MusikTexte 162 – August 2019, 102–103

Jung und verspielt

Wittener Tage für neue Kammermusik mit Ondřej Adámek

von Rainer Nonnenmann

Die „Kammer“ für Manos Tsangaris’ „Es geht voran“ steht mitten in der Stadt an einer belebten Kreuzung. Der Raum markiert ein Drinnen und Draußen, ist aber rund und hat gläserne Wände, so dass sich Kunst und Leben nach allen Seiten durchdringen, überformen und wechselseitig beleuchten. Eingeläutet wird diese besondere Kammermusik am frühen Samstagabend von der nahegelegenen Johanniskirche. Doch ist diese schöne Eröffnung wirklich Teil der Inszenierung oder bloß zufällige Koinzidenz? Zweifel an der Echtheit des Geläuts sind angebracht, da alle Klänge durch ein Außenmikrophon über Lautsprecher in den Glaspavillon der Volkshochschule Witten dringen und ebenso gut auch elektronisch zugespielt sein könnten. Sein und Schein sind nicht mehr zu unterscheiden. Wirklichkeit wird zum Schauspiel oder perfekten Simulakrum. Aus Passanten schälen sich nach und nach Schauspieler, Musiker, Statisten heraus, deren Monologe neben Äußerungen von Fußgängern über Funkmikrophone ins Glashaus gelangen. Es gibt viel zu hören und sehen. Doch letztlich dient alles nur da­­zu, die Sinne zu wecken, zu richten, zu schärfen. Allein das Setting erschließt eine Fülle profaner oder poetischer Alltagssituationen: Autos verschiedener Klassen, Marken und Farben brausen vorüber; Fußgänger spazieren einzeln oder in Gruppen vorbei, mit jeweils anderen Schritten, Haltungen, Gesichtern, Kleidungen, Gepäckstücken und Zielen. Dabei ergeben sich kurze, intensive Begegnungen: Die Menschen draußen sehen die drinnen wie seltsame Fische im Aquarium, wundern sich, finden es lustig oder befremdend, suchen Blickkontakt, lächeln, winken oder wenden sich ab und suchen schnell das Weite: Alles „geht voran“.

Im fünfzigsten Jahr ihres Bestehens widmeten sich die Wittener Tage für neue Kammermusik dem Thema „Spiel“. Barblina Meierhans ließ das Ensemble Garage ein altes Kegelbahn-Zentrum mit mehreren Konzertstationen bespielen und die Besucher selber kegeln. Erwin Stache übersetzte die Anzahl und Richtung der eine Ampelkreuzung passierenden Fußgänger in Klänge. Im Eröffnungskonzert präsentierte das Genfer Ensemble Eklekto zwei Performances von Mio Chareteau: Die vier Schlagzeuger drehten leuchtende Glühbirnen der Reihe nach aus ihrer Fassung und zählten sie dabei in verschiedenen Sprachen ab, bis es im Saal dunkel war; dann zogen sie aus vier Kassettenrekordern langsam die Bänder durch den Raum, so dass leise Klänge und Songs mehr ahn- als erkennbar wurden. Lisa Streich gab mit der Installation „Laster für alle“ den Besuchern die Möglichkeit, die zarten mechanisch-repetierten Klänge von über den Saiten eines Flügels rotierenden Kunststoffstreifen durch Tasten, Pedale und Motorgeschwindigkeit zu modifizieren. Bei der Uraufführung von Streichs „Laster“ filterte Pianistin Claudia Chan sanfte Akkorde aus dem leisen Klirren des motorisierten Soloklaviers. Die Streicher des WDR Sinfonieorchesters unter Leitung von Michael Wendeberg rahmten die spinnwebfeinen Töne bei minimaler Bogengeschwindigkeit mit hauchdünnen Akkorden. Im kontrastierenden Mittelteil spielte die Solistin dagegen wild auf- und abfahrende Arpeggien, die jedoch konsequent von lautstarken Tutti-Akkorden verdeckt wurden. Die sichtbare Virtuosen­attitüde blieb folglich nahezu ebenso unhörbar wie die anschließend wiederkehrenden zarten Filterklänge. Umso direkter entfaltete dagegen Sarah Maria Sun ihre Vokalakrobatik in Mikel Urquizas „Alfabet“ und Sara Glojnaric´s „Artefacts“ mit schnellen Artikulations-, Register-, Farb- und Charakterwechseln in teils bizarren Dialogen mit Marco Blaauw, Carl Rosman und Dirk Rothbrust vom Ensemble Musikfabrik.

Als „Spielernatur“ angekündigt war der diesjährige Porträtkomponist Ondřej Adámek. Das ihm gewidmete Gesprächskonzert eröffnete der 1979 geborene tschechische Komponist mit einer kleinen Performance: Zur Bühne gehend schüttelte er ein geräuschvoll rasselndes Schächtelchen. Nachdem er es auf einem Tisch abgesetzt hatte, entnahm er daraus wie einer russischen Matrjoschka vier wei­tere Döschen unterschiedlicher Größe, die durch Herumschieben, Hochnehmen und Hineinwerfen kleiner Plättchen entsprechend unterschiedlich höhere oder tiefere Klänge bewirkten. Durch Umschütten der Plättchen von einem Gefäß ins andere gingen immer mehr Plättchen verloren, bis schließlich alle verkleckert waren und die Becherchen stumm wurden: eine in sich stimmige Miniatur, spielerisch, konzeptuell, formal zwingend und selbsterklärend. Bei anderen Werken ergaben sich Material, Verlauf und Aussage weniger schlüssig auseinander. Adámeks zwischen 2009 und 2011 im Zuge eines Stipendienaufenthalts in Kyoto entstandene „japanische“ Stücke folgen eher Analogiebildungen. In „Chamber Noîse“ imitieren Violoncello und Kontrabass die artifiziellen Sprach-, Intonations- und Dynamikverläufe des traditionellen No¯-Theaters mit extremen Vibrati, wimmernden Glissandi, abrupten Zäsuren und harten Schlägen. „Imademo“ basiert auf einer dialogischen Anlage zwischen vokalen und instrumentalen Artikula­tionsweisen sowie per Keyboard zugespielten Samples. Die Musik ist pulsierend, affektiv, sprechend, unterhaltend, wirkt aber auch etwas beliebig.

Unverbindlich erschien vor allem Adámeks vom WDR Sinfonieorchester uraufgeführtes „Man Time Stone Time“. Wie in Werken von Aperghis oder Sciarrino bilden hier Sprache und Musik ein Drittes. Drei Sängerinnen und ein Sänger des vom Komponisten 2018 in Frankreich gegründeten Vokalensembles Neseven agieren mit Steinen, Stöcken und Schwingrohren. Im Gespräch mit Martina Seeber erklärte der Komponist die von den Vokalisten verlangten performativen Erweiterungen damit, dass Sänger oft nicht wüss­ten, wohin mit den Händen. Nur lakonisch gemeint, benennt dieser Hinweis dennoch treffend Adámeks Eklektopragmatismus: Homo ludens nimmt sich, was ihm gefällt. Bei obligatem Viervierteltakt dominieren agile Beats und eingängige Patterns. Während des fast halbstündigen Oratoriums wird viel hantiert, interagiert sowie Text- und Silbenmaterial artikuliert. Doch die verschiedenen Bedeutungen von Steinen als Musik- und Mordin­strumente, Baumaterial oder Sinnbild für Natur, Schönheit und Unvergänglichkeit erschließen sich kaum. Ebenso unklar bleiben zu Anfang Hammerschläge auf ein Objekt, das unter einem Tuch verborgen ist und ganz am Schluss als zerbrochene Buddha-Statue aufgedeckt wird. Kunst braucht nicht eindeutig zu sein, doch zu große Vieldeutigkeit und Undeutlichkeit tut auch nicht gut. Erschwerend hinzu kamen die unterschiedlichen Gesangsfähigkeiten der teils mehr wegen ihrer performativen anstatt stimmlichen Qualitäten ausgewählten Solisten.

Erfreulich war die Präsenz mehrheitlich junger Komponisten, darunter zehn Komponistinnen und etliche Witten-Debütanten. Hinsichtlich Material, Verlauf und Hörerlebnis blieben etliche Arbeiten jedoch blass, moderat, unprofiliert. Auffallend viele Stücke neigten zu Statik und unbekümmerter Formlosigkeit. Ann Cleares „The Physics of Fog, Swirling“ verschleierte die Instrumentalpalette des Ensemblekollektivs Berlin zu einem nebelhaften Aquarell aus zu viel Wasser und Farben. Francesca Verunelli versenkte in „Flowers #3 (Dripping)“ das Quatuor Diotima in fein leuchtende Obertonspektren. Clara Iannotta überlagerte in „Moult“ das flächig behandelte Instrumentarium mit wechselnden Geräuschkulissen von gestrichenen Styroporplatten, knarzenden Waldteufeln, durch die Luft geschwungenen Schwirrsaiten und elektronischen Zuspielungen. Erst die Lektüre des Programmhefts offenbarte, dass diese Überformungen wie Häutungen von Insekten und Schlangen gemeint waren, dem Orchesterklang aber keine Gelegenheit gaben, über sich hinauszuwachsen. Irene Galindo Quero kombinierte in „rain washes off all other colors“ diskrete Schlag- und Reibeklänge auf Trommelfellen mit sanften Tast- und Blasaktionen auf Mikrophonen sowie kaum identifizierbaren Lautsprecherzuspielungen von Musik- und Naturklängen. Mark Barden knipste in seinen „Monoliths VI–XV Delta“ mehrere exemplarische Klangstrukturen der Reihe nach an und exakt zwei Minuten später wieder aus. Die im Raum verteilten Instrumentalisten schufen abwechselnd leise Klangflächen, aggressive Ostinati oder weiche Arpeggien. Einmal gesetzt, wurden die Texturen nicht weiter modifiziert. Harte Repetitionen von Klavier und Woodblocks füllten die Aula der Blote-Vogel-Schule komplett mit Schall, so dass sich weder Klangbewegungen im Raum einstellten noch die vom Komponisten intendierten Phantommelodien.

Künstlerischer Leiter des Wittener Festivals ist seit dreißig Jahren Harry Vogt. Sein langsam dem Ende sich zuneigendes Wirken als WDR-Redakteur weckt Bedürfnisse nach Dokumentation und Bilanzierung. Mit Frank Hilberg brachte er 2018 den Band „Kammermusik der Gegenwart“ heraus, eine Auswahl von Essays, die seit 1990 in den Wittener Programmheften zu verschiedenen Aspekten von Kammermusik erschienen waren, zu Gattungen, Zeit, Raum, Elektronik, Stim­me, Szene, Komponisten, Interpreten, Hörern. Ebenfalls im Wolke Verlag edierte Vogt nun mit Rainer Peters den Band „Querschnitt“, eine Sammlung von Kurzporträts zu „111 Werken aus 50 Jahren Wittener Tage für neue Kammermusik“. Zwar gab es in Witten Kammer­musiktage schon seit 1936, doch wurden diese von der Stadt erst ab 1969 gemeinsam mit dem Westdeutschen Rundfunk veranstaltet. Während der zurückliegenden fünfzig Jahre gelangten 1040 Werke zur Aufführung, darunter 806 Ur- und 202 deutsche Erstaufführungen. Den Anfang in der Chronik macht Günther Beckers Blechbläserquintett mit Tonband „Scanning“ von 1969, den Abschluss markiert Gordon Kampes „Fat-Finger error“ von 2018. Ziel der 320 Seiten umfassenden Publikation ist keine „Best of“-Liste der erfolgreichsten Werke internatio­nal bekannter Komponisten. Stattdessen sollten möglichst viele Gattungen, Formen, Stile und Sparten repräsentiert sein: Solo, Duo, Trio, Quartett, Ensemble, Kammerorchester, Kammeroper, Kammerchor, Kantate, Lied, Monodram, Madrigal, Elektronik, Klangkunst, Outdoor, Multimedia, Performance, Improvisation, Jazz, Pop, Globale Musik. Die 111 Kommentartexte von je zwei Buchseiten Umfang stammen von vierundzwanzig Autorinnen und Autoren. Kurz und bündig skizziert werden Machart, Neuartigkeit und Wirkungsgeschichte der Werke sowie deren Resonanz in Tages- und Fachpresse. Abgerundet wird das Buch durch ein Namens- und Werkregister, etliche Schwarzweiß-Fotos in mäßiger Qualität – Notenbeispiele gibt es leider keine – sowie als Ergänzung der bereits 2009 erschienenen Witten-Dokumentation „Kam­merton der Gegenwart“ eine Auflistung sämtlicher nachfolgenden Festivalprogramme bis 2018.