MusikTexte 163 – November 2019, 80–81

Divers und kontrovers

Zum zweiten Mal BAM! – Berliner Festival für aktuelles Musiktheater

von Rainer Nonnenmann

Wie nennt man das Kind? Neu, zeitgenössisch, experimentell, alternativ, aktuell? Jenseits der traditionellen Oper und deren arbeitsteiliger Produktionsprozesse sind die Spielarten des Musiktheaters so divers, dass sie sich nicht unter einen Begriff bringen lassen, umso weniger, als sich die meisten Macherinnen und Macher herzlich wenig um definierbare Gattungen, Stil- und Spartenzuordnungen kümmern. Dennoch braucht es eine Bezeichnung, wenn viele verschiedene Akteure unter dem gemeinsamen Dach eines Vereins und Festivals größere Ausstrahlung und Öffentlichkeit erreichen möchten. Der 2015 von Berliner Musikschaffenden gegründete Verein „ZMB – Zeitgenössisches Musiktheater Berlin“ löst das Namensproblem salomonisch: Der e. V. nennt sich „zeitgenössisch“, das von ihm veranstaltete Festival aber „BAM! – Berliner Festival für aktuelle Musik“. Der primär temporale Begriff „aktuell“ schließt großzügig alle denkbaren Kombinationen von Klingendem mit Bühnenaktion ein: postdramatisches, konzeptuelles, popkulturelles, instrumentales, dekonstruktives, performatives … Musiktheater. Das Festival möchte die Vielfalt des freien Berliner Musiktheaters präsentieren und darüber hinaus kulturpolitische Anliegen verfolgen.

Nachdem sich BAM! 2018 auf mehrere Spielstätten verteilt hatte, konzentrierte sich die zweite Ausgabe unter der künstlerischen Gesamtleitung des Dramaturgen Roland Quitt – Vorstand von ZMB – auf verschiedene Säle und Foyers der Volksbühne sowie das Ballhaus Ost. Im Zuge einer Kooperation mit den Opera­dagen Rotterdam – wo alle Formen des Musiktheaters vorkommen, nur keine Opern – wurden drei niederländische Pro­duk­tionen gezeigt. Das junge Rotterdamer Musiktheaterkollektiv Club Gewalt erzählte in seiner Show „Man on Wire“ vom französischen Akrobaten Philippe Petit, dem es 1974 gelungen war, zwischen den 1971 vollendeten Twin Towers des New Yorker World Trade Center ein Drahtseil zu spannen, um darauf zu balancieren. In pastellfarbenen Pop-Outfits, Latex-Röckchen, Blusen und Sakkos traten die Akteure live auf, während sie gleichzeitig gefilmt und auf eine Video­leinwand projiziert wurden. Die Pop- und Techno-Nummern wurden dagegen über Lautsprecher zugespielt und als Playback imitiert. Am Ende gipfelte der Drahtseilakt in einer wummernden Rave-Party: laut, hip, unterhaltsam.

Ein dezent inszeniertes Konzert war „De Pornopera“ von Huba de Graaff. Die 1959 in Amsterdam geborene Komponistin ließ zwei Harfenistinnen mit weich auf und ab wallenden Arpeggien die belgische Schauspielerin Soetkin Demey begleiten. Diese beginnt sanft zu atmen, erst leise und flach, dann tiefer, schneller, körperlicher, schließlich zitternd, keuchend, hechelnd … Auch stimmliche Anteile kommen dazu, erst entspannt, wohlig, na­sal, dann offener, vokal, kehlig, gedehnt, schnurrend, pulsierend, lustvoll stöhnend und endlich begeistert-überwältigt aufjauchzend „Oooh my God?!“. Facetten der weiblichen Erotik vom zart tastenden Liebesspiel zum alles überwältigenden Orgasmus werden ebenso naturalistisch wie artistisch-artifiziell entfaltet und von brummenden Elektronikglissandi fortgesetzt, die in dumpfe Tiefenentspannung abrutschend gleichsam den Boden unter den Füßen wegziehen. De Graaff lässt nicht – wie sonst in Opern üblich – bloß verklärt von Liebe singen, sondern zeigt den konkreten Soundtrack der Sexualität, nicht peinlich oder pornographisch, sondern feinfühlig, mit Ruhe und Schönheit. Brutal und scheußlich wird es erst, als plötzlich ein Mann möglichst zügig – so der Werkkommentar – zur Ejakulation drängt, und zwar in Gestalt der zum finalen Höhepunkt sich steigernden Schlusscoda von Bruckners achter Sinfonie. Die Orchesterzuspielung wird bis zum lärmenden Düsentriebwerk verzerrt, so dass sich die bisher genussvolle Sexualität unter zehntausenden Pfer­destärken ins Mon­ströse verkehrt. Die Frau wird davon gleichsam überfahren und von schreiender Qual und Lust zerrissen. De Graaffs eindrückliches Plädoyer gegen männliche Quickies und für weiblichen Slow Sex unterschlägt dabei freilich, dass Bruckner bis zu seinem Höhepunkt ganze vier sinfonische Sätze von insgesamt mehr als achtzig Minuten braucht, während sie in ihrer „De Pornopera“ nur fünfzig benötigt.

Das in Berlin ansässige italienische Duo Derossi & Celestino demonstrierte mit „Duo con Piano“ seine doppelte Profession als Tänzer und Pianisten. Das Pia­noforte wird zunächst nur vorsichtig betastet, abgehorcht, betanzt und ausprobiert. Das Instrument dient als Möbel, Ballettstange, schwere Verschiebemasse und der Klavierhocker als Fitnessgerät. Bei Bachs C-Dur-Präludium stoßen sich Pianistin und Pianist immer wieder gegenseitig von der Tastatur, um sich beim Spielen nahtlos abzuwechseln. Der virtuo­sen Piano-Akrobatik steht eine Situation wie im Klavierunterricht entgegen, wo die strenge Lehrerin die Finger-, Hand- und Körperhaltung des Eleven so lange korrigiert, bis sich die Eingriffe ins Absurde verselbständigen und der junge Pianist spielunfähig geworden ist. Umgekehrt wird dann die Tänzerin beim Choreographen gezeigt, der mit vernichtenden Anweisungen alles freudvoll Schwebende und Leichte aus den Bewegungen der Frau verdammt. Dass sich das Duo selbstreferentiell vor allem auf seine Doppelbegabung als Musiker-Tänzer bezog, erwies sich als Stärke und zugleich Schwäche der Performance. Beide wirkten wie zwei Leute, die Esperanto sprechen, und sich deswegen nur darüber unterhalten, dass sie Esperanto sprechen.

Poetischer und packender wanderte das Berliner Kollektiv Hauen und Stechen mit „The Whale Whale Song“ durch verschiedene Stationen der Volksbühne. Der grelle Theatermix aus surrealistisch kolportierten Mythen, Sagen und Opernstoffen, schlichtem Jahrmarkts- und Brettlthe­ater, märchenhaftem Puppenspiel, Bänkelgesang und Moritat bezauberte Jung und Alt. Bei der kruden Geschichte ging es irgendwie immer um Wale, die im Meer schwimmen, singen, auch reden und bei Gelegenheit sogar Menschen verschlingen: Mal tritt Jona im Walfisch auf, dann der einbeinige Kapitän Ahab aus „Moby Dick“, schließlich Brünhilde aus Wagners „Die Walküre“, die dem Helden Sigmund künftige Freuden und das Wiedersehen mit Walvater Wotan in – ach so ist das gemeint! – Walhall verheißt. In der einfallsreichen Regie von Franziska Kron­foth und den originellen Kostümen von Hsuan Huang versetzten Sopranistin Angela Braun und Schauspielerin Gina-Lisa Maiwald mit großer Spielfreude mal kindlich, pathetisch, dramatisch oder slapstickhaft das Publikum in Lachen, Mitfiebern, Mitleiden, Wundern, Staunen, Rätseln. Ein Ereignis!

Das Schlagzeugduo Beins/Vorfeld zeigte in „Klirrfaktor“, dass es mit dem Theatralischen letztlich wie mit dem Politischen ist: Weil es nichts Unpolitisches gibt, ist alles politisch; und ebenso wird jede Aktion auf einer Bühne zwangsläufig zu Theater. Die Verwandlung reiner Konzertmusik in instrumentales Musiktheater vom Schlage Mauricio Kagels lässt sich allerdings durch Scheinwerfer befördern. Beleuchtet ein Lichtstrahl, der durch das Fell einer Trommel scheint, die wirbelnden Schläge des Perkussionisten, so werden zugleich die Mittel und Aktio­nen fokussiert, die den Klang hervorbringen. Deiktische Funktion hatten auch geschwenkte Gongs und über das Trommelfell scheppernde Metallketten. Die Klang- und Lichtästhetik wirkte auf Dauer jedoch puristisch und eindimensional. Zu hören gab sie kaum mehr als das, was der Stücktitel benennt: Klirren. Dass selbst Lautsprecher und Subwoofer theatrale Qualitäten entfalten können, war zur gleichen Zeit – unglückliche Terminkollision – bei der Kontakte-Biennale der Akademie der Künste zu erleben. Im dortigen Konzert des Berliner Lautsprecherorchesters mit Stücken von Studierenden der beiden Berliner Musikhochschulen plazierte Anda Kryezui Lautsprechermembranen wie Schüsseln auf Podesten, um unterschiedliche Flüssigkeiten darin durch zugespielte Klänge sich kräuseln oder zu gespenstisch miteinander tanzenden oder kämpfenden Klumpen sich aufbäumen zu lassen. Und Anaïs-Nour Benlachhab ließ am Ende ihres „Tu danses! Ardeur…“ die Trompeterin Simone Samonel still auf einen Stuhl niedersitzen und elektronisch transformierten Trompetenrufen lauschen: Theater mit ruhiger Geste – und großer Bedeutsamkeit.

Als Uraufführung präsentierte BAM! „Songs of Rebellion“ von Michael Höppner und Brigitta Muntendorf. Text- und Motivgrundlage bildet der Prometheus-Mythos, der in verschiedenen Lesarten von der Antike bis zur Gegenwart deklamiert wurde. Die Mitglieder des Opera Lab Berlin und das Kölner Ensemble Garage erschienen in archaischen Guerilla-Kampf­anzügen mit Gesichtsmasken, welche die individuellen Züge larvenhaft entstellten. Die gleich zu Anfang geäußerte Idee, „Denkt Euch ein Lied, das jeden, der es hört oder singt, zur Rebellion anstiftet und jede Staatsmacht zu stürzen in der Lage wäre!“ beschwor die Utopie einer machtvoll ins Leben eingreifenden Musik und entlarvte diese zugleich als völlig illusorisch. So wusste man schon zu Beginn, dass im weiteren Verlauf statt einer Rebellion nur deren Dekonstruktion zu erwarten war. Die Musik besteht aus Popsongs, Techno-Beats, hartem Drumset und „Propapapaganda“-Skandieren. Einzeln oder gruppenweise wird ein „Ha!“ ausgestoßen, als wolle man jemanden attackieren, erschrecken, wecken, doch alles bloß zum Schein, ohne Motiv oder Inhalt, dafür aber mit umso größeren Gesten, kraftvoll, agitatorisch, aggressiv. Die Akteure gehen in Kampfstellung, holen zum Schlag aus und recken die Fäuste zum Gruß der Internationale. Das gängige Repertoire an Revolutionsgesten und militantem Gehabe setzt sich im Video fort, das neben den Mitwirkenden immer wieder Molotowcocktails zeigt.

Auch wenn das Geschehen gut inszeniert, gekonnt ausgeleuchtet und dramaturgisch sinnvoll gegliedert ist, bleibt es aseptisch, distanziert, letztlich bedeutungslos und sinnfrei. Alle Klänge, Worte und Gesten sind bloße Zitate, leere Posen, wie mit Handschuhen angefasst und in verstaubten Vitrinen ausgestellt. Gezeigt wird ein fahler Abklatsch längst vergangener und allesamt verlorener Klassenkämpfe. Die Symbole, Parolen und Lieder haben ihre Brisanz verloren, werden geplündert, als Folklore oder tote Konkursmasse verramscht. Die traurige Indifferenz entlarvt sich schließlich selbst mit dem vielmals wiederholten Slogan: „Ich bin dafür, dass wir dagegen sind.“ Von konkreten Ideen und Inhalten keine Rede. Gibt es gegenwärtig nicht genug Krisen, Katastrophen, Konzerne, Politiker, Missstände, Lügen und Machenschaften, gegen die es aufzustehen und zu rebellieren gälte? Und gehen nicht tatsächlich überall auf der Welt abertausende Menschen auf den Straßen demonstrieren? Sollten da nicht gerade auch „Songs of Rebellion“ klare Kante zeigen? Warum dringt aber nichts vom wirklichen Leben in diese Komfortzone? Warum ist hier drinnen alles so harmlos. nur Theater, Showbiz, Pop, Entertainment? Wollen die tatsächlich bloß spielen?

Lediglich als Gag diente die „Internationale“ auch Johannes Kreidler, der in seiner zweistündigen Performance „Selbstauslöser“ an das „internationale Instrumentariat“ mit „Wacht auf, Verstaubte dieser Erde!“ appellierte und das „Kommunistische Manifest“ zum „Instrumentalistischen Manifest“ verballhornte: „Ein Instrument geht um in Europa“. Prompt kommt ein betroffenes Instrument zu Wort, nämlich der Theaterflügel der Volksbühne, Baujahr 1910, der per Lautspre­cher­zuspielung von seinem mühevollen Dienst erzählt. Kreidler hebt und senkt dazu den Deckel des Klaviers, als plappere es aus dessen großem schwarzen Maul. Im Sauseschritt geht es weiter durch vierzigtausend Jahre Instrumenten- und Menschheitsgeschichte, von der Knochenflöte aus einer Höhle der Schwäbischen Alb über griechische Mythologie, Musengott Apollon, antike Intervall- und Skalentheorien, die der Komponist auf den Sprossen einer Bühnenleiter auf und ab kletternd illustriert. Links und rechts am Weg des flottierenden Weltgeistes liegende Assoziationen werden emsig aufgegriffen: Relativitätstheorie, Sampling, Mickey Mouse, Musikerwitze. Klaviersaiten werden mit Webseiten verglichen, die Monochordsaite wird zum Zug- und Springseil, der Geigenbogen zum Fragebogen, ein Rudel Gitarren zum Gruppensex arrangiert. Nur selten wird Kreidlers endloser Monolog vom beteiligten Arno Lücker unterbrochen. Die obsessive Sua­da infiltriert schließlich mit dem Wörtchen „Ton“ die halbe Kulturgeschichte: „Der Ton in Venedig“, „Spiel mir das Lied vom Ton“, „Dantons Ton“ … Einmal angeworfen, läuft die Wortverdrehungsmaschine mit schwungvoller Mechanik und wenig sprühenden Funken wie von selber weiter: „Der Ton ist ein Meister aus Deutschland“, „Komm süßer Ton“, „Der Ton und das Mädchen“ …

Musik begegnet in diesem „musiktheatralen Essay“ nur am Rande wie ein Phantomschmerz des längst totgesagten Referenzsystems. Was soll dieser von Belesenheit und Gelehrsamkeit strotzende Vortrag? Gibt der etwa einen Vorgeschmack auf die Lehre des frischgebackenen Basler Professors für Komposition und Musiktheorie? Alles Tun, Machen und Bramarbasieren wirkt hohldrehend und monoman. Es fehlt an Leichtigkeit, Lust, Liebe, Witz. Über allem lastet der Geist der Schwere, ernst, biestig und schwitzig von einem zum anderen hetzend. Warum derart wild und grobschlächtig? Warum dieses schreckliche Leiden an Musik? Warum immer so fuchsig, kämpferisch und zugleich so selbstverliebt? „Selbstauslöser“ löst beim Publikum nichts aus, verrät aber umso mehr über den Komponisten. Gegen Ende schichten beide Performer Dutzende Gitarren, Geigen, Blockflöten und Tamburins zu einem großen Scheiterhaufen. Mehrere hundert billige Fabrikinstrumente werden dann von ihnen unter gellenden Erinnyenschreien des Vo­kal­ensembles Phønix16 zertreten, zerschmettert, zerschlagen, zerfetzt. Es tobt die Furie der Verschwendung, ein Exzess der Vernichtung, an dessen Öko- und Klimabilanz man gar nicht zu denken wagt. Noch im Sterben geben die berstenden Instrumente Töne von sich, ein Knacken, Krachen und Splittern. Doch ansonsten fehlen der De­struktion Sinn und Lust. Alles geht freud- und geistlos vonstatten, mit kalter Stirn und Hand, wie bei den von Marquis de Sade beschriebenen Orgien. Stocknüchtern wird einfach kaputt gemacht, entsorgt, abgetreten und zur Tagesordnung übergegangen. Ein Kessel Buntes als vergorener Sauertopf.