MusikTexte 163 – November 2019, 91

„Scharniere zur Natur“

Das Festival Rümlingen trifft Klangspuren Schwaz

von Torsten Möller

Synergien werden groß geschrieben – auch in der Neuen Musik, wo man Spar­zwänge immer mehr dadurch kompensiert, dass Festivals gemeinsam Kompositionsaufträge vergeben oder Ensem­bles durch garantierte Wiederaufführungen anlocken. Beim Festival Rümlingen steht das Sparen nicht im Vordergrund. Eher sind es praktisch-sinnvolle Erwägungen, die zu einer Kooperation mit den Tiroler Klangspuren Schwaz führten: Im September gab es in Basel, also ganz in der Nähe Rümlingens, schon das Festival Zeiträume. Ein wenig weiter südlich frönte man – auch Mitte September – dem Thema „Rauschen“ im Rahmen des Musikfestivals Bern. Kurz: Ein „Auswärts­spiel“ lag nah, wenn auch nicht in der Nähe.

Skifahrer kennen vielleicht die Orte Da­vos oder Scuol. In der Nähe dieser Winterurlaubsziele liegt das kleine Dörfchen Lavin, der Ausgangspunkt einer etwa sechsstündigen Klangwanderung. Diese wurde – im wahrsten Sinne – eingeläutet von Kirchenglocken. Wer dabei in den Kirchturm blickte, sah, dass dort Weiches auf Hartes traf. Der Schweizer Schlagzeuger und Komponist Peter Con­ra­din Zumthor hatte die Klöppel dick eingewickelt und mit dicken Stoffschichten bandagiert, die den Glocken gedämpfte, aber ganz ungewohnt-erhabene Klang­spektren entlockten.

Mit den im Tal sich ausbreitenden Glockenklängen geht es hinunter zum Inn, der steter, ostinat vor sich hinrauschender Wegbegleiter bleibt auf dem Weg nach Sur d’Ardez. Der Fluss inspiriert Festivalleiter wie Komponisten gleichermaßen. Am Ufer erkundet der amerikanische Komponist Christian Wolff den Klang von Steinen, die er gegeneinander schlägt; an der nächsten Station bespielen an einem Bach die Schweizer Komponisten Zumthor und Jürg Kienberger mit Wasser gefüllte Gläser. Nach solch eher esoterisch-anthroposophisch Anmutendem führt der Weg in einen steinernen Tunnel. „Fingals Grotte“ aus den „Hebriden“ von Felix Mendelssohn Bartholdy kommt einem kurz in den Sinn. Doch im höhlenartigen Tunnel sitzt kein Orchester, sondern die Harfenistin Alice Belugou, deren dezent gestrichene und getupfte Klänge vom deutschen Komponisten Caspar Johannes Walter stammen. „Das Wasser“, so der Komponist, „ist das Scharnier zur Natur.“ Neben der Harfenistin klingen zwei Würfel, in deren sechs Außenflächen jeweils ein Lautsprecher eingelassen ist. Walter musste nicht nur die Frage der Stromversorgung des Würfels klären, sondern machte sich auch viel Mühe bei der Konzeption der mehrkanaligen Zuspielungen, die auf den Harfenklängen basieren, in die aber auch Tropfentöne in verschiedenen Höhen und Rhythmen verwoben sind. „Normalerweise versucht man“, so Walter, „bei der Klangregie den Raum schön zu füllen. Das brauchen wir hier aber nicht. Es spielen praktisch drei Orte.“ Durch verschiedene Höhen und Rhythmen entsteht eine eigentümlich-geheimnisvolle, zugleich auch klanglich reizvolle Atmosphäre. Trotz Feuchte und Kälte verweilt man gern länger im Dunklen – wohl wissend, dass die Sonne draußen gleich wieder wärmen wird.

Weiter geht’s im Hellen, aus dem Tunnel heraus und einen Schotterweg Richtung Osten. Auf einem Schild steht „Caro­la Bauckholt: ,Doppelbelichtung‘“. Rechts taucht eine Geigerin auf, die etwas verloren zwischen Bäumen steht. Um sie herum hängen weitere Geigen, aus denen – angeregt durch Transducer – Vogelstimmen kommen. Bauckholt widmet sich schon länger den Vögeln; schon in einer Reihe von für den Konzertsaal bestimmten Ensemblewerken standen Vogelstimmen im Mittelpunkt. Angesichts ihrer Vogelstimmen im Wald hatte Bauckholt Skrupel, etwas zu verdoppeln. Doch letztlich zeigt ihr Arrangement keine doppelt belichtete Natur, sondern dass ein „künstlerisch-zivilisatorischer Eingriff“ immer andere Akzente setzt als die „Natur an sich“, allein schon deswegen, weil eine so versierte Geigerin wie Sabine Akiko Ahrendt in den höchsten Regionen ihres Instruments unglaublich virtuos Vögel imitieren kann.

Natürlich lebt das Festival Rümlingen nicht nur von der Natur, sondern auch vom Zwanglosen, das der Konzertsaal in der Regel nicht bietet. Zwischen den Klangstationen unterhält man sich beim Wandern über das Gehörte, lässt sich inspirieren vom wuchtigen Hochgebirge oder von Klängen, die ihre Offenheit zeigen. Daniel Ott hasst es, „wenn dem Publikum eine Freiheit suggeriert wird, die es nicht nutzen darf“. Mit Lydia Jeschke hat Ott diesen Rümlingen-Jahrgang kuratiert und diesmal selbst eine Klangstation namens „Chavorgia“ beigesteuert. Bläser der Musikkapellen Nauders und Ramosch spielen auf einem Waldhang einige ausgewählte Akkorde, während ein Duett mit Akkordeon und Klarinette schöne Kantilenen intoniert. Ott hat sich von der Struktur eines Gedichts der in Lavin lebenden Schriftstellerin Leta Semadeni inspirieren lassen. Die gesamte Silbenanzahl des kurzen Gedichts „Chavorgia“ übertrug er auf die Großform seines gelungenen Outdoor-Musik-Environments. Alte Gattungsbegriffe greifen nicht so recht beim Festival Rümlingen.

Semadenis Lyrik vertonte auch der renommierte Schweizer Komponist Beat Furrer. In der kleinen Dorfkirche in Sur en d’Ardez singt die Sopranistin Rinnat Moriah betörend schön, ebenso ausdrucksstark wie flexibel begleitet vom phantastisch aufspielenden Saxophonisten Markus Weiss. Unglaubliche Kraft entwickelt die naturnahe Mystik Semadenis, die sich im kargen, wenn auch stark nachhallenden Kirchenraum gut entfaltet. In „mia vita da vuolp – in meinem Leben als Fuchs“ heißt eines ihrer Gedichte, in dem sie schreibt: „Ich wusste nicht meinen Namen, war nur immerfort da, wo die Pfote die Erde berührt.“ Ebenfalls im Innenraum findet die abschließende Begegnung mit den Klangspuren Schwaz statt, die es am gleichen Tag auf eine höhere Alpentour verschlug. Der österreichische Trompeter Franz Hautzinger, dessen Regenorchester XII in stets wechselnder Besetzung auftritt, spielte mit Christian Fennesz, Otomo Yoshihide, LucEx und Tony Buck im Gemeindesaal Scuol groß auf. Die teils recht lauten Improvisationen waren hochenergetisch, zugleich erstaunlich differenziert und formbewusst. Es sind hochrangige Musiker mit eben jenen offenen Ohren, die das Festival Rümlingen an einem schönen-inspirierenden Tag einmal mehr schärfte.