MusikTexte 163 – November 2019, 82–85

Furie der Verschwendung

Qualitäten und Fatalitäten bei den Donaueschinger Musiktagen

von Annesley Black (Zeichnung) und Rainer Nonnenmann (Text)

Nach dem „Piano Concerto“ 2014 sorgte Simon Steen-Andersen mit der Uraufführung seines „Trio“ im Eröffnungskonzert der ausverkauften Donaueschinger Musiktage erneut für höchsten Gesprächsbedarf. Der lapidare Titel benennt nicht intime Kammermusik, sondern die Maximalbesetzung sämtlicher SWR-Klangkörper, so dass Symphonieorchester, Vokal­ensemble und Bigband als Riesentrio miteinander musizierten. Der erste Auftritt gebührte indes nicht den rund hundertzwanzig Musikerinnen und Musikern unter Leitung von Emilio Pomárico, sondern dem Audio-Video-Zuspiel eines Dirigenten, der den Begrüßungsapplaus abwartet, ein Orchester fortissimo einwinkt, den triumphalen Dur-Akkord einige Sekunden hält, dann abbricht, erneut Beifall entgegennimmt und wieder abgeht. Im Wechsel mit den ratternden Anlaufgeräuschen eines Kinoprojektors wird die absurde Szene mehrmals wiederholt, bis plötzlich auch das leibhaftig anwesende Orchester mit demselben Akkord einfällt und sich mit dem Video einen immer schnelleren Pingpong-Schlagabtausch liefert. Der Akkord wandert hin, springt her und wird endlich auch gemeinsam gespielt. Live-Musik und Video alternieren, durchdringen und überformen sich. Denselben Dialog provozieren Filmaufnahmen von Bigbands und Chören bei den anderen beiden real anwesenden Formationen. Die historischen Aufnahmen stammen aus dem Schall- und Filmarchiv des SWR und zeigen berühmte Bandleader, Chor- und Orchesterdirigenten bei Proben und Konzerten: Scherchen, Celibi­dache, Solti, Carlos Kleiber, Gielen, Ellington, Gottwald, sogar Mauricio Kagel. Wie der Anfangsakkord vagieren im weiteren Verlauf auch einzelne Instrumental­einsätze zwischen den Aufnahmen und Ensembles. Die Konzertmeister, Trom­peter, Saxophonisten, Pianisten und Hor­nisten aus den Live- und Video-Orchestern schließen sich kurz und schaffen nahtlose Übergänge. Auch einzelne Tonhöhen, Rhythmen, Läufe und Zitate aus Werken von Händel, Beethoven und Strauss oszillieren im Sechzehntelabstand zwischen den Zuspielungen und Ensembles.

Die Sequenzen werden mit großem dramaturgischen Geschick kombiniert, geloopt, beschleunigt, verlangsamt, variiert, neu geschnitten und in ständig wechselnde Diachronien und Synchronien gebracht. Von den Interpreten präzise umgesetzt und vom SWR Experimentalstudio punktgenau gesteuert, entsteht der Eindruck, als würden die historischen Reproduktionen und aktuellen Klangproduktionen tatsächlich miteinander konzertieren. Doch die Illusion bleibt brüchig, da ja Musiker zusammenspielen, die sich nie begegnet und von denen die meisten längst verstorben sind. Das ist spielerisch, skurril, witzig und auch ein bisschen gespenstisch. Mal übernimmt der SWR-Chor eine vorherige Ansage Celibidaches als kollektive Sprechpartie zum simultan wiederholten Bild des Maestro. Ein anderes Mal setzen die drei Ensembles einen von Kleiber vorgesungenen Staccato-Lauf fort, indem sie diesen zu wogenden Intervallketten überlagern. Steen-Andersen spielt mit dem Material virtuos wie auf einer Klaviatur, plan- und effektvoll, auch launig und um Gags nicht verlegen. Hundert Prozent Musik aus fremder Hand verwandelt er zu etwas Eigenem. Die Toten aus dem Archiv erweckt er zu neuem Leben und verordnet umgekehrt den Lebenden eine irritierende Anamorphose an tote Archivbestände. Denn wie die Samples werden auch die Live-Ensembles immer nur kurz an- und wieder ausgeknipst, als handle es sich bei ihnen ebenfalls bloß um leblose Datensätze einer perfekt funktionierenden Menschen-Medien-Maschine, die zunehmend hohldreht. Statt in Form und Technik noch einmal qualitativ andere Perspektiven und Reflexionsstufen zu erreichen, erliegt die quirlige Mixtur während einer langen Dreiviertelstunde der faszinierenden Überfülle des verfügbaren Bild- und Tonmaterials. Doch vielleicht bedarf es gerade dieser unablässig rotierenden Furie der Verschwendung, um hinter dem vordergründigen Spaß das Verstörende und Dystopische ahnen zu lassen. Der komplexe Organismus vieler Musikschaffender erscheint wie konserviert, katalogisiert, automatisiert.

Der 1976 geborene dänische Komponist ruft in seinem tosend applaudierten „Trio“ – für das er nach „Piano Concerto“ zum zweiten Mal den Preis des SWR Symphonieorchesters erhielt – die Klangkörper wie x-beliebige Files per Click ab, entkörperlicht, atomisiert, phantomisiert. Angesichts der Masse an aufgenommener, gespeicherter und abrufbarer Musik wirft das die Frage auf, welche Rolle Chöre, Bigbands und Orchester im Digitalzeitalter überhaupt noch spielen? Sofern sie nur reproduzieren, was ohnehin schon alles produziert wurde, wie im Fall von „Trio“, sind sie bloß lebende Untote, gegenwärtige Zombies von vorgestern. Doch will das der Komponist? Weiß er um den tödlichen Ernst seines Spiels?

Eine Mutation zu ausgemusterten Elektrogeräten vollzog auch das Hamburger Ensemble Resonanz in Nicole Lizées „Sepulchre“ mit maschinenhaft stotternden Loops, Beats, Knarz- und Kratzgeräuschen, die sich mit Elektronik und kraftvoll pumpendem Drumset zu einem scheintoten Crossover aus Pop, Lounge und Retro vermengten. In Gordon Kampes „Remember Me“ entfalten dagegen Audio-Zuspielungen von Kinderliedern und Schlagern längst vergangener Tage ihre Aura. Originalaufnahmen und neue Mitschnitte junger und alter Laienstimmen und -chöre werden in dieser ,Tanzsuite mit Maikäfer flieg‘ vom elektronisch verstärkten und teils verzerrten Ensemble liebevoll gerahmt, mit filigranen Klangspitzendeckchen halb verhüllt oder einfach schnöde rein- und rausgeworfen. Den finalen Ohrwurm „Bel Ami“ kommentierte eine Frauenstimme: „Das war 1948, gleich nach dem Krieg.“

Pierre-Yves Macé integrierte in „Rumorarium“ Aufnahmen von Straßenmusikern in das Ensemble Intercontemporain unter der Leitung von Matthias Pintscher. Der komponierende Autodidakt umgab den Mitschnitt eines Gitarristen mit sanften Pizzikati und grundierte die auf einer Brücke in Japan aufgezeichneten Arabesken einer Bambusflöte mit matt gleitenden Klangflächen. Field Recordings und Zuspielungen enthielt auch die Improvisation des Duos Osojnik und Schellander bei der NOWJazz-Session.

Die in technische Erfindungen mündende Sehnsucht, flüchtigen Schall festzuhalten, thematisierten Ulrike Janssen und Marc Matter im Hörstück „Meerschallschwamm und Schweigefang“, für das beide den diesjährigen Karl-Sczuka-Preis erhielten. Die Sprachkomposition besteht aus der lücken- und fehlerhaft rekonstruierten Tonspur eines Audio Guide durch ein imaginäres Museum für Schall­aufzeichnungs- und Wiedergabegeräte. Neben Kuriositäten der Mediengeschichte seit Thomas Edisons Phonograph 1878 geht es womöglich auch um aktuelle oder gar futuristische Verfahren. Beschrieben und mit Klangproben vorgestellt wird allerlei phantastisches „Aufbewahr für Sprech, Kling, Tön“, darunter der „Sprechklingamulgator zum Vernehm von Endlosraspelsprech“ oder der „Schallfrierapparat, bei Wetter warm, das Einsprech wieder tau und fließ“ sowie der „Auralisator zum Einfang von Seelsprech“ und der titelgebende „Meerschallschwamm zu Nutz auch außerhalb von Meerestief, einsaug Schall und aufbewahr“.

Neben vertrauten und bewährten Ansätzen sowie randständigen Versuchen mit Musik und Computerspiel, im Schwimmbad, als Background Combo in einer Hotelbar oder konjunktivischer Denk- und Möglichkeitsraum eines Festivals im Festival zeigten sich in einem zweiten Hauptstrang der Musiktage verschiedene Auseinandersetzungen mit Tradition. Eine auskomponierte Suche nach gegenwärtiger Individualität inmitten tonaler Ausdruckstopoi ist „Allein“ von Johannes Boris Borowski. Die von Diego Tosi gespielte Solovioline beginnt ,allein‘ mit einer aufsteigenden großen Sexte, die mehrfach wiederholt, diminuiert und artikulatorisch variiert wird. Selbstversunken um sich kreisend wird die altbekannte Sehnsuchtsgeste unvermutet von zwei Hornisten mit Fanfarenmotiven aus Strauss’ „Alpensinfonie“ überfahren. Anschließend werden die konträren Requisiten aus der guten Stube der Tonalität zu Rankenwerk, Tuttigesten und Klangflächen ausgewildert.

Matthew Shlomowitz präsentierte mit „Glücklich, Glücklich, Freude, Freude“ eine grellbunt übersteigerte Bonbonniere aus rauf und runter sequenzierten Dur-Akkorden und Dur-Tonleitern, denen Mark Knoop am Synthesizer mit wimmernden Vibrati und Glissandi noch Ex­traportionen Sahne übergoss. Das gewollt lustige, laute und überzuckerte Orchesterstück birgt einen toxischen Cocktail aus ADHS, Fettsucht, Gambling Disorder, Dysreflexie, Kitschitis und akuter Atemnot, der letal verschärft wurde durch die weder akustisch noch lüftungstechnisch für über tausend schwit­zende Menschen ausgelegte Baar-Sporthalle.

Alberto Posadas ließ zu Beginn seines „Poética del espacio“ das vor und hinter dem Publikum plazierte Klangforum Wien unter Leitung von Sylvain Cambreling einen grellen Cluster in den Mozartsaal der Donauhallen stemmen. Der erratische Block gewann dann durch dynamische Wechsel, Umschichtungen, Ein- und Ausblenden räumliche, farbliche und rhythmische Differenzierung, bis schließlich alle Schleusen ein eineinhalbstündiges Flirren, Gleiten und Laufen furioser Soli und Polyphonien öffneten, das am Ende wieder zu starren Tutti-Schlägen kristallisiert.

Komplett auf das philharmonische In­strumentarium verzichtete Eva Reiter, ­ei­ne der erfreulich vielen diesjährigen Donaueschingen-Debütantinnen. In ihrem „Wächter“ für Bassflöten und Rohrorchester bespielten die SWR-Sinfoniker im Abschlusskonzert unter Leitung von Tito Ceccherini ausschließlich PVC-Rohre. Deren unterschiedliche Längen ließen mit variierten Spieltechniken jeweils andere Tonhöhen hören: Anblasen, Reinsingen, Summen, durch die Luft Schwenken, schnell hin und her Tremolieren. Die 1976 geborene Wiener Komponistin und Interpretin Alter wie Neuer Musik behielt sich selbst und drei weiteren Solisten allerdings ihre angestammten In­strumente Schlagzeug, Paetzold- und Bassflöte vor. Die zu homogenen Orgelpfeifen konformierten „Tutti­schweine“ hatten den privilegierten Solisten vor allem weiche Klangteppiche auszurollen und bekamen vom „Wächter“-Soloflötisten Mike Schmid außerdem noch durchs Instrument gezischelt ihre Dienerfunktion vorgehalten: „Ihr seid mehr die neu­trale Masse“ und: „Ich zeig euch jetzt mal wie das funktionieren soll.“ Sollte das Stück nicht eigentlich die traditionelle Arbeitsteilung, Spezifikation und Professionalisierung im hierarchisch organisierten sinfonischen Apparat aufbrechen? Reiter aber nimmt die in anderer Musik längst erreichte Demokratisierung des Miniaturstaatsgebildes Orchester autoritär zurück und offenbart damit eine in neuer Musik um sich greifende Divergenz: im Anspruch Avantgarde, in Faktur und Form reaktionär.