MusikTexte 163 – November 2019, 88–89

„Lärmender Kindergarten“

Fünfundzwanzig Jahre Kölner „Brückenmusik“ mit Peter Ablinger

von Rainer Nonnenmann

Der schmale Durchschlupf im klotzigen Betonträger führt unvermutet in eine riesenhafte Groß­raumakustik. Die hörbare Weite stammt jedoch nicht von grandioser Lichtgotik, sondern von der profanen Funktionsarchitektur eines engen, dunklen Betontunnels. Der Hohlkörper unterhalb des südlichen Erweiterungsbaus der Deutzer Brücke in Köln ist lediglich zweieinhalb bis fünf Meter hoch und knapp zehn Meter breit. Die ungeheure Nachhallzeit von mehr als zwölf Sekunden verdankt diese Trägerkonstruktion indes ihrer Länge und Kahlheit. Gegliedert wird das über den Rhein gespannte Bauwerk durch Stützwände auf den Strompfeilern in zwei äußere Abschnitte von je hundertdreißig Metern Länge und ein mittleres Segment von hundertachtzig Metern mit jeweils leicht gewölbten Böden.

Der gewaltige Resonanzraum wirkt wie ein begehbares Rieseninstrument, das der über die Brücke rollende Verkehr bespielt. Autos, Motorräder, Lastwagen und Straßenbahnen versetzen Beton und Luft auf unterschiedliche Weise in Schwingung. Je nach Position hört man die Erschütterungen der über die Brückenschwellen pochenden Autoreifen oder der aus der Ferne wie dumpfe Gewitter heranrollenden Straßenbahnen. Der Verkehr generiert ein zyklisch an- und ab­schwel­lendes Kontinuum aus Geräuschen, Rhyth­men, Dauern. Strukturiert wird der Klang vom Fahrplan der Kölner Verkehrsbetriebe, den Ampelschaltungen und der Geschwindigkeit des Straßenverkehrs, sowie durch wetterbedingt trockene oder nasse Fahrbahn. Kleine Luftluken in der Mitte der Brücke lassen gelegentlich auch die Schiffsdiesel der Lastkähne auf dem Rhein samt rauschender Bug- und Heckwellen hören.

„Entdeckt“ wurde der ungewöhnliche Ort 1987 von Peter Behrendsen, der als Mitarbeiter der WDR-Reihe „Studio Akus­tische Kunst“ dem amerikanischen Klangkünstler Bill Fontana bei der Realisation der „Klangbrücke Köln/San Francisco“ assistierte, bei der erstmalig in der Radiogeschichte Klänge zwischen beiden Städten per Satellit live übertragen wurden. 1995 veranstaltete Behrendsen dann die erste „Brückenmusik“. Seitdem waren hier jeden Sommer sieben bis zehn Tage lang Installationen zu erleben. Neben Instrumental- und Vokalklängen wur­de vor allem mit Elektronik operiert. Da der Ort von sich aus schon so viel zu hören hergibt, reichten meist Mikrophone, Verstärker, Filter und Lautsprecher oder rein visuelle Mittel: Licht, Objekte, Videos, Projektionen, Wasserschläuche, Seile, per­spektivische Linien. Behrendsen teilte die Leitung später mit hans w. koch, der die Veranstaltung schließlich mit Jens Brand fortführte, bevor sie die „Therapeutische Hörgruppe“ übernahm. Seit zwei Jahren wird die „Brückenmusik“ von einem sechsköpfigen Team aus Heike Ander, Meryem Erkus, Friedemann Dupelius, Theresa Nink, Dirk Specht und Volker Zander geplant und realisiert.

Zentral für die Veranstaltung ist die Auffassung John Cages, dass sich alles Klingende als Musik wahrnehmen und neue Musik von traditioneller dadurch un­terscheiden lasse, dass sie von zufälligen Geräuschen nicht gestört werden könne. Konventionelle Konzertsäle werden gegen die tönende Alltagswelt möglichst komplett abgeschirmt, und drinnen sind Störungen ebenfalls tunlichst zu vermeiden. Ganz anders dagegen der Hohlkörper der Deutzer Brücke. Anlässlich der fünfundzwanzigsten Ausgabe der „Brückenmusik“ versammelten sich Ende Juni Künstlerinnen und Künstler, Lehrende für Sound Studies, Kulturwissenschaft, Medientheorie und Visual Music zu einem eintägigen Symposion. In der Garage des linksrheinischen Brückenkopfs widmeten sich die Fachleute aus Köln, Düsseldorf, Berlin, Linz und London unter omnipräsenten Verkehrsgeräuschen zwischen aufgestapelten Hochwasserschutzelementen dem Thema „On Silenc­ing – Zur Produktion der Stille“.

„Silencing“ betont die aktive Gestalt- und Erfahrbarkeit des behandelten Phänomens „Silence“. Im Englischen ein Neologismus, gibt es das Verb im Deutschen tatsächlich, wo „Stillen“ die Befriedigung hungriger Säuglinge meint. Wer von „Stille, Pausen, Schweigen und Momenten der Ruhe“ spricht, darf natürlich von Klang bis hin zum Lärm nicht schweigen. Behrendsen zitierte daher treffend Cages beide Pole dialektisch zusammendenkenden Ausspruch: „Sounds are only the surface of silence.“ In seiner knappen Rekapitulation der eigenen Anfangs- und Wirkungszeit bei der „Brückenmusik“ erklärte der Gründer den Rest „Musik“ im Namen der Veranstaltung damit, dass immer wieder auch konzertante Projekte aufgeführt worden seien, bevor installative Arbeiten dominierten. In der Vergangenheit realisierten international renommierte Klangkünstlerinnen und -künstler bis zu drei Projekte gleichzeitig in den drei Segmenten der Brücke, darunter Alvin Lucier, Malcom Goldstein, Richard Teitelbaum, Maryanne Amacher, Eliane Radigue, Terry Fox, Alvin Curran, Johannes Fritsch, Rolf Julius, Bill Dietz, Harald Muenz, hans w. koch, Hanna Hartman, Leif Inge, An­dreas Oldörp, Jay Schwartz und Phill Niblock.

Der diesjährige Gastkünstler Peter Ablinger erklärte im Gespräch mit Volker Straebel, Stille und Rauschen hätten für ihn etwas von Schweigen, weil sowohl die Abwesenheit von Klang als auch weißes Rauschen nicht mitteilend seien, sondern un-informierend einfach da, wie die Abwesenheit des Lärms der Gedanken in uns. hans w. koch problematisierte den Objekt- und Warencharakter von Kunst, die in globalem Maßstab als Gegenstand von Investment, Geldanlage und Spekulation gehandelt werde, während „Silenc­ing“ Nicht-Handeln, Zur-Ruhe-Kommen und bloßes Betrachten bedeute. Christian Jendreiko beschrieb die Erde wegen ihrer Schallausbreitung ermöglichenden Atmo­sphäre ambivalent sowohl als seltene „Klangoase“ im Vakuum der schalltoten Unendlichkeit als auch als „akustische Müllhalde“ und Schauplatz eines drohenden „akustischen Totalkriegs“, bei dem digitale Kompressoren hochenergetisch aufgemotzte Popmusik wahlweise wie „akustische Faustschläge“ austeilen oder als „akustische Schilde“ einsetzen. Angesichts der lauter gewordenen Lebenswirklichkeit ging es folglich auch um Lärmschutzmaßnahmen und den repressiven Aspekt von „Silencing“, wenn es etwa gilt, laute Kinder, Rock- oder Straßenmusik zum Schweigen zu bringen.

Aktuell zu erleben waren zwei aufeinander bezogene Arbeiten von Peter Ablinger. Der 1959 geborene Komponist, Klangkünstler und Musikdenker ließ die Besucher zunächst eine „Vokalschleuse“ passieren. Diese Nummer 15 seiner Serie WEISS/WEISSLICH“ besteht aus einem Spalier von fünf Lautsprecherpaaren, die beim Abschreiten elektronisch generierte Rauschklänge jeweils anderer Vokalfärbung hören lassen. Das Publikum wurde damit auf die „Public Litanies“ im Brückenkörper vorbereitet. Kleingruppen von je vier Besuchern hatten dabei vorgesprochene Satz- und Lautfolgen im Vierviertel-Schrittrhythmus litaneiartig abwechselnd nachzusprechen: „sprich mir nach – / nach mir sprich – / sprich nach mir – / na na-na na – / be Eb-be be –“. Skandiert wurden Nonsenslaute, Zahlenfolgen oder Anklänge an Kinderreime „draus bist-du doch“. Hinzu kamen mantraartige Silben „Ran-na Pah-Tha-Rha“, Alliterationen „schlecht für Schlucht“ sowie situations- und ortsbezogene Bruchstücke „Scheff-fährt ü-bern Rheen“ und als Schlusspunkt „Rhaun Raum Maus – / aus iss aus –“.

Die fast neunhundert Meter lange „Prozession“ hin und zurück über den Rhein nutzte Sprache zur akustischen Aktivierung des Raums, in dem verschiedene Vokale unterschiedlich hell, dunkel und lange resonieren, während Konsonanten rasch verebben. Ablinger ließ die Vor- und Nachsprecher jedoch zu viel und schnell artikulieren, so dass keine Zeit blieb, allen raum-zeitlichen Umschichtungen, Filterungen und Echoeffekten der Klänge zu lauschen. Die sprachlichen Mittel verselbständigten sich zu einer niederschwelligen Mitmachaktion, die an eben jenen „lärmenden Kindergarten“ denken ließ, mit dem Jendreiko in seinem Vortrag den Planeten Erde inmitten des nachtschwarzen Universums verglichen hatte. Rituell eröffnet, beschlossen und strophisch gegliedert wurden die Sequenzen durch kräftige Tamburin-Schläge, die wie Echolote in den Tiefen des Tunnels lange nachdröhnten, aber ebenfalls nicht bis zum kompletten Verklingen ausgehört werden durften. Indifferent blieben schließlich auch Kreuzungen mit anderen Kleingruppen, die der Reihe nach alle zehn Minuten durch den Brückenkörper geführt wurden.

Den Anstoß zu „Public Litanies“ gaben Ablinger die verschärften Restriktionen des Kölner Brückenamts. Früher konnte sich das Publikum durch den Hohlkörper der Deutzer Brücke in nahezu beliebiger Menge frei bewegen. Unter neuer Amtsleitung ist der Zugang nur noch geführten Kleingruppen gestattet. Ablinger versuchte, diese Auflage zu erfüllen, indem er sie ins Konzept integrierte und es sich zum Programm machte, die institutionelle Trennung von hörendem Subjekt und hörbarem Objekt zu überwinden. Die Partizipation der Besucher brach mit der Gewohnheit, dass man sich als großes, anonymes Publikum auf den geschützten Ort seines Sitzplatzes zurückzieht, um von dort aus ohne weitere äußerliche Beteiligung die auf der Bühne dargebotene Musik zu erleben. Stattdessen übertrug nun Ablinger jedem Besucher die Verantwortung, auch über mögliche Widerstände von Selbst- und Fremdschämen sich hinwegsetzend mit den anderen Gruppenteilnehmern gemeinschaftlich die skurrile Zeremonie zu gestalten und zu erleben.

TUBE DUST DRONE – Brückenmusik 1995–2015“, Köln: Selbstverlag, 2016, deutsch/englisch, 224 Seiten, 170 Abbildungen und CD.