MusikTexte 162 – August 2019, 103–104

Delikatessen und andere Märchen

Das Kölner Festival Acht Brücken mit Georges Aperghis

von Rainer Nonnenmann

Acht Brücken ist inzwischen wirklich zu einem Festival der „Musik von heute“ geworden. Neben einunddreißig Uraufführungen und etlichen Folge­auffüh­run­gen andernorts stattgefundener Premieren von Enno Poppe, Manos Tsangaris, Brigitta Muntendorf, Carola Bauckholt und Georg Friedrich Haas gab es auch Konzerte mit Jazz, improvisierter und globaler Musik. Symphonien von Bruckner und Rachmaninow blieben die einzigen Ausrutscher ins klassisch-romantische Repertoire.

Bemerkenswert war vor allem das umfassende Porträt des diesjährigen Festivalkomponisten Georges Aperghis. Der 1945 in Athen geborene und seit 1963 in Paris lebende Komponist war mit achtzehn Werken vertreten. Seine theatralen Miniaturen und multimedialen Arbeiten, für die er als Erneuerer des Musiktheaters gefeiert wird, waren gegenüber herkömmlichen Konzertstücken jedoch in der Minderzahl. Von seinen (Straßen-)Theaterprojekten, die er für die von ihm 1976 gegründete Gruppe „Atelier Théâtre et Musique“ (ATEM) konzipiert hat, gab es bedauerlicherweise keine einzige, dabei hätten gerade diese gut zur Verankerung des Festivalthemas „GroßstadtPolyphonie“ inmitten der Großstadt gepasst. Immerhin ließ WDR-Redakteur Harry Vogt in der Reihe „Musik der Zeit“ zwei sprachlich-gestisch-mimische Solostücke mit dem WDR Sinfonieorchester abwechseln. Mit „Le corps à corps“ von 1978 und „Graffitis“ von 1980 demonstrierte Schlagzeuger Christian Dierstein, wie Aperghis Sprachlaute instrumental und Instrumente sprachhaft behandelt. Am Ende von „Graffitis“ schlägt der Perkussionist zu schnell gesprochene Silben im selben Rhythmus nach Instrumenten, doch ohne diese zu treffen. So verbinden sich stumme Gesten mit perkussiven Lauten.

Weniger Eindruck hinterließen Aper­ghis’ jüngere Ensemblewerke „Teeter-Totter“ (2007) und „Seesaw“ (2008) – in der Überakustik der Trinitatiskirche deplaziert – sowie das Oratorium „Die Hamletmaschine“ (1999/2000) nach Heiner Müller und die „Études“ für Orchester (2012–2014). Die Stücke bestätigten, dass die künstlerische Potenz des Komponisten vor allem in kleinen Besetzungen und musiktheatralischen Arbeiten liegt, während großbesetzte Kollektive den beredten Artikulationskurven ihre individuelle Expressivität und Charakteristik nehmen.

„Machinations“ von 2000 ist Aperghis’ erste Auseinandersetzung mit den medialen Prothesen des Menschen. Anstelle des Originals für vier Frauen, die voneinander abgekapselt, maschinell und automatenhaft agieren, wurde eine Fassung für vier Paare präsentiert. Diese hantierten mit Objekten und Videokamera gemeinschaftlich, normal expressiv, mensch­lich sprechend und singend, was die zentrale Idee des Stücks verfehlt. Schließlich geht es um die me­diale Vermittlung und Manipulation sämtlicher Kommunikation durch Reproduktionstechnologien. Alles Handeln, Sprechen, Hören und Sehen wird durch Mikrophone, Lautsprecher, Kameras, Bildschirme verformt, bis am Ende ein Computer die letzten humanen Regungen substituiert.

Mit klarem Konzept und spannender Verlaufsform faszinierte Aperghis’ Konzert für Akkordeon und Orchester. Das Akkordeon ist Teil eines Urgrunds aus wispernden Orchesterakkorden, die an den mysteriösen Choralsatz von Charles Ives „The Unanswered Question“ erinnern. Zugleich tritt der Solist immer wieder mit zarten Melodien und grellen Mixturklängen hervor, die konzertierende Dia­loge mit der großen Konzertorgel sowie mit einzelnen Stimmgruppen und vollem Tutti provozieren. Als Uraufführung war Aperghis’ Ensemblestück „Lost Connections“ zu erleben. Es begann mit einem Ragtime-ähnlichen Klaviersolo, das vom Nieuw Ensemble unter Leitung von Ed Spanjaard wie im Stimmengewirr eines Caféhauses lokalisiert wurde. In der dichten Polyphonie versteht man zunächst gar nichts, doch dann wird mal hier ein Dialog, mal dort ein Monolog herausgefiltert: Gitarre und Mandoline zirpen ein verliebtes Duett, die hysterische Flöte faucht eine exaltierte Tirade, Holzbläser und Streicher keifen sich an oder wettern gemeinsam gegen den Rest. Am Schluss spielen alle Instrumentalisten, als hätten sie plötzlich mehrere Flaschen Wein intus. Das laute, hektische Plappern weicht behäbigem Lallen und Schwanken. Am Rande des Verstummens werden nun die wirklich wichtigen Dinge des Lebens verhandelt. Das Publikum hängt den Instrumentalisten an den Lippen, ist gebannt, ganz Auge und Ohr, und versteht endlich: Musik!

Wie in den letzten Jahren gab es am Mai-Feiertag unter dem Titel „Freihafen“ wieder Konzerte zu freiem Eintritt, was viel Publikum in Philharmonie und WDR-Sendesaal lockte, das sich sonst eher wenig für neue Musik interessiert. Das ist prima! Frei zugänglich waren auch Straßenumzüge der Youth Brass Band NRW und Travel Music unter Leitung von Martin Schädlich mit temporeichen Polkas und scheppernden Märschen sowie die Uraufführung von Gerhard Stäblers „Hör·Flecken“ in der U-Bahn-Station Heumarkt. Verweilend oder umherwandelnd erlebte jeder Besucher oder zufällige Fahrgast aus anderer Perspektive das zum Festivalmotto „GroßstadtPolyphonie“ passende zweistündige multiple Ereignis. Die Akustik der kathedralenartigen Hallen erwies sich jedoch infolge großflächig verbauter Dämmstoffe als so trocken, dass die Klänge der auf zwei Etagen verteilten Sänger, Solisten und Ensembles schnell verebbten, statt sich wechselseitig zu durchdringen. Eine ganz eigene Energie pumpten die Trillerpfeifen, Schreie und groovigen Repetitionen von Stäblers neuer Orchesterfassung seiner Hommage „Den Müllfahrern von San Francisco“ von 1990 in die Kölner Philharmonie. Während der Fahrt auf einem Ausflugsschiff erklangen gleich acht neue instrumentale und elektronische Stücke. Das urbane Panorama beiderseits des Rheins sorgte für eine Kontrapunktik von gesehener Stadt, gehörter Musik und Geräuschkulisse des ungewöhnlichen Orts.

Seit 2012 veranstaltet Roman Pfeiffer seine Raum-Licht-Klang-Bewegungs-Reihe „Kammerelektronik“. Während im Club Domhof Züge das Gewölbe erschütterten, spielten Musiker mit E-Gitarre, Synthesizer und Schlagzeug coole Riffs und Loops wie bei einer Kreuzung aus Krautrock und Brian-Eno-Ambiente zu motorisierten Instrumenten und zwei Vortänzerinnen. Der Acht-Brücken-Kompositionswettbewerb hatte aus lediglich zehn Einsendungen drei Stücke zur Aufführung durch das junge Ensemble electronic ID ausgewählt. Den ersten, zweiten und dritten Preis erhielten Philipp Krebs, Benjamin Grau und Pablo Garretón Izquierdo.

Nach längerer Zeit wurde in Köln wieder einmal ein Stationentheater von Manos Tsangaris aufgeführt. Seine 2016 erstmals in Hongkong gezeigten „City Pieces“ leiten der Reihe nach Gruppen von sechs Besuchern in verschiedene Räume, wo sicht- und hörbare Ereignisse sich mit zuvor Gesehenem und Gehörtem sowie Ereignissen der nachfolgenden Stationen überlagern. In der Mitte des ersten Raums hört das Publikum zunächst nur, was es bei der anschließenden Wiederholung für das nächste nachrückende Kleinpublikum aus der hintersten Ecke desselben Raums auch sieht. Analytisch zerlegte Sinne, Materialien und Medien werden sukzessive kombiniert und verständlich oder überformen sich mit draußen vor den großen Schaufenstern erscheinenden Taxis, Passanten, Obdachlosen, Liebespaaren. Die Umwelt wird zu einem Schauplatz, der die Aufmerksamkeit auf Dinge lenkt, die sich in ihrer Alltäglichkeit der Wahrnehmung sonst entziehen. Vor einem Kiosk mit hunderten Spirituosen wird man endlich selber Teil der Straße beziehungsweise Szenerie. Man ist sowohl Beobachter als auch Beobachteter. Tsangaris’ poetische Verschaltungen unterschiedlicher Ereignissen und Sinne in Raum und Zeit sind in ihrer ganzen Vielschichtigkeit nur umständlich beschreibbar, umso klarer und eindrücklicher aber vor Ort erlebbar.

Zwar setzt sich das Festival von Jahr zu Jahr Themen, liefert dann aber halbherzig Diverses. Zum Motto „GroßstadtPolyphonie“ schwärmten etliche Konzerte aus, in Clubs, Kirchen, Kulturbunker, Lagerstätte, Ladenlokal, Schiff, Abenteuerhalle, U-Bahnhof. Doch manche Projekte entpuppten sich schlicht als Exporte des konventionellen Konzertformats, die wenig mit den Gegebenheiten von Architektur, Volumen, Akustik, Funktion, Ambiente und Sozialstruktur der Orte zu tun hatten und nichts mit den Bedingungen urbaner Lebenswirklichkeit, mit Gentrifizierung, Wohnungsknappheit, Durch­öko­nomisierung, Mietwucher, Zuwanderung, Obdachlosigkeit, Ver­kehrsinfarkt, E-Mobilität, Lärm, Dreck, Feinstaub …

Von Acht Brücken gehen keine Impulse und Kontroversen aus. Es gibt keinen kritischen Diskurs, weder über Musik, Festival, Formate, Dispositive, Medien noch über aktuelle Zeitfragen. Man muss es nicht wie die Berliner MaerzMusik machen, wo es mehr Panels, Lectures, Discussions, Readingsessions und Exhibitions gibt als Musik, die marginalisiert, mit sozialen Themen überfrachtet und als eigenständiges ästhetisches Erfahrungsmedium nicht mehr ernstgenommen wird. Doch Setzungen wie „GroßstadtPolyphonie“ verlangen mehr Umsicht, Brisanz und Ambition. Stattdessen begnügt man sich selbstzufrieden mit der Funktion als Dienstleister „Musik für Köln“, als ob es in dieser Stadt nicht schon genug Musik gäbe. Man veranstaltet Konzerte, die auch gefallen, riskiert aber nichts. Valerie Weber, Hörfunkdirektorin des als Kulturpartner beteiligten WDR, verglich das Festival, in dem Erlesenes, Seltenes, Abseitiges geboten werde, mit einem „Delikatessengeschäft“. Und die Kulturdezernentin der Stadt Köln – maßgeblicher Finanzier neben WDR, Land NRW, Stiftungen und Unternehmen –, Susanne Laugwitz-Aulbach, verwechselte die Veranstaltung mit einer „Märchenstunde“. Diese aus Unkenntnis gespeisten Sichtweisen waren zwar völlig unangemessen, trafen fatalerweise aber dennoch ins Schwarze.

Tatsächlich eckt das Festival nicht an, regt nicht auf, reibt sich nicht, spießt keine lokalen oder globalen Miseren auf, benennt keine Schuldigen, sucht mit niemandem Streit. Unterm Strich gähnt antikünstlerische Harmlosigkeit, läh­men­de Perspektivlosigkeit, tönender Stillstand. Als finanziell, personell und werbetechnisch am besten ausgestattetes Musikfestival der Millionenstadt könnte Acht Brücken eine ganz andere strukturelle, öffentlichkeitswirksame und kulturpolitische Rolle spielen. Daher ist frei nach Cato dem Älteren darauf zu pochen: cete­rum censeo Colonia develop est!