MusikTexte 163 – November 2019, 77–78

Hinter der Musik verschwinden

Nachruf auf Erik Oña

von Caspar Johannes Walter

Ungefähr 1993 schrieben uns Freunde aus Buffalo, sie hätten einen phantastischen Komponisten, Musiker und Menschen kennengelernt: Erik Oña. Als wir ihn dann 1996 persönlich kennenlernten, bat Carola Bauckholt ihn gleich, eine CD-Aufnahme ihrer Kompositionen mit dem Thürmchen Ensemble zu dirigieren. Seine eigene Musik hat mich sofort begeistert, wir haben ihn sofort in den Thürmchen Verlag aufgenommen, und ich fand in ihm einen Freund, der mir geistesverwandt war und mit dem ich mich bis zuletzt über alles austauschen konnte. Er war begabt, klug und fähig im Übermaß und noch mehr: Gestützt durch seine fachliche und persönliche Kompetenz war er eine Instanz in ästhetischen und ethischen Fragen, eine Leitfigur für alle, die mit ihm gearbeitet haben. Vor allem hatte er sich der Förderung der jungen Komponisten- und Musikergeneration verschrieben.

Damals hat er zeitweise in drei Kontinenten gelebt, gelehrt und gearbeitet: in Buffalo, wo er als Kompositionslehrer an der Universität angestellt war, in Tokio am Kunitachi College of Music und in Köln als fester Dirigent des Thürmchen Ensembles, das damals sehr aktiv war. Erik hat immer gesagt, wie schön es als Gegengewicht zum Kompositionsunterricht sei, als Interpret auf der Bühne stehen zu können. Dabei ging es fast immer um Uraufführungen von jungen Komponistinnen und Komponisten.

Gemeinsam haben wir zu einem Ensemblegeist gefunden, der für solche Projekte ideal war: Jede Komposition ist wertvoll, hat musikalische Tiefe und Details, die herauszuarbeiten sich lohnen. Dieses Vertrauen in die Musik auch völlig unbekannter Komponisten gaben uns dieselben mit ihrem Vertrauen zurück: oft in mehrjährigen Zusammenarbeiten, gemeinsamem Wachsen, Experimentieren, Pflegen des geistigen Austauschs auch über die Musik hinaus. Oft sprachen wir über Literatur, Kunst, Mathematik, künstliche Intelligenz, aber auch über die tiefe Weisheit uralter Kulturen: Gedankliche Virtuosität faszinierte Erik. Als Spiritus rector inspirierte er alle.

In der Öffentlichkeit nahm er sich stets zurück, als wäre es ihm ein Bedürfnis, hinter der Musik, die er dirigierte, zu verschwinden. Dabei war es wunderbar, unter seiner Leitung zu spielen. Sein Gehör, sein Wissen, seine analytischen Fähigkeiten und sein Sinn für die musikalische Linie waren im Prozess der Einstudierung ebenso herausragend wie sein Dirigat selbst. Seine Zeichen waren völlig klar und gaben uns die Freiheit, auf unseren Instrumenten zu singen, so wie er uns oft vorgesungen hat, um uns zu zeigen, wie die Linien klingen könnten, egal ob sie aus Tönen oder Geräuschen bestehen. Seine Interpretationen gingen weit über das Organisieren von Rhythmus und Tonhöhen hinaus. Aus Detailtreue zu allen Parametern entwickelte er musikalische Botschaften.

In jener Zeit hat Erik mit dem Thürmchen-Ensemble Porträt-CDs von Karin Haußmann, María Cecilia Villanueva, Thomas Stiegler, Carola Bauckholt und mir aufgenommen. Wir konnten viele schöne Werke uraufführen, zum Beispiel von Jonty Harrison und Salvatore Sciarrino. Ein wichtiges thematisches Projekt bestand darin, die rhythmisch und metrisch so komplexe Musik des späten Mittelalters auf die Bühne zu bringen, einfach aus dem Grund, dass es diese Musik an der Grenze zum nicht mehr Vorstellbaren gab. Und da wir Künstler uns auch heute auf einem solchen Grenzland bewegen, interessiert es uns, die Vergangenheit mit heutigen Augen zu betrachten und wertzuschätzen. Erik selbst hat wunderbare Transkriptionen und Paraphrasen der Ars subtilior geschrieben, „La Saullt Perrilieux“ nach Galiot und einige Stücke von Senleches. Gleiches gilt für seine Mitarbeit am großen Lebensprojekt seiner Frau, der Pianistin und Musikwissenschaftlerin Helena Bugallo, die mit ihrer Duopartnerin Amy Williams dank Eriks Transkriptionen bewies, dass die von Conlon Nancarrow aus Not für ein mechanisches Klavier komponierte und wegen ihrer Komplexität als unaufführbar gehaltene Musik dennoch von Menschen gespielt werden kann.

So war auch seine eigene Musik. Immer suchte er eine Grenze und wollte für jedes Stück eine dessen spezifischer Idee gemäße eigene Kompositionstechnik entwickeln. Er wollte stets zwei Ebenen verbinden, die kompositionstechnische mit ihren Algorithmen – fast in der Art einer künstlichen Intelligenz – und die spirituelle, die in allen seinen Werken präsent ist. Erik hat uns oft und stundenlang wie ein guter Märchenerzähler mit den von ihm beschriebenen Zusammenhängen zwischen Tönen, mathematischen Mustern und physikalischen Phänomenen verzaubert. Auch wenn sich über die technische Ebene leicht und viel reden lässt, so war doch die spirituelle Seite diejenige, mit der er all die Jahre intensiv gerungen und der er letztlich den Vorrang vor der technischen Seite gegeben hat. In seinen Kompositionen tun sich beim genauen Hinsehen tiefe Abgründe auf, oft handeln sie von sehr kleinen Dingen oder vom Nichts. Auch als Komponist hat er sich wenig in der Öffentlichkeit gezeigt. Sein Werk von außerordentlicher musikalischer Sublimität, Tiefe, Aufrichtigkeit und Klangschönheit gilt es erst zu entdecken. Seine „Fünf Lieder“ für Mezzosopran und Violoncello scheinen auf den ersten Blick einfach, bringen aber in jedem Detail bis zur klangfarblichen Definition eines einzelnen Tons eine tiefgründige Ausdeutung der Texte von Emily Dickinson und Victor Hugo ans Licht. Sein ausgefeiltes Werk „Tiger und Patriarch“ lässt uns durch die Evidenz von Klang, Bewegung und Form staunend zurück.

Eine seiner besonderen Leidenschaften galt dem Film. Das Wissen über dessen Techniken, über jedes Einzelteil von Kameras und Objektiven samt ihrer Funk­tionen und Möglichkeiten, analog wie digital Illusionen zu erzeugen, hat ihn mehr und mehr fasziniert. Der wunderbare Film zu seinem Stück „Das Gold des Rheins“ war der Anfang eines neuen Arbeitsfelds, das ihn bis zuletzt beschäftigt hat. Erik konnte hier sein feines Gespür für die Wahrnehmung konstruierter Wirklichkeiten wunderbar zum Ausdruck bringen.

Über den Zeitraum von dreißig Jahren hat Erik Generationen von Komponistinnen und Komponisten ausgebildet. Nach seiner Zeit in Buffalo und Japan lehrte er seit 2001 in Birmingham und wurde 2003 als Kompositionslehrer und Leiter des Elektronischen Studios an die Musik Akademie Basel berufen. Ich hatte das Glück, ihn bei beiden Stationen hautnah zu erleben. 2002 holte er mich als Vertretung für das Sabbatical von Vic Hoyland nach Birmingham. Wir haben dort zusammen an einer Vision künstlerischer Pädagogik gearbeitet, die auf der Basis von Wissen und Verstehen auf die Praxis, auf das Tun und Hören gerichtet ist. Für mich war das der inspirierende Anfang meines eigenen Unterrichtens. Später bin ich ihm nach Basel gefolgt, wo wir als Kollegen sechs gemeinsame Jahre hatten. Erik hat seine ganze Kraft und sein großes Talent für die Sache des Unterrichtens gegeben. Zwischen den zwei ganz verschiedenen Polen des Programmierens im Kontext modernster Technologie und der instrumentalen Idee als klanglicher Manifestation zutiefst menschlicher Gedanken und Vorstellungen entwickelte er ein umfassendes Leitbild vom kompetent innovativen wie imaginativ verantwortungsvollen Künstler. Da ihm alle Äußerlichkeit zutiefst fremd war, stand er dem aktuellen Musikbetrieb mit seinem grellen, kommerziellen Gesicht und seinen wechselnden Moden stets skeptisch gegenüber. Weltweite Bestürzung und Trauer der vielen Menschen, die mit Erik arbeiten konnten, geben ein bewegendes Zeugnis seines Wirkens. Ich bin zuversichtlich, dass uns sein Vermächtnis noch lange erhalten bleibt.