MusikTexte 163 – November 2019, 23–25

Amphiferenz und animistischer Twist

SELBSTlaut: Denkende Dinge

von Steffen Krebber

Das Institut für elektronische Musik in Graz, Gerriet K. Sharma und die Firma sonible haben den IKO entwickelt, einen Lautsprecher in Ikosaederform, der Schallstrahlen – sogenannte Beams – in jede Richtung des Raums schicken kann.1 Im Gegensatz zu den herkömmlichen Surround- und Stereosystemen, die mit einer Vielzahl von den Hörer umgebenden Lautsprechern eine Illusion von Raum und Bewegung schaffen, die auf eine fixe Position des Hörers angewiesen ist und den Raum, in dem die Lautsprecher performen, marginalisiert, geht der IKO mit dem Raum, in dem er steht, gewissermaßen eine Komplizenschaft ein. Denn die Beams werden hauptsächlich über die Reflexionen der Begrenzungen des Raums hörbar, so dass Schallquellen hinter ihnen entstehen und der Raum durch die nun hörbare Materialität seiner Grenzen erweitert wird. Der Raum wird mit Strömungen und Verwirbelungen gefüllt, die je nach Posi­tion oder Weg des Hörers variieren. Gleichzeitig bleibt das Erleben zwischen den Hörern kommunizierbar. Diese Entwicklung im Bereich der Audiosysteme ist ein produktives Bild für grundlegende wissenschaftliche und ästhetische Veränderungen, die in den letzten Jahren gefordert und zum Teil schon begonnen wurden. Die alten Systeme erscheinen dabei als die lange Geschichte von Objektivismus, Strukturalismus und Poststrukturalismus. Sie sind in strikter Trennung von Subjekt (Hörer) und Objekt (zu kontrollierender Klang) auf Wiederholbarkeit unabhängig vom Raum ausgerichtet.2 Der IKO wird auf die neuen wissenschaftstheoretischen Strömungen „agential realism“ und „neoanimism“ projiziert, die versuchen, die Welt ohne Subjekt-Objekt-Bifurkation zu denken und die verschiedenen Abhängigkeiten, Gemische und Gemengelagen unter den vermeintlich abgegrenzten Entitäten neu zu betrachten und darzustellen.3 Darüber, wie diese Art zu denken für Musik und Klang produktiv sein könnte, möchte ich im Folgenden nachdenken.

Der allegorische Raum des IKO kann soziologisch, ökologisch, physikalisch, musikhistorisch und auf viele andere Arten gelesen werden. Die Musik, der Klang selbst, agiert und denkt in diesem gesellschaftlichen Raum in verschränkten Zuständen mit Komponierenden, Hörenden, Orten, historischen Modellen und anderen Agenten. Die menschlichen, nicht menschlichen und zum Teil menschlichen Agenten sind oft „Compounds“, also Verbindungen aus Zusammenarbeiten von Menschen und ihren Umgebungen, die in vielfältiger Weise in die Vergangenheit reichen.

Diese Verschränkungen sind allgegenwärtig, doch von sprachlich angelegten Unterscheidungen zwischen Menschen, Dingen, Umgebungen und Abläufen verdeckt, und eine objektivistische Weltsicht säubert mit dem Werkzeug Kritik alle Vermischungen mit einer spezifischen Vorstellung von Reinlichkeit.4 Wir sind in jeder Hinsicht gemischt und vermischt mit unserer Umgebung, mit Prothesen, Werkzeugen und Instrumenten, bei Zusammenarbeiten in der Produktion und Verteilung von Lebensmitteln, Kleidern, Geräten, Musik, Daten, bei Verhaltensmustern, kulturellen Settings und Beziehungen. Ich betrachte nun diese sprachlichen Unterscheidungen auch im Musikdiskurs, um zu anderen Möglichkeiten des Denkens zu gelangen. Jede Epoche hat eine populäre Allegorie, um Gesellschaft und Menschen zu beschreiben, die meist aus neuesten technologischen Entwicklungen stammen.5 Im Moment sind es Informatik, Algorithmen und Computernetzwerke, die ihren Namen aus einer noch älteren Welt des Webens6 ziehen. Zu diesem Bild gehören die Begriffe Referenz und System, etymologisch eine Programmierung, die im Verborgenen liegt und erkannt werden muss oder kann. Das System getrennt von den Akteuren und verborgen hinter dem jeweiligen Ereignishorizont einer linearen geistigen Entwicklungsstufe zu sehen, begründet eine Trennung von Subjekten und Objekten. Referenz trennt in gleicher Weise in einen aktiven und passiven Teil und bringt einen linearen Zeitbegriff mit sich, der meines Erachtens unproduktiv ist. Insofern sind das Begriffe des Strukturalismus. Wie Michel Serres treffend schreibt, sind jedoch alle Gemische, alle Gemengelagen, alle Umstände, alle Umgebungen „polychron, multitemporal, zeigen eine mehrfach gefaltete und gefältelte Zeit“.7 Die wechselseitigen Beziehungen und die Eigenaktivitäten der „Compounds“ im Besonderen werden sprachlich nicht mitgedacht. Dasselbe Problem tritt beim oft diskursiv gebrauchten Begriff „Kontext“ auf. Dieser suggeriert einen Hauptakteur, der etwas Passives aufruft. Das gleiche gilt für den Begriff „Material“. Der ebenfalls oft gebrauchte diskursive Begriff „Gehalt“ bringt ein binäres, oppositionelles und im etymologischen Sinne des Auseinanderschneidens kritisches Denken mit sich, das – zumindest allegorisch – einer agentiellen, unkritischen Denkweise im Wege steht. Hier steckt die Subjekt-Objekt-Bifurka­tion in der Sprache. Kunst wird durch solche sprachliche Rezeption zum Ding des Denkens, sie könnte und darf in einem agentiellen Sinn zum denkenden Ding werden.8 Um diese Probleme zu umgehen, führe ich hier den – zugegebenermaßen etwas nerdigen – Begriff „Amphiferenz“ ein, also gegenseitiges, ineinanderfließendes Aufrufen. Etymologisch von „amphi“ und „ferre“, etwas in Umgebung und Beziehung bringen. Mindestens zwei Akteure rufen ihre jeweiligen Überschneidungen und Vermischungen auf und verändern sich so gegenseitig. Wenn man so will, gleichzeitig klingend und resonierend. Die verwobenen Akteure sind kein System und nicht in einem System, sondern ähneln Strömungen und Gerüchen. Insofern ist das Bild einer Atmosphäre passender. Zeitalter der Gerüche? Des Hauchs? Des Atems? Oder umfassender und mit dem Bild der Atmosphäre eng verbunden: Zeitalter der Lebensräume? In diesem Sinn definiert Isabell Stengers mit Whitehead einen Organismus, der auch als Akteur gelesen werden kann:

For Whitehead the ethos of an organism, its specific grasping together of aspects of its environment, cannot be dissociated from its ecology, that is from the way other organisms prehend and grasp together aspects of this organism, including the way they are themselves prehended and grasped by it. Each organism thus depends on what Whitehead calls the “patience of the environment” . . . Whitehead uses the beautiful word “infection” to describe the etho-ecological regime of reciprocal prehensions.9
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Eben diese „reciprocal prehensions“ bezeichnen Amphiferenz. Gegenseitige Auffassung. Wechselseitiges Ver­ständnis. Gemeinsames Begreifen? Wie Klänge Aspekte ihrer Umwelt auf spezifische Weise aufgreifen, zusammenfassen, begreifen und von ihnen infiziert sind, kann nicht getrennt werden von der ebenso spezifischen Weise wie sie selbst aufgegriffen werden und ihre Umwelt infizieren.

Alle Akteure reichen somit retroaktiv in die Vergangenheit der zu ihrer Existenz notwendigen Zusammenarbeiten, ändern diese und werden von ihr geändert. Dieses Zusammenarbeiten mit den „Compounds“ von Zusammenarbeiten aus der Vergangenheit reicht bis zum Anfang der Geschichte. Die Akteure sind also kommunizierende Zeitreisende einer gefältelten Zeit. So „intra­agiert“10 zum Beispiel die Aufnahme eines Ereignisses in ihrem Environment mit der Aufnahme eines anderen Ereignisses, infiziert sie und wird von ihr infiziert. Oder anders gesagt, intraagieren die Ereignisse und ihre Erfahrbarkeiten, sozialen Verortungen, Materialitäten, tech­nischen Voraussetzungen schlichtweg alles, was in Kollaboration mit einem Menschen zu Information wird.

Was bedeutet es, beim Vorbereiten der Kommunika­tionssituation von Konzert, Ausstellung, Performance oder was auch immer, diese Vermischungen, Durchdringungen, Gemengelagen und vor allem Eigenaktivitäten mitzudenken?

Ich stelle mir vor, es wird eine Musik geben,
die denken darf.

Ich stelle mir vor, es wird eine Musik geben,
die denkender Vermischer ist.

Ich stelle mir vor, es wird eine Musik geben,
die nicht objektivierbar ist.

Komponisten und Komponistinnen machen dann keine Musik ,mit‘ Musik oder ,über‘ Musik, sondern intraagieren ,in‘ Musik. Musik ist in einer agentiellen Denkart untrennbar verbunden mit ihrem Lebensraum. Zusammen mit dem der aktuellen Gesellschaft angemessenen, erweiterten Kommunikations- und Sprachbegriff, der auf alles Verfügbare ausgeweitet ist und so Medium als Begriff obsolet macht, öffnen sich mögliche Definitionen von Musik. Sie kann, wie oben beschrieben, soziologisch, si­tu­ativ, ökonomisch, theaterspezifisch, physikalisch, musik­historisch und auf viele andere Arten „gelesen“ werden und so je andere Akteure zur Zusammenarbeit mit der Komponistin ins Zentrum des Denkens rücken. Diese Möglichkeit des Arbeitens an einem bestimmten Phänomen rückt Musik näher an die Wissenschaften heran. Das Bewusstsein, dass eine Kunst etwas an dem je spezifisch bearbeiteten Lebensraum verändern will, um Erkenntnis zu gewinnen, und dass man immer die Intraaktion mit dem Forscher/Künstler mit untersucht, ist auch im „agential realism“ vorhanden und rückt diesen so graduell näher an Kunst. Wenn man so will, gibt es hier eine Amphiferenz zwischen Kunst und Wissenschaften. Um wissenschaftlich arbeiten zu können, muss das, was früher als Zitat, Fremdmaterial oder transdisziplinär bezeichnet wurde, selbstverständlicher Teil eines Zusammenarbeitsfelds sein. Dem entgegen steht die subjektkapitalistische Monetarisierung, insbesondere von Musik. Politische Vorschläge dazu habe ich an anderer Stelle ausgeführt.11

Wenn man die Eigenaktivitäten, Beziehungen und Abhängigkeiten der Akteure bewusst mitdenkt, werden diese in Zusammenarbeit mit der Komponistin in nachvollziehbarer Weise verändert, um einen Erkenntnisgewinn zu erreichen. Das heißt, die Eigenaktivitäten werden durch eine hergestellte Intraaktivität je in Teilen voneinander wirksam. Das entspricht allegorisch einem Faltungs­filter, der die spektrale Schnittmenge zweier Signale bildet. Dazu ist ein klares Bewusstsein für die Beschaffenheit eben dieser Eigenaktivitäten und der Amphiferenzen notwendig, die es zu kommunizieren gilt.

... different material-discursive practices produce different material configurings of the world, different difference/diffraction patterns; they do not merely produce different descriptions [...] agency [...] [is] bound up with issues of responsibility and accountability. Accountability must be thought of in terms of what matters and what is excluded from mattering.12

Die von Barad angeführte gesellschaftliche Verantwortung ist durch die Öffnung zu den Wissenschaften von ihrer avantgardistischen, antihedonistischen Note befreit, da aktuelle Stücke bestimmte Phänomene – auch in Bezug auf eigene Erfahrungen – untersuchen und bearbeiten dürfen, ohne sich stellvertretend für das Bürgertum um eine kritische Haltung zu bemühen. Gerade diese kritische Haltung ist ja, wie oben angedeutet, ein Symptom des Objektivismus und Strukturalismus. In „neoanimism“ und „agential realism“ liegt der Fokus der kompositorischen Arbeit auf der Entwicklung, Erfindung von grenzauflösenden, überraschenden, abenteuerlichen mu­sikalisch-diskursiven Praktiken in unkritischer Zusammenarbeit mit den gesellschaftlichen Agenten und Compounds. Dabei spielt die Art, wie die Komponistin Kon­trolle über die Akteure ausübt, eine entscheidende Rolle: Im agentiellen Sinn dürfen die Akteure selbst agieren und werden nicht – wie zum Beispiel in einer serialistisch ordnenden Weise – dem Willen des Komponisten untergeordnet. Es wird ihnen sozusagen allegorische Luft gelassen. Eine geschlossene Membran erzeugt Oberflächlichkeit. Eine massive Manipulation ist dann produktiv, wenn es Grenzen eines bestimmten Phänomens oder Compounds aufzeigt.

From the exploration of what we are commited to by the refusal to make nature bifurcate between percepts [...] and a reality that is essentially spatio-temporal and functional [...] to the exploration of what is required by the way we relate to experience.13

Stengers vermutet in dieser eleganten Formulierung die Richtung dieser neoanimistischen Entwicklung hin zu einer Erforschung dessen, was die Art, wie wir unser Erleben erzählen, erfordert, oder anders übersetzt, die Erkundung dessen, was die Weise, wie wir uns auf unsere Erfahrung beziehen, bedarf. Anstatt der allseits verkündeten Turns in Wissenschaft und Ästhetik schlage ich in diesem Sinn einen „animistischen Twist“ der Musikästhetik als Beschreibung des Geschehens vor.

In politischer Hinsicht fordert dieser Twist hierarchiearme und transparente Strukturen im Betrieb und einen Fokus auf die gemeinschaftliche Zusammenarbeit von Personen und Institutionen. Die Allegorien von der Entwicklung von einem Netzwerk zu einem Lebensraum mit einem gestaltenden Bewusstsein für die wechselseitigen Bedürfnisse und Abhängigkeiten kommen hier quasi auf sich selbst zu liegen. Von Netzwerken und den damit verbundenen anarcho-kapitalistischen Strukturen mit der Abwälzung von Risiken auf die Subjekte zu einer intelligenten, transparenten, fairen Gestaltung der „Atmosphäre“ innerhalb der Gemeinschaft zu gelangen, ist eine Aufgabe, die es umzusetzen gilt.

Hier einige Vorschläge:

1.Förderer fördern „freie“ Projekte nach Möglichkeit ganz. Die Verschiebung von Arbeit auf Freischaffende, um den eigenen Namen auf mehr Projekte zu schreiben, sollte vermieden werden.

2.Es gibt eine Tabelle mit einem Rahmen für die Bezahlung von Interpreten, Komponistinnen, Organisatoren, Kuratorinnen, Technikern unter und über dieser eine öffentliche Förderung nicht gewährt werden darf. Die Bezahlung orientiert sich am öffentlichen Dienst.

3.Fest angestellte Personen mit Kuratoren-Aufgaben sollten im jährlichen Turnus zwei Drittel ihrer Entscheidungen an Interpretinnen und Komponisten ohne feste Stelle abgeben und ein Verfahren für die Auswahl derselben einführen.

1Ursprünglich wurde der IKO 2006 von Franz Zotter am Grazer Institut für Elektronische Musik und Akustik entwickelt, um die Abstrahlcharakteristik von Instrumenten holophonisch nachzubilden. In Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Forscher Gerriet K. Sharma wurde er als musikalisches Instrument über viele Jahre weiterentwickelt und 2015 von ehemaligen Studenten des IEM mit der von ihnen gegründeten Firma sonible technisch zur „Reife“ gebracht.

2Die offensichtliche Objektivierung der Musik im Serialismus der Fünfziger- und Sechzigerjahre, die mit einer extremen Subjektivierung der Menschen einherging, zieht sich prominent bis ins neue Jahrtausend.

3„In an agential realist account of techno scientific practices, the knower does not stand in a relation of absolute externality to the natural world – there is no such exterior observational point. The condition of possibility for objectivity is therefore not absolute exteriority but agential separability-exteriority within phenomena“ (Karen Barad, Meeting the Universe Half­way. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham, NC: Duke University Press, 2007, 184).

4Vergleiche Bruno Latour (1991), Wir sind nie modern ­gewesen, Frankfurt: Suhrkamp, 2008.

5Zum Beispiel wird im achtzehnten Jahrhundert die Sprache der Telegraphie benutzt, um das Arbeiten der Nerven zu beschreiben (Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Hamburg: H. Goverts, 1938). Im
späten zwanzigsten Jahrhundert werden viele Menschen­bilder mit dem Computer „belichtet“.

6Fäden und Knoten vernebeln sicher auch einen Teil der ­momentanen Situation.

7Michel Serres, Aufklärungen. Gespräche mit Bruno Latour, Berlin: Merve, 2008, 92.

8Helmut Lachenmann spricht 2008 davon, dass Musik „zum Gegenstand des Nachdenkens werden muss“ („Wir müssen ans musikalische Material gehen“, Interview mit dem Komponisten Helmut Lachenmann auf www.bpb.de). Das Setting von Musik als Gegenstand und Extrem einer Objektivierung wird vom subjektivierten Nachdenken nicht berührt.

9Isabell Stengers, Whitehead and the Laws of Nature, Salzburger Theologische Zeitschrift 3, 1999, 193–206, zitiert nach: Michael Bell, Culture and Performance. The Challenge of Ethics, Politics and Feminist Theory, London: Bloomsbury, 2007, 113–114.

10Karen Barad, siehe Fußnote 3, 207.

11Vergleiche Steffen Krebber, Streitschrift für das Zitatrecht, in: karlheinz 6, Köln: ON – Neue Musik Köln, Mai – August 2017, 8–9, siehe auch https://steffenkrebber.de/text/

12Karen Barad, siehe Fußnote 3, 184.

13Isabell Stengers, Thinking with Whitehead. A Free and Wild Creation of Concepts, Cambridge: Harvard University Press, 2011, 41.