MusikTexte 161 – Mai 2019, 92–93

Jäger und Gejagter

Hans-Peter Jahn über das Rundfunk-Arbeitsleben des Otto Tomek

von Rainer Nonnenmann

Primäre Wegmarken der Musikgeschichtsschreibung sind üblicherweise Werke und Theorien herausragender Komponisten. Sekundär in den Blick kommen gelegentlich auch Interpreten und Institutionen, die diese Musik zur Aufführung brachten. Unterbelichtet bleiben dagegen meist die in diesen Institutionen wirkenden Personen, die kaum öffentlich in Erscheinung treten, aber als Verleger, Veranstalter, Ensemblemanager, Redakteure und Festivalleiter maßgeblich darüber entscheiden, welche Komponisten und Interpreten eingeladen, besprochen, gesendet, finanziert und gefördert werden, und welche nicht. Otto Tomek war ein sol­cher Entscheider in verschiedenen verantwortungsvollen Positionen bei der Uni­versal Edition Wien sowie beim WDR, SWF und SDR. Sein Arbeitsleben als „der erste Redakteur für Neue Musik in der un­beackerten Nachkriegs-ARD-Landschaft“ bis zu den Rundfunkreformen Ende der Achtzigerjahre ist Gegenstand von Hans-Peter Jahns Buch. Statt persönlicher Begegnungen verbinden den zwanzig Jahre jüngeren Autor mit Tomek zeitversetzt ebenso langjährige Erfahrungen als Redakteur für Neue Musik am SWR sowie als Ma­nager des SWR-Vokal­ensembles und Leiter der später zu Eclat umbenannten Tage für Neue Musik Stuttgart. Grundlage des Buchs bilden Briefe, Listen, Proto­kolle, Gutachten, Sendemanuskripte, Fo­tos, ­Arbeitsberichte und autobiographische Notizen, die Tomek für ein – nicht realisiertes – Buchprojekt gesammelt hatte.

Der bis auf ein paar Druckfehler sorgfältig edierte Band samt Personen- und Werkregister lebt von der Fülle und Aussagekraft überwiegend erstveröffentlichter Dokumente, die in chronologischer Folge Tomeks Werdegang beleuchten. Eingebettet sind diese Quellen in Kommentare des Autors sowie Einordnungen in das zeit- und musikgeschichtliche Umfeld. 1928 in Wien geboren, kam Otto Tomek früh mit Literatur und Musik in Berührung. Bereits als Dreizehnjähriger listete er alle seine Opern-, Theater- und Konzertbesuche auf – durchschnittlich zehn im Monat –, durch die er sich ein Fundament umfassender Musikkenntnisse erwarb. Sein 1946 begonnenes Studium der Musikwissenschaft beendete er 1953 mit einer Dissertation über Triostrukturen in Musik des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Anschließend kümmert er sich als Lektor der Universal Edition bevorzugt um die Werke der von den Nationalsozialisten verfemten Wiener Schule und die verstörend neuartigen Partituren von Boulez und Stockhausen. Ab 1954 besucht er regelmäßig die Darmstädter Ferienkurse, die Donaueschinger Musiktage sowie Konzerte neuer Musik in Hamburg, Köln und München. Tomek pflegt lebhaften Kontakt mit Wolfgang Steinecke, dem Direktor des Kranichsteiner Musikinstituts in Darmstadt, und Karl Amadeus Hartmann, dem Leiter der Münchner musica viva.

1957 wird der umtriebige Netzwerker und Kenner der historischen und seriellen Avantgarde „Hauptsachbearbeiter Mu­sik der Zeit“ beim WDR Köln. Er ist zuständig für die Planung von Proben, Konzerten, Mitschnitten und Sendungen, die Einladung von Dirigenten und Solisten, die Vergabe von Aufträgen für Kompositionen und Texte, für Etatbeschaffung, Modera­tionen, Programmhefte; er ist verantwortlich für WDR-Sinfonierochester und Chor, Gastdirigenten, Studio für Elektroni­sche Musik, Sendesaal, die Konzertreihe „Musik der Zeit“ und Radioübertragungen. Er kann neue Werke reali­sieren und senden. Das macht ihn vor allem für jüngere Komponisten zum entscheidenden „Realisierungsgenossen und Verbreiter“ sowie „Weichensteller im Netz diffuser Ent­scheidungsinstanzen“. Jahn spitzt zu: „Ohne Tomek, so könnte man leichtsinnig behaupten, wären Nono, Boulez und Stockhausen nicht denkbar“, um sogleich zu ergänzen, dass umgekehrt auch Tomek ohne die drei Künstler nicht denkbar wäre, da deren Werke seine Reputation als Redakteur vermehren und dem WDR zu Weltruhm verhelfen.

Bis 1971 veranlasst Tomek am WDR die Produktion nahezu sämtlicher Werke von Schönberg, Berg, Webern sowie von Stockhausen allein einunddreißig, von Nono zwölf, Boulez neun und Bernd Alois Zimmermann vierzehn Stücke. Zudem mutet er sich und dem Sender zwei besonders ambitionierte Uraufführungen zu, die beide vor immense Herausforderungen stellen: 1957 Boulez’ „Le visage nuptial“ in der Version für Chor und Orchester sowie 1958 Stockhausens „Gruppen“ für drei Orchester. Beide Produktionen sind im Buch ebenso umfassend dokumentiert wie das IGNM-Festival in Köln 1960.

Zum Rundfunkredakteur für neue Musik befähigen Tomek profunde Kenntnisse der Musik in Geschichte und Gegenwart sowie seine Kompetenz hinsichtlich der Beurteilung neuer Partituren. Hinzukommen vorteilhafte Charaktereigenschaften: Geduld, Bescheidenheit, Ruhe und Realitätssinn, gepaart mit Neugierde und Leidenschaft für das aktuelle Musikschaffen, Integrität, Zuverlässigkeit und eine gewisse Wurstigkeit, die seine Unabhängigkeit stärkt. Unverzichtbar ist schließlich sein kommunikatives Naturell. Der von Festival zu Festival reisende Wiener beweist sowohl Sitzfleisch als auch Trinkfestigkeit bei geselligen Kneipen- und Wirtshausbesuchen, wenn mit Komponisten, Dirigenten, Solisten, Verlagsvertretern, Kritikern und Veranstaltern bis tief in die Nacht Geschäfte zu besprechen und Projekte auszuhecken sind.

Eigene Unterkapitel widmet Jahn Tomeks Verhältnissen zu den drei seriellen Nachkriegsavantgardisten und Zimmermann, der Tomek menschlich weit mehr fasziniert und beansprucht als die jüngeren Komponisten Henze, Kagel und Ligeti. Zimmermann schildert in langen Briefen aktuelle Pläne zu „Perspektiven“, „Omnia tempus habent“, „Dialoge“ sowie zur „Majakowskij-Kantate“, die schließlich 1969 als „Requiem für einen jungen Dichter“ uraufgeführt wird. Mit dem Auftrag zur „Vokalsinfonie“ gibt Tomek Zimmermann 1963 die Möglichkeit, die Aufführbarkeit seiner zuvor von der Intendanz der Oper Köln als unspielbar zurückgewiesenen Oper „Die Soldaten“ unter Beweis zu stellen.

Insgesamt ermöglichte er während seiner vierzehn Jahre beim WDR rund hundertvierzig Komponisten Aufführungen in der Reihe „Musik der Zeit“, darunter gleich mehrmals Berio, Cage, Dallapiccola, Fritsch, Henze, Kagel, Ligeti, Maderna, Messiaen, Pousseur und Penderecki. Ausgewählte Korrespondenzstücke ordnet Jahn auf über achtzig Seiten zu einem fiktiven Arbeitstagebuch des Redakteurs, der 1966 zum stellvertretenden Hauptabteilungsleiter Musik befördert wird. Erhellend sind Stockhausens bereits 1957 geäußerte Klagen, die UE arbeite zu schlampig und lang­sam, was später zu dessen Trennung vom Verlag führt. Bemerkenswert sind die klaren Vorgaben, die Tomek Cage für die Aufführung seines „Concert for Piano and Orchestra“ 1958 einzuhalten bittet: Fagott statt Tuba, Spieldauer zwölf bis dreizehn Minuten, außerdem solle der Komponist bitte selber dirigieren und nicht Merce Cunningham, der zuvor bei der New Yorker Premiere mitgewirkt hatte. Aufschlussreich sind auch Tomeks Anfragen bei Nono, der sich im Laufe der Sechzigerjahre von den seiner Auffassung nach reaktionären westdeutschen Musikinstitutionen abwendet. Eine Kurio­sität ist Tomeks Versicherung gegenüber dem Kölner Ausländeramt, den von der Grenzpolizei 1961 als Anhalter aufgegriffen Cornelius Cardew „(trotz seines eigenartigen Äusseren) als guten Musiker und als interessanten Komponisten“ zu schätzen).

Immer wieder sieht Tomek sich von Komponisten – vor allem befreundeten – mit maßlosen Forderungen konfrontiert. Der von Jahn als „Geschäftsmann“ und „Finanzstratege unter den Komponisten“ titulierte Kagel verlangt überzogene Produktionsmittel und Honorare. Nono und Stockhausen reklamieren dagegen für ihr Schaffen Prädominanz, indem sie Aufführung von Werken älterer oder ästhetisch anders orientierter Komponisten wie Hartmann, Henze, Fortner, Kupkovič oder Penderecki als Verrat an der mit ihren eigenen Vorstellungen gleichgesetzten Sache der neuen Musik diffamieren. Doch stellt sich Tomek rückhaltlos vor seine Komponisten, wenn er mit ebenso freundlicher wie argumentativ stichhaltiger Entschiedenheit auf erboste Zuschriften von Hörern reagiert, die sich über zu viel neue Musik in Konzert und Radio beschweren. Insgeheim diagnostiziert jedoch auch Tomek ab Mitte der Sechzigerjahre eine nachlassende Progressivität der neuen Musik bei gleichzeitiger Anlehnung ihrer Akteure an wirtschaftliches Denken.

Als Nachfolger von Heinrich Strobel geht er 1971 als Hauptabteilungsleiter Musik zum SWF Baden-Baden. Dort setzt er sich für den Aufbau des Freiburger „Experimentalstudios“ ein, wendet sich ge­gen aufkommende Einsparszenarien und verteidigt die Donaueschinger Musiktage gegen in- und externe Kritik als „für alle Forderungen der Gegenwartsproduktion aufgeschlossenes Forum“. Jahn beleuchtet diese Ära in Unterkapiteln zu den damals mit Aufträgen bedachten Komponisten Globokar, Höller, Rihm, Ruzicka, Stockhausen und Zender. In gleicher Leitungsfunktion wechselt Tomek schließlich 1977 zum SDR Stuttgart, wo er neben sämtlichen Musikbereichen auch die Schwetzinger Festspiele und das Orchester verantwortet. Sein diplomatisches Geschick belegen Kurzprotokolle zu Sitzungen des SDR-Musikausschusses, bei denen er Orchestertourneen rechtfertigt, sich in Strukturdebatten verausgabt und die veränderten Rahmenbedingungen für Festivals und Schallplattenproduktionen erklärt. 1988 geht Tomek, erst sechzig Jahre alt, in Rente. Einunddreißig Jahre intensiver Rundfunkarbeit an drei Sendern unter fünf Intendanten sind offenbar genug. Der Pensionär übersiedelt nach Schwetzingen, heiratet zum fünften Mal, hilft beim Aufbau des „LernRadio“ an der Musikhochschule Karlsruhe, berät die UE in Wien, korrespondiert mit langjährigen Komponistenfreunden, besucht weiter Konzerte und Festivals, beginnt an diversen Gebrechen zu leiden, verfasst autobiographische Notizen und sortiert sein Privatarchiv. Am 13. Februar 2013 stirbt Otto Tomek, acht Tage nach seinem fünfundachtzigsten Geburtstag.

Über weite Strecken nimmt sich Hans-Peter Jahn als Autor zurück, um die Textquellen für sich sprechen zu lassen. Doch an ausgewählten Stellen schaltet er sich umso dezidierter ein. Auf der Grundlage seiner langjährigen Erfahrungen in denselben Bereichen, in denen auch Tomek tätig war, beschreibt er die Programmverantwortlichen der Rundfunkanstalten als „untereinander konkurrierende Macher“ mit „Vernetzungs- und Strippenziehermentalitäten“, die versuchen, „besonders aufmerksamkeitsheischende Werke“ und „begabte Komponisten“ zu gewinnen, um jeweils die „Nase vorne zu haben“. Jahn erklärt nicht bloß Hintergründe und Kontexte, sondern erlaubt sich auch Spekulationen. So vermutet er, Langeweile und Belästigung durch die immer gleichen „Plagegeister Kagel und Stockhausen“ könnten Tomek 1975 veranlasst haben, die Leitung der Donaueschinger Musiktage vorzeitig an Josef Häusler abzugeben. Bei Gelegenheit angeprangert wird auch die Phantasielosigkeit, fachliche Inkompetenz und kulturelle Ignoranz, die in den Chefetagen der Sendeanstalten um sich greift. Aufgespießt werden ferner Ereignisse jenseits von Tomeks Wirkungszeit, etwa die Fusion von SWF und SDR zum SWR 1998 sowie die „blamable Mittäterschaft“ von Hörfunkdirektor Bernhard Hermann bei der von den Intendanten Voß und Boudgoust angeordneten Fusion der Orchester in Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg. Beklagt wird schließ­lich gleich mehrmals die von Tomek und den damaligen Komponisten – allen voran Stockhausen – begründete „,Indus­triea­li­sierung‘ der Programmheftkultur in der Neuen Musik“.

Das anschaulich geschriebene und lesenswerte Buch ist keine bloße Biographie. Aus Mangel an Belegen und/oder Relevanz erfährt man wenig über Tomeks Privatleben. Wegen dessen vieler Selbstkommentare und Jahns ebenso erfahrungsgesättigter wie persönlicher Ein- und Auslassungen gleicht die Publikation phasenweise eher der Engführung zweier autobiographischer Stimmen. Das mag historiographisch bedenklich sein, macht die Lektüre aber aspektreich und spannend. Letztlich vermittelt das Buch vor allem vielfältige Einblicke in die wechselvolle Geschichte der Personen, Strukturen und Mechanismen der neuen Musik im Rundfunk von den Fünfziger- bis zu den Neunzigerjahren, exemplarisch erhellt durch das reiche Berufsleben der Schlüsselfigur Otto Tomek.

Hans-Peter Jahn, Otto Tomek – Der Rundfunk und die Neue Musik, Hofheim: Wolke, 2018.