MusikTexte 163 – November 2019, 3–6

Dynamik mit Dynamit

Das Drama des freien Musiktheaters

von Rainer Nonnenmann

In der Musikszene ist etwas ins Rutschen geraten. Seit Jahren verändern sich Ästhetiken, Ensembles, Spielstätten, Festivals, Finanzierungsmodelle, Produktions- und Präsentationsweisen. Neue Akteure, Veranstaltungen und Orte kommen und gehen. Das war schon immer so. Doch gegenwärtig wandeln sich die gesellschaftlichen, institutionellen, ökonomischen und medialen Rahmenbedingungen derart rapide und tiefgreifend, dass viele von einer „Krise der Institutionen“ oder gar vom „Kultur­infarkt“ sprechen. Digitalisierung und Internet beschleunigen die Enthierarchisierung des erweiterten Kulturbegriffs, so dass mittlerweile kaum mehr zwischen Hoch- und Subkultur, Kunst, Pop und Lifestyle unterschieden wird. Werden aber alle Sparten, Szenen und Lebensbereiche gleichwertig behandelt, erodieren Platz und Aufmerksamkeit für den einst enger gefassten Bereich der Kunstmusik. Und während Produktionsetats von Sendeanstalten und Festivals sinken, muss gleichzeitig immer mehr Geld für Werbung, Pressearbeit, Vermittlungs- und Edukationsprojekte respektive Audience Development aufgewendet werden. Steigender Finanz- und Quotendruck erhöht wiederum den Erfolgs- und Rechtfertigungsdruck von Veranstaltern gegenüber Sponsoren und Kulturpolitik. Angst vor dem Scheitern vermindert schließlich Risiko­bereitschaft und lässt auf Erprobtes und Bekanntes setzen. Das geht endlich auf Kosten von jungen Talenten, unbewährten Experimenten und außergewöhnlichen Pro­jekten, so dass ausgerechnet das Lebenselixier der neuen Musik zu vertrocknen droht. Wohin man also blickt, ein fataler Strudel. Doch dem steht zugleich ein unglaublicher Reichtum gegenüber. Und genau wegen dieser Diskrepanz hat es in Berlin jetzt BAM! gemacht.

Alternatives Musiktheater

Berliner Musikschaffende gründeten 2015 den Verein „Zeitgenössisches Musiktheater Berlin“. Zu den inzwischen knapp einhundert Mitgliedern des ZMB gehören neben vielen Einzelpersonen auch mehrere Ensembles und Performance-Kollektive: DieOrdnungderDinge, KNM Berlin, Mosaik, GAMUT INC, Hauen und Stechen, Maulwerker, Nico and the Navigators, Novoflot, Opera Lab Berlin, Kaleidoskop und andere mehr. 2018 veranstaltete der Verein erstmalig BAM!, das Berliner Festival für aktuelles Musiktheater. Die zweite Ausgabe 2019 kooperierte nun mit der Volksbühne Berlin sowie dem Festival Operadagen Rotterdam. Siehe hierzu den Festivalbericht in diesem Heft. Künftig soll das Festival – von den Veranstaltern englisch BÄM! gesprochen – als Biennale in wechselndem Turnus mit der Münchener Biennale für neues Musiktheater stattfinden und jeweils andere internationale Kooperationen anstreben, um die Berliner Szene mit anderen Veranstaltern zu vernetzen. Bezeichnend für Verein und Festival ist, dass beide kein ästhetisches Programm verfolgen. Verbindend ist allein die kollektive Organisationsstruktur, Interdisziplinarität und Freiberuflichkeit der Akteure sowie das gemeinsame Ziel, neben den bereits existierenden Berliner Zusammenschlüssen von neuer Musik, Tanz und Performing Arts – für welche der Berliner Senat spezielle Förderinstrumente bereithält – eine eigene kulturpolitische Plattform, Öffentlichkeit und Förderstruktur zu schaffen. Wer in Berlin oder anderen deutschen Städten beim kommunalen Kulturamt Förderanträge stellt, fällt meist zwischen die Stühle von Musik- und Theaterreferat, weil sich weder das eine noch das andere zuständig sieht und die Kommune ja ohnehin schon sehr, sehr viel Geld in das reiche Erbe von deutscher Kleinstaaterei und Föderalismus steckt: das städtische Theater und Opernhaus.

Institutionelle Nichtzuständigkeit war und ist vielerorts ein zentrales Motiv für die Entstehung freier Ensembles und Musiktheatergruppen, die ein anderes Musiktheater möchten, als es die Räume, Abläufe, Aufführungspraktiken, Personalstrukturen, Diskurse und Narrative der etablierten Stadt- und Staatstheater erlauben. Die seit den Zweitausenderjahren insbesondere von der jungen und jüngsten Musiker- und Komponistengeneration verfolgten interdisziplinären und multimedialen Projekte kombinieren Vokales, Instrumentales und Elektronisches mit primär nicht-musikalischen Gestaltungsmitteln, mit Text, Tanz, Raum, Licht, Film, Video, Objekten, Handlung, Szene. Schlagworte wie „Neuer Konzeptualismus“, „Diesseitigkeit“, „New Discipline“ oder „Social Composing“ markieren aktuelle Bestrebungen zur Auflösung konventioneller Arbeitsteilungen, Gattungen, Stil- und Spartengrenzen zugunsten alternativer Formen von Präsenz, Performativität, Interkulturalität, Textua­lität, Theatralität und Medialität. In Abgrenzung oder bewusster Fortsetzung von Ansätzen aus den Sechzigerjahren – Experimental Music, Neo-Dada, Fluxus, Happening, Concept Art, Situationismus und dem Modell des Composer-Performers – bedienen sich diese Strömungen unterschiedlicher Materialien und Medien. Schauplätze dieses wahlweise „neuen“, „alternativen“, „zeitgenössischen“, „experimentellen“ oder „aktuellen“ Musiktheaters sind fast immer Spielstätten der freien Szene. Hier erhalten Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Disziplinen die Gelegenheit, abseits des traditionellen Dispositivs Oper neue Formen der Produk­tion, Präsentation und Rezeption zu erproben. Das doppelte Adelsprädikat „von und zu“ ist jedoch äußerst zwiespältig: Die Gruppierungen sind frei zu Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Mo­bilität, Flexibilität, Experiment und Innovation, aber auch frei von institutionellen Sicherheiten und Förderungen.

Harte Fakten

Entsprechend der pluralen Gesellschaft gibt es eine ebenso vielstimmig ausdifferenzierte Musiklandschaft mit großen öffentlichen Institutionen und unterschiedlichen kleineren privatwirtschaftlichen Initiativen, Vereinen, Veranstaltern, Ensembles, Spielstätten, Verlagen und Labels. Die bestehenden Förderstrukturen und Fördermittel tragen diesem Umstand jedoch bisher so gut wie keine Rechnung. Gegenwärtig fließen in Deutschland immer noch fünfundneunzig Prozent der von Kommunen, Ländern und Bund aufgewendeten öffentlichen Mittel für Musik an städtische oder staatliche Veranstalter. Das führt im Klartext zu einem monopolistisch geschlossenen Kreislauf: Städte finanzieren städtische, Bundesländer staatliche Einrichtungen. Ist das nicht ein Fall für das Kartellamt? Lediglich fünf Prozent der öffentlichen Zuwendungen für Musik gehen an private, freiberufliche Initiativen. Dieses eklatante Missverhältnis erscheint noch krasser, wenn man bedenkt, dass es immer mehr Freiberufler gibt. In den Achtzigerjahren waren noch siebzig Prozent aller Musikerinnen und Musiker fest angestellt und nur dreißig Prozent selbständig tätig. Inzwischen hat sich dieses Verhältnis nicht nur komplett umgekehrt, sondern klafft immer weiter auseinander.

Diese dynamisch fortschreitende Diskrepanz birgt Dynamit von ungleich größerer Sprengkraft als das revoluzzerhafter Tönen von Pierre Boulez, der 1967 in seinem legendären SPIEGEL-Interview angesichts der schon damals diskutierten Opernkrise als „teuerste, aber eleganteste Lösung“ empfahl: „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“ Denn hinter den nackten Zahlen stehen Schicksale, prekäre Lebensverhältnisse und selbstausbeuterische Ich-AGs. Zusätzlichen Zündstoff liefert auch diese Statistik: Im Jahr 1991 waren bei der deutschen Künstlersozialkasse im Bereich Musik 11.994 Versicherte gemeldet, 2007 waren es schon 42.198 und 2018 bereits 53.436, Tendenz steigend. Der hier zu Tage tretende Handlungsbedarf ist schreiend. Geredet wird hierüber jedoch meist bloß im Stillen, denn die Solidarität unter allen Musikschaffenden – freiberuflich, angestellt oder verbeamtet – soll nicht aufgekündigt und einer unschönen Neiddebatte geopfert werden. Doch es gibt noch weitere erdrückende Zahlen: Beim Musikfond der Kulturstiftung des Bundes sind seit deren Bestehen 2017 Anträge im Volumen von 32, 4 Millionen Euro eingegangen. Mit dem verfügbaren Etat konnten jedoch nur Projekte im Umfang von 4,6 Millionen gefördert werden. Der effektive Förderbedarf ist also siebenmal größer. Im Schnitt gehen folglich sechs von sieben Antragstellern leer aus. Wie soll das auf Dauer funktionieren? Kulturpolitiker, Kulturverwaltungen, Kulturräte, Interessen- und Dachverbände diskutieren zwar schon seit Langem mit schicken Anglizismen über „New Public Governance“, Förderungen von „Communities“ und ortstypischen „Compounds“ oder Formen des „Empowerments“ nicht-staatlicher und nicht-kommunaler Akteure. Doch verändert haben die Verantwortlichen das System der öffentlichen Musikförderung samt all seiner institutionell und gewerkschaftlich organisierten Ressourcensicherung bisher wenig bis gar nicht. Dabei waren es oft gerade freie Akteure, die das Musikleben seit dem neunzehnten Jahrhundert und insbesondere seit den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts mit neuen Impulsen bereichert haben. Ohne sie wären die neue Musik, die Alte Musik in historischer Aufführungspraxis, der Jazz und die Improvisierte Musik undenkbar. Wollte man also auch heute in die Zukunft von Kunst und Kultur investieren, so wäre das Geld bei freien Akteuren – das lehrt die Historie – vermutlich besser angelegt als bei den überwiegend Repertoire und Tradition pflegenden städtischen und staatlichen Instituten.

Das krasse Missverhältnis zwischen der Vergabe öffentlicher Mittel an städtische Musikinstitutionen beziehungsweise die freie Musikszene zeigen allein schon die laufenden Betriebskosten einer einzigen Oper. Je nach Größe des Hauses belaufen sich diese pro Jahr schnell auf zwanzig bis vierzig Millionen Euro. Und in Deutschland gibt es rund achtzig Stadt- und Staatstheater. Allein Berlin verfügt über drei Opernhäuser. Hinzu kommen vielerorts teure Bauvorhaben, mit denen Kommunen sich auf Jahrzehnte verschulden. Die Sanierung und akustische Ertüchtigung der Berliner Staatsoper Unter den Linden belief sich beispielsweise auf satte vierhundert Millionen Euro. Die endlose Generalsanierung des Kölner Opern- und Schauspielhauses wird sich – sollte sie jemals abgeschlossen werden – samt aller Kosten für Machbarkeitsstudien, Zinsen sowie Miete und Umbau der von 2012 bis voraussichtlich 2023 benötigten Ausweichquartiere auf schätzungsweise 841 Millionen Euro belaufen. In Worten: achthunderteinundvierzig Millionen! Ist das nicht Wahnsinn? Darüber hinaus wird der laufende städtische Betriebskostenzuschuss für die Kölner Bühnen auf rund sechzig Millionen Euro jährlich anwachsen. Demgegenüber kann das Musikreferat des Kölner Kulturamts für freie Träger gerade einmal 1, 3 Millionen Euro im Jahr ausgeben. Diese wenigen schlagenden Beispiele lassen die von Kommunen, Ländern und Bund für die freie Musikszene bereitgestellten Mittel allesamt als das erscheinen, was sie sind: kaum mehr als alibihafte Scherz- und Schmerzmittel, mit denen tausende Musikerinnen und Musiker mehr schlecht als recht ihr Leben fristen.

Ländervergleich

Das BAM!-Festival beleuchtete mit dem kleinen Sympo­sion „Mapping Music Theatre“ die Eigenarten der Musikszenen in Berlin, Belgien und den Niederlanden. Im Zentrum von vier Vorträgen und einer Diskussionsrunde mit Ensemblevertretern und Kuratoren standen die strukturellen Rahmen- und Förderbedingungen der jeweiligen Musiktheaterszenen. In Deutschland stehen sich die Stadt- und Staatstheater mit der freien Musikszene berührungslos wie Paralleluniversen gegenüber. Experimentelle Musiktheaterformen entwickeln sich hier fast ausschließlich außerhalb der großen Häuser, die zwar über hochprofessionell arbeitende Ensembles, Orchester und Angestellte verfügen, zweifellos auch tolle Arbeit leisten und hervorragendes Musiktheater präsentieren, deren feste Zuständigkeitsbereiche, starre Routinen, unflexible Hierarchien und klar geregelte Zeit- und tarifgebundene Arbeitspläne aber den von freien Musiktheaterschaffenden intendierten Produktions- und Prä­senta­tionsweisen oft im Wege stehen. Ausnahmen bestätigen die Regel, wie etwa die am Theater Bielefeld mit Hilfe des damaligen Dramaturgen Roland Quitt realisierten rund dreißig Uraufführungen. Die Theater in Holland und Belgien sind dagegen auf Produktionen und Ensembles von außerhalb angewiesen: schlicht, weil sie überhaupt nicht über eigene Ensembles verfügen. Aktuelles Musiktheater entsteht hier nicht in Opposition zu Stadt- und Staatstheatern, sondern in der Regel mit Hilfe von deren Werkstätten, Techniken, Bühnen, Ticketverkäufen, Presse- und Marketingabteilungen. Unerörtert ließ das Berliner Symposion leider die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Produktionsbedingungen auf die künstlerischen Ergebnisse. Ausgeklammert blieben auch ästhetische, soziale und politische Gesichtspunkte des zeitgenössischen Musiktheaterschaffens dies- und jenseits traditioneller Häuser und Gattungen.

In Deutschland wird Kultur vor allem von den Kommunen und Ländern getragen, erst seit rund zehn Jahren verstärkt auch von der Kulturstiftung des Bundes. In Belgien und Holland – wie auch in Frankreich – gibt es dagegen nationale Förderprogramme. Der Vizedirektor des niederländischen Performing Arts Fund, Dennis Stam, schilderte die Arbeit seiner Institution, bei der Ensem­bles und Einzelpersonen der Bereiche Theater, Musik, Tanz und Musiktheater vierjährige Strukturförderungen beantragen können. Da sich immer alle Akteure neu bewerben müssen und durchschnittlich zwanzig bis dreißig Prozent des gegenwärtig vierzig Millionen Euro umfassenden Etats – vormals waren es noch sechzig Millionen – an neue Antragsteller vergeben werden, ist das niederländische Fördersystem besonders offen und durchlässig für junge Initiativen, die es somit viel leichter haben, erstmalig eine längerfristige Förderung zu erhalten, um sich über die damit finanzierten Produktionen und Gastspiele bekannt zu machen. Kehrseite des Systems ist ein brutaler Wettbewerb mit jährlich stattfindenden Evaluationen, die neben künstlerischen Maßstäben auch merkantile Erfolgskriterien wie Aufführungs- und Publikumszahlen einschließen. Hinzu kommt die akute Existenzgefährdung von Ensembles, wenn sie aus der landesweit einzigen öffentlichen Förderung herausfallen. Der aus Belgien stammende Leiter der seit 2004 bestehenden Operadagen Rotterdam, Guy Coolen, berichtete, dass die Belgische Regierung bereits 1993 einen radikalen Schnitt vollzog, als sie sämtliche Mittel für die nationalen Theater und Opernhäuser strich, um traditionell gewachsene Privilegien abzuschaffen und alle Einrichtungen zu evaluieren, so dass durch eine Neuverteilung der Finanzmittel auch freiberufliche Initiativen die Chance einer kontinuierlichen Förderung erhielten. Das nationale Fördersystem hat in Belgien und Holland indes auch zur Folge, dass die heimischen Ensembles fast nur im Inland unterwegs sind und es kaum Gastspiele ausländischer Produktionen gibt. Als Folge davon gibt es keinen länderübergreifenden Austausch über aktuelle Entwicklungen. Genau dem will BAM! durch die Kooperation mit den Opera­dagen Rotterdam abhelfen.

Leuchtturm Berlin

Zur Eröffnung von BAM! stellte der künstlerische Leiter Roland Quitt pathetisch die Leuchtturmfunktion Berlins in Europa heraus, um sogleich lakonisch nachzuschieben, dass man in der Vergangenheit nur vergessen hätte, in diesem Leuchtturm auch das Licht anzuknipsen. Die Berliner Musiktheaterszene ist stilistisch und medial höchst divers sowie in viele Initiativen, Richtungen und Spielstätten zersplittert. Obwohl sie selbst international zusammengesetzt ist, mangelt es ihr an internationaler Vernetzung und Ausstrahlung über die Stadtgrenzen hinaus. BAM! möchte deswegen ein „Panorama dieses quirligen Bodens“ ins Rampenlicht stellen. Schauplätze des Festivals waren in diesem Jahr die kleinen freien Spielstätten Acker Stadt Palast, Ballhaus Ost und Sankt- Elisabeth-Kirche sowie vor allem die städtische Volks­bühne mit gleich vier Sälen verschiedenen Zuschnitts. Die Kooperation mit dem großen Schauspielhaus verdankte sich der bis 2021 dauernden Interimsintendanz von Klaus Dörr, der kurzfristig für den nach nur einer Spielzeit 2018 aus dem Amt geschiedenen Chris Dercon einsprang und daher nur unvollständig geplante Spielzeiten vorfand. Mit BAM! bündelt die Berliner freie Musiktheaterszene ihre Kräfte, um sich mit der Münchener ­Biennale und den Operadaagen Rotterdam zu messen. Ferner zu nennen wären das Taschenopernfestival Salzburg und das Stuttgarter Festival Eclat, das schon unter Leitung von Hans-Peter Jahn immer wieder neues Musiktheater präsentiert hat und dies unter Christine Fischer weiterhin tut. Auch mit diesen Festivals ließen sich Produktionen ge­meinsam realisieren und/oder austauschen. BAM! möchte ausländische Produktionen in die Hauptstadt holen und umgekehrt heimische Projekte auswärts vorstellen. Zur Programmjury der Festivalausgabe 2019 gehörte daher – neben Festivalleiter und Mitgliedern des Trägervereins – Guy Coolen. Er brachte drei niederländische Produktionen nach Berlin und wird im Gegenzug drei hiesige Arbeiten in sein Festival übernehmen.

Nordrhein-Westfalen und Köln

In Sachen freies Musiktheater sollte man auch nach Nordrhein-Westfalen und Köln blicken. Seit 2005 finanzieren hier NRW Kultursekretariat und Kunststiftung NRW gemeinsam den Fonds Experimentelles Musiktheater, der freiberuflichen Teams aus den Bereichen Komposition, Text, Regie, Bühnenbild und neue Medien die Möglichkeit bietet, im Verbund mit kommunalen Opernhäusern experimentelles Musiktheater zu realisieren. Den kooperierenden Bühnen werden auf diese Weise neue Projekte implementiert, welche die beteiligten Akteure idealerweise von Anfang an als gemeinsame Idee entwickeln. Bis 2018 wurden allerdings bloß vierzehn Produktionen in einem kleinen Kreis weniger Häuser uraufgeführt, da sich die meisten anderen Theater nicht für das Projekt interessierten. Mit umgerechnet lediglich einer Produktion pro Spielzeit entfaltete der „feXm“ keine Strahlkraft über die beteiligen Häuser hinaus, geschweige denn über die Landesgrenzen hinaus. Zur aktuellen Spielzeit 2019/20 startete der Fonds daher die neue Ini­tiative „NOperas!“, die erstmalig deutschlandweit drei Theaterhäuser finanziell in die Lage versetzt, gemeinsam ein experimentelles Musiktheaterprojekt zu realisieren. Als erste Produktion wird im Januar 2020 „Chaosmos – Eine Logistik-Oper“ von Marc Sinan, Tobias Rausch und Konrad Kästner an der Oper Wuppertal uraufgeführt und anschließend an der Oper Halle und am Theater Bremen gezeigt.

Neben Berlin existiert in Deutschland auch in Köln eine lebendige Musikszene. Allein im Bereich neue Musik gründeten sich hier in den letzten zehn Jahren zahlreiche junge Ensembles, die sich bevorzugt oder zumindest projektweise multimedialen, theatralen oder inszenierten Formen von Musik widmen: Ensemble Garage, Kammer­ensemble handwerk, Kammerelektronik, Kommas Ensemble, electronic ID, Ensemble Inverspace, Interstellar 227, Kollektiv3 : 6Koeln, Trio Abstract … Neben Interessenverbänden für neue, alte, elektronische und globale Musik sowie Jazz gab es seitens des Kulturamts der Stadt und des Netzwerks ON – Neue Musik Köln immer wieder auch Überlegungen zum Aufbau eines Zentrums für aktuelle Musik, für performative, intermediale oder darstellende Künste beziehungsweise eines Center for Time Based Arts. Bisher sind alle diese Ideen jedoch ergebnislos in Schubladen verschwunden. Auch das seit 2011 aus der Kölner Philharmonie heraus veranstaltete Festival Acht Brücken wird kaum als Schauplatz für musikthea­trale Arbeiten genutzt, auch nicht als Brückenkopf für die Musik- und Musiktheaterszenen der keine hundert Kilometer entfernten Nachbarländer Holland und Belgien, und das, obwohl der Intendant selbst Niederländer ist. Stattdessen formiert sich nun seit 2018 auf Initiative der Komponistin Christina C. Messner und der Theaterregisseurin Sandra Reitmayer in der Trägerschaft des Netzwerks ON – Neue Musik Köln ein wachsender Zusammenschluss von Einzelpersonen und Ensembles mit dem gemeinsamen Ziel eines Festivals, das die heterogene Kölner Musiktheaterszene mit anderen Kunstsparten zusammenbringt, geballt der Öffentlichkeit präsentiert und durch neue Auftragswerke sowie auswärtige Produktionen mit Akteuren aus anderen Städten und Ländern vernetzt. Mit auskömmlicher öffentlicher Förderung lässt sich so vielleicht dem einst von Bernd Alois Zimmermann, Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, York Höller, Manos Tsangaris, Carola Bauckholt, María de Alvear und vielen anderen begründeten Profil Kölns als einem internationalen Zentrum für interdisziplinäre Kunstformen neue Schärfe, Ausstrahlungs- und Anziehungskraft verleihen. Hoffen wir es!