MusikTexte 163 – November 2019, 93

Beckmesser’s Choice

Ausgewählte Scheiben neuer Musik

von Max Nyffeler

Naivität zweiten Grades

Allerliebste Volkstänze aus deutschen Provinzen klingen aus dem Lautsprecher, aber anders als gewohnt: Sie erscheinen in glitzernden Flageoletts, Tonika und Dominante werden simultan übereinandergelegt, die Melodien sind in Kurzmotive zerlegt, die wie im Kaleidoskop durch­ein­andergeschüttelt werden. Etwas Koboldhaftes haftet diesen Miniaturen an – Versatzstücke einer ländlichen Musik, die durch eine Naivität zweiten Grades in funkelnde Kunstwerke verzaubert werden. Die „Ländler-Topographien“, all die Umarbeitungen von fränkischen Tänzen, Fi­gu­rentänzen und Zwiefachen sind Teile des Großprojekts „Lokale Musik“ von Walter Zimmermann aus den Jahren 1977–1981, das nun, ergänzt durch einige Stücke, die sich vom Ausgangsmodell weg in abstraktere Sphären bewegen, erstmals voll­­ständig auf drei CDs vorliegt. Zimmermann beweist, dass man auch mit diesem reduzierten, semantisch festgelegten Material auf prickelnde Weise Neues schaffen kann. Als Vorbild dienten wohl die orchestralen „Quartets“ von John Cage, in denen mit Chorälen amerikanischer Siedler ähnlich verfahren wird. In den Siebzigerjahren brauchte es einen gewissen Mut, ein solches Gegenmodell zu einer urban domestizierten Avantgarde­welt in die Welt zu setzen; der Vorwurf des Re­aktionären – heute würde man sagen des „Populismus“ – war da schnell zur Hand. Zum Glück hat Zimmermann diesen Mut gehabt. Die neue Musik wäre sonst um eine hochgradig originelle Schöpfung ärmer (drei CDs, Mode Records, 2019).

Bilderreiche Computersprache

In „Le temps, mode d’emploi“ zeigt Phi­lippe Manoury einmal mehr Mut zur großen Form. Er kann es sich leisten, denn von den Computerkomponisten ist er einer der versiertesten und weiß, wie man konzeptionelles Denken in spannendes Klanggeschehen verwandelt. Hänger gibt es im fast einstündigen Stück nicht. Die Live-Elektronik vervielfältigt die Klänge des Klavierduos GrauSchumacher zum vierkanaligen Raumgeschehen, und dank einer überlegten formalen Dramaturgie entsteht nie der Eindruck eines selbstgenügsamen elektronischen Gefuchtels – eine Seltenheit in einer Zeit, da der kompositorische Verstand gerne auch mal an die Maschine delegiert wird. Die scharf herausgearbeiteten Charaktere der acht Teile evozieren einen großen Bilderreichtum. Sie sind zwischen Gewittersturm und meditativer Ruhe, der Ausweitung in virtuelle Räume und konfliktuösem Gehacke angesiedelt, altvertraute Glockenklanggemische, rasende Bewegungabläufe à la Nancarrow, quasi-orchestrale Schichtungen und virtuose Pianistik lösen sich ab. Dazwischen tun sich historische Assoziationsfelder von Liszt bis Ravel auf. Als Folie im Hintergrund steht Stockhausens noch mit analoger Technik produziertes Duo „Mantra“, von dem sich Manourys Stück aber durch seine Vitalität und die vom technischen Fortschritt ermöglichte Vielfalt an klanglichen Möglichkeiten abhebt (CD, Neos, 2019).

Revolutionäre Klänge

Zum fünfzigjährigen Gedenken an die Achtundsechziger-Bewegung geriet vor einem Jahr auch ein Stück wieder ins Blickfeld, das den damaligen Turbulenzen zum Opfer gefallen war: „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze. Es galt immer nur als das Werk, dessen Hamburger Uraufführung wegen Studentenrabatz und Polizeieinsatz abgebrochen werden musste. Die Skandalstory überschattete die musikalische Rezeption. Im letzten Jahr wurde es wieder ausgegraben, und nun wurden endlich auch seine musikalischen Qualitäten entdeckt. Die Stuttgarter Aufführung mit dem SWR Symphonieorchester und Vokalensemble, dem Chor des WDR und die Freiburger Domsingknaben unter der Leitung von Peter Eötvös zeichnet sich durch vorbildliche aufnahmetechnische Klarheit aus. Die mächtig aufgetürmten Chorsätze und die üppige Farbigkeit des Orchesters kommen ebenso zu ihrem Recht wie die geschärfte Diktion, die Henze diesem politischen Oratorium angedeihen ließ. Der Theatermann Peter Stein als Erzähler lässt etwas vom freundlich-reflektierenden Tonfall des späten Eisler anklingen, was heute den Hörer vermutlich mehr anspricht als die aggressive Klassenkampfrhetorik von anno dazumal. Das Jahr ’68 ist inzwischen in weite Ferne gerückt, aber der revolutionäre Geist dieses monumentalen Freskos hat den Zahn der Zeit erstaunlich gut überlebt (SWR Classic, 2019).

Opernroutine

Oper auf CD ist immer ein Wagnis. Wenn die Szene nicht vorhanden ist, muss die Musik das Werk tragen können. Doch nicht jeder ist ein Monteverdi. Realistische kompositorische Effekte wie Geheul und Gestammel der Protagonisten und illustrative Instrumentalgeräusche mö­gen unter dramaturgischen Aspekten sinnvoll sein, bleiben aber auf CD nichtssagend. Die Aufzeichnung von Pascal Dusapins Oper „Penthesilea“ mit einem Libretto, das der Komponist zusammen mit Beate Haeckl nach Kleists Vorlage verfasst hat, ist in diese Falle getappt. Was Solisten, Chor und Orchester des Théâtre de la Monnaie unter Frank Ollu mit gewohnter Professionalität aufführen, funktioniert vielleicht auf der Bühne, aber für das reine Hören klingt vieles einfach zu dünn. Die Zeit verläuft gedehnt wie in der Götterdämmerung und schleppt sich in breit ausgesungenen Monologen und Dialogen dahin. Auch Opernklischees werden ausgepackt: Erschütterung wird mit tremolierender Stimme oder mit der üblichen Spitzentonhysterie ausgedrückt, häufig unterlegt von lange gehaltenen Klängen, was immerhin dafür sorgt, dass die Stimmen immer schön obenauf bleiben. Auch wenn es dazwischen einigen Schlachtenlärm gibt und im Schlussmonolog der Penthesilea mächtig aufgedreht wird: Zurück bleibt der Höreindruck einer routiniert zubereiteten Bühnenmusik. Mehr nicht. Auf DVD wäre die Wirkung vielleicht eine andere gewesen (zwei CDs, Cypres, 2019).

Ein klinischer Fall

Wolfgang Rihm hat in dieser Hinsicht mehr Glück gehabt mit der DVD-Aufzeichnung seiner Kammeroper „Lenz“ aus dem Théâtre La Monnaie in Brüssel. Die Inszenierung durch Andrea Breth zeigt den hilflos seiner Krankheit ausgelieferten Dichter als hoffnungslos klinischen Fall, der mal durch eine düstere Landschaft taumelt, mal aus einer sargähnlichen Kiste heraus sein Elend in eine Welt hinausschreit, die ihn verständnislos beobachtet. Georg Nigl macht aus der Figur, der subjektiver Ausdruck zur verzerrten Geste gerät, eine Glanzrolle und bringt die ver-rückte Weltsicht facettenreich zur Darstellung. Der 1978 vollendete Einakter steht beispielhaft für Rihms expressionistische Phase der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre – ein Plädoyer für das sich selbst und der Welt entfremdete Individuum, das an der wohlmeinenden gesellschaftlichen Vernunft zugrunde geht (DVD, alpha classics, 2019).