MusikTexte 162 – August 2019, 3

Ein Motor der Moderne

Editorial zum Themenschwerpunkt Streichquartett

von Rainer Nonnenmann

Es gibt gute Gründe, Streichquartette zu komponieren, und ebenso gute, es zu lassen. Jeder mag es halten, wie sie oder er will. Wer sich jedoch entschließt, ein Streichquartett zu schreiben, gerät unweigerlich in den Bann dieser traditionellen Gattung, die eine klare Positionierung verlangt. Schließlich sind in der Musik aller guten Dinge vier. Vier Stimmen bilden die Grundfeste der europäischen Vokal- und Instrumentalmusik und damit zugleich ein Symbol alles Irdischen und der „musica mun­dana“. Vier Stimmen sind die elementarste Voraussetzung für stabile Dreiklänge mit Grundton, Terz, Quinte und Grundtonwiederholung in der Oktave. Vier Stimmen erlauben vielfältige Kombinationen von Ober-, Mittel- und Untersatz, von Soli, Duetten, Trios und solistisch besetztem Tutti. Erste und zweite Geige, Bratsche und Violoncello repräsentieren den Tonumfang der menschlichen Stimmregister Sopran, Alt, Tenor und Bass. Nachdem Haydn und Boccherini um 1760 den barocken Generalbass, Choral- und Fugensatz auf die Besetzung mit zwei Geigen, Bratsche und Violoncello übertragen und auch den drei-, dann viersätzigen Sonatenzyklus etabliert hatten, entwickelte sich das Streichquartett durch Mozart und Beethoven zu einem besonderen musikalischen Diskursraum und einer der ambitioniertesten Gattungen der Instrumentalmusik.

All das ist bekannt und oft beschrieben worden. Doch gibt es immer wieder exzeptionelle Werke, gerade auch in der jüngeren und jüngsten Gattungsgeschichte, die es zu entdecken und einzuordnen gilt. Die einheitliche Spieltechnik und Klanglichkeit der viermal vier Saiten reizt Komponistinnen und Komponisten nach wie vor zu struktureller Arbeit, musikalischer Spekulation und formalem Experiment. Diente die Gattung zunächst überwiegend dem kommunikativen Miteinander in adeligen Salons oder bürgerlichen Kammern, avancierte sie bei Beethoven zum kompositorischen Laboratorium und dank des Schuppanzigh-Quartetts zu einem öffentlichen Konzertereignis. Als vermeintlich konservatives Bestandsstück der bürgerlichen Musiktradition diente die kammermusikalische Königsdisziplin in Wirklichkeit immer wieder als treibender Motor der Moderne, während des neunzehnten Jahrhunderts ebenso wie in der Frühphase der neuen Musik. Auch für den Zeitraum nach 1960 diagnostizierte Klaus Hinrich Stahmer 1980 „eine neue Blütezeit des Quartetts“ und Joachim Brügge beobachtete 2003 einen regelrechten „Boom“ des Streichquartettschaffens. Zahlreiche Quartette bezeugen noch heute die unverminderte Lebendigkeit dieses von manchen als verstaubt und vorgestrig verschrienen Vierzylinders, der läuft und läuft und läuft.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg auf radikalen Neuanfang setzende Avantgarde wollte mit allen Bindungen an Tonalität, Musiksprachlichkeit, traditionelle Satztechniken und Formen brechen. Jede Komposition sollte nach Möglichkeit eine nur ihr eigene, unverwechselbare Individualität und für sie selbst gültige neue Gattung kreieren. Das Streichquartett mit seiner langen Geschichte und klar kodifizierten Besetzung erschien demgegenüber museal. Nur in wenigen Ausnahmewerken von ­Pierre Boulez, John Cage und Luciano Berio erschien es noch als ausgezeichnetes Reflexionsmedium und Experimentierfeld. Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen und Dieter Schnebel schrieben ihre ersten – im Fall von Stockhausen und Nono auch einzigen – Streichquartette erst Jahrzehnte später. Dem Ideal des schönen, innigen, seelenvollen Klangs setzten die Sechzigerjahre eine demonstrativ andere Welt erstickter, perforierter, forcierter Press-, Schlag-, Schab- und Kratzgeräusche entgegen. Von schockierender Andersartigkeit waren insbesondere Krzysztof Pendereckis perkussives erstes Streichquartett von 1960, Michael von Biels zweites Streichquartett von 1963 und etwas später Helmut Lachenmanns „Gran Torso“ aus den Jahren 1971 und 1972. György Ligeti knüpfte dagegen in seinem zweiten Quartett von 1968 wieder direkt an die Gattungstradition an.

Im Quartettschaffen der jüngsten Dekaden sind alle möglichen Richtungen, Ästhetiken, Stilistiken und Techniken vertreten. Es gibt sowohl luzide als auch immersive Arbeiten, radikale Erweiterungen der Spielpraktiken, traditionsbewusste Rückbesinnungen, Ausweitungen durch Zusatzinstrumente, Sprache, Gesang, Szene, Licht, Elektronik, Video, Computer, neuartige Skordaturen, Intonationssysteme, Mikrointervalle und Raumkonzepte, sowie Vervielfachungen zu Doppel-, Tripel- und Quadrupelquartetten. Das zweite Streichquartett (1983) von Morton Feldman sprengt mit fast fünf Stunden Dauer die übliche Dimensionierung, Aufführungs- und Rezeptionspraxis. Das Rad wurde mehrfach zerschlagen und wieder neu erfunden. Inzwischen wurde und wird alles gemacht. Vollständigkeit bei der Betrachtung des Quartettschaffens nach 2000 ist daher unmöglich. Die hier veröffentlichten Beiträge über Streichquartette von Jörg Mainka, Malte Giesen, Chiyoko Szlavnics, Alberto Posadas, Jennifer Walshe und Georg Friedrich Haas, denen im nächsten Heft weitere Texte von Chiyoko Szlavnics und Marc Sabat über eigene Quartette sowie Michael Winter über James Tenneys „Arbor Vitae“ folgen werden, werfen allen­falls Schlaglichter auf das Quartettschaffen, dessen Diversität ein abschließender Beitrag zu systematisieren versucht.