigtem Ansinnen und agitatorisch-ver­einnahmenden Mitteln zu hinterfragen. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass der Reflexion des Verhältnisses von Staat, Gruppen und Individuen bei nur drei Mitwirkenden und dem Verzicht auf andernorts bisweilen beinahe inflationär anmutende Videozuspielungen deutliche Grenzen gesetzt waren.

„18WEST – Songs für den Untergang“ war gerade auch wegen der zahlreichen O-Töne aus historischen Fernseh- und Radioreportagen über weite Strecken eine zum dokumentarischen Theater tendierende Konzertperformance, die ein eindrückliches und plastisches Bild der Protestbewegung zeichnete, ohne jedoch zu den eigentlich spannenden Fragen politischer Interaktion vorzudringen.