MusikTexte 162 – August 2019, 63–68

Utopie Streichquartett?

Echolote auf den Zukunftsgehalt der alten Gattung: Mainka, Giesen, Szlavnics

von Rainer Nonnenmann

Ich hoffe, meine Schüler werden suchen! Weil sie wissen werden, daß man nur sucht, um zu suchen. Daß das Finden zwar das Ziel ist, aber leicht das Ende des Strebens werden kann.
Arnold Schönberg,
Vorwort zur „Harmonielehre“ (1911)

Wenn von „Streichquartett“ die Rede ist, denkt man sofort an Haydn, Mozart, Beethoven, vielleicht auch an Schubert oder Brahms. Seltener vergegenwärtigt man sich Schönberg, Webern, Bartók und Schostakowitsch, gar Ligeti, Lutosławski, Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann, Enno Poppe, und viele andere mehr. Doch das Streichquartett ist nicht bloß eine Gattung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Auch während des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts wurden Streichquartette komponiert. Das ist umso erstaunlicher, als nach dem Zweiten Weltkrieg die Avantgarde möglichst rigoros mit überkommenen Besetzungstypen, Form- und Gattungsmodellen zu brechen suchte. Ausgerechnet Streichquartette aber wurden weiter komponiert, obwohl gerade hier einiges auf Konservatismus deutet: insbesondere das stilisierte Aufführungsritual von vier schwarz gekleideten Musikern mit Jahrhunderte alten Instrumenten, die vor einem überwiegend betagten, besser gekleideten und elitebewussten Publikum auftreten, das gehobene Ansprüche stellt, an Unterhaltung, Bildung und gepflegten Restaurantbesuch danach.

Was uns heute Inbegriff adliger Salon- und bürgerlicher Kammermusik scheint, war jedoch von Anfang an ein Labor für kompositorische Experimente. Schon Haydn und Beethoven nutzten die kodifizierte „Versuchsanordnung“ von vier monochromen Instrumentalstimmen für verschiedenste Neuerungen: seien sie formaler, expressiver, klangfarblicher, satz- und spieltechnischer Art. In der Beethoven-Nachfolge blieb der Anspruch auf Innovation, Originalität und Meisterschaft bis heute verpflichtend. Wer heute eine Sinfonie komponiert, gerät leicht in Verdacht, an überkommenen Ausdrucks- und Formmodellen festzuhalten. Doch wer an einem Streichquartett arbeitet, weckt die Erwartung, er sei bereit, sich in eine Tradition des fortgesetzten Bruchs mit der Tradition zu stellen und sein Schaffen dem kategorischen Imperativ der Gattung zu unterwerfen: plus ultra, immer weiter!

Dass bis heute Quartette komponiert werden, liegt auch an den vielen hochprofessionellen Quartett-Formationen. Das legendäre Arditti Quartet beispielsweise hat seit seiner Gründung 1974 viele hunderte Werke uraufgeführt und auf mehr als zweihundert CDs eingespielt. Doch die Fülle an neuen Streichquartetten wäre nicht möglich, würden nicht auch Veranstalter und Publikum danach verlangen und nahezu alle Komponisten auch Streichquartette komponieren. Zu den zahlreichen exzellenten jüngeren Streichquartett-Formationen gehört das 2006 in Berlin gegründete Sonar Quartett. Das Ensemble feierte während der Spielzeit 2016/2017 sein zehnjähriges Bestehen mit einer eigenen Konzertreihe in der Akademie der Künste Berlin. Unter dem Titel „Utopie Streichquartett“ präsentierte es dabei neben herausragenden Quartetten des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem jüngere Werke und mehrere Uraufführungen.

Die Gattung Streichquartett hat im Laufe ihrer Geschichte die unterschiedlichsten Erweiterungen erfahren. Neue Spieltechniken und Kompositionsverfahren, der Einsatz von Singstimmen, Elektronik, Verräumlichungen sowie szenischen Aktionen, Choreographie, Licht, Film, Video, neuen Medien, et cetera führten bis an die Grenzen ihrer Auflösung. Und es waren eben solche Ausgriffe in bis dato unbetretene Gefilde, auf die der etwas vollmundige Titel der Konzertreihe „Utopie Streichquartett“ zielte. Die Innovationskraft und Dynamik der Gattung deuten jedoch in der Tat auf „utopisches Denken“ beziehungsweise auf das, was der Künstler Jonathan Meese auf die Formel brachte „Nur Kunst zukunftet Freiheit!“. Denn es geht darum, künstlerische Visionen mit sozialen Utopien zu verbinden.

Luft von anderem Planeten

Exemplarisch für utopisches Denken ist Arnold Schönbergs bahnbrechendes zweites Streichquartett opus 10, mit dem das Sonar Quartett seine Konzertreihe eröffnete. Das 1908 vollendete und im Bösendorfer-Saal des Wiener Musikvereins unter lautstarkem Tumult des Publikums uraufgeführte Werk ist in den drei ersten Sätzen noch an die Grundtonart fis-Moll gebunden. Der letzte Satz jedoch überschreitet die Schwelle zur freien Atonalität. Schönberg akzentuiert diesen epochalen Schritt mit dem Einsatz einer Sopranstimme und dem Aufbruchspathos der prophetischen Worte aus Stefan Georges kurz zuvor 1907 veröffentlichtem Gedicht „Entrückung“: „Ich fühle Luft von anderem Planeten“. Bei einer von zwei Gesprächsrunden, die sich in der Berliner Akademie der Künste dem Thema „Utopie Streichquartett“ widmeten, äußerte sich hierzu der Berliner Musikwissenschaftler Mathias Hansen:

Im vierten Satz „Entrückung“, wieder mit Sopran, löst sich Schönberg von der Tonalität, das wird sehr dramatisch. Für den Untergrund seiner Utopie typisch ist, dass er sich bewusst ist, er muss sehr weit weggehen. Aber je weiter er weggeht in dieser Utopie, umso stärkere Bindungen schafft er dafür. Das hören wir sehr schön am Schluss, der wie Wagners „Tristan“ nicht in H-Dur, sondern in Fis-Dur schließt. Tonal bringt Schönberg also alles wieder ins Lot, obwohl er genau weiß, dass es so nicht weitergehen wird. Wie es allerdings weitergeht, weiß er auch nicht. Und das ist ja eben das Schöne an einer Utopie: Man kann viele Dinge entwerfen, und sie werden hier auch entworfen, aber was kommt, weiß keiner.

Wie Mathias Hansen – unter anderem Autor einer Monographie über Arnold Schönberg – nahm auch der Komponist Jörg Mainka an den Gesprächsrunden teil, die im Oktober 2016 und März 2017 – vom Autor moderiert – zu Beginn und Abschluss der Konzertreihe „Utopie Streichquartett“ des Sonar Quartetts in der Akademie der Künste Berlin stattfanden. Für alle beteiligten Komponisten standen dabei diese Fragen im Raum: Was reizt einen Komponisten heute noch, ein Streichquartett zu schreiben? Und welche Rolle spielt dabei die möglicherweise als erdrückend empfundene Fülle herausragender Werke dieser Gattung?

Wenn man sich mit diesem Genre auseinandersetzt, setzt man sich mit diesem Klang auseinander. Dabei gibt es für mich zwei wesentliche Aspekte. Der Überbegriff der Utopie, den das Sonar Quartett zu seinem zehnjährigen Jubi­läum gewählt hat, macht deutlich, dass eine Utopie, wie das Beispiel Schönbergs zeigt, nie zu Ende sein kann. Und der andere Aspekt hat mit der Historie erst einmal nichts zu tun, denn das ist einfach dieser Klangkörper. Für einen Komponisten ist dieser eine unglaubliche Herausforderung, weil es sich um einen hochkomplexen Organismus handelt. Es ist etwas anderes, wenn man ein Stück für ein Ensemble schreibt, wo ein Dirigent am Ende sagt, wie es zu laufen hat, und die Musiker führen das aus. Beim Quartett setzen sich vier gleichberechtigte und hochqualifizierte Leute mit einem Notentext auseinander, und da beginnt ein Klang zu leben. Doch dieses Leben muss man erst einmal in musikalische Zeichen hauchen, die man dann diesen vier hervorragenden Geistern vorlegt. Vor der Herausforderung, die der Klang des Streichquartetts einem stellt, habe ich mich sehr lange gedrückt. Es ist viel einfacher zu sagen, ich schreibe für vier Instrumente, für Schlagzeug, Akkordeon, Gesang und Kontrafagott, denn da gibt es ganz viele Möglichkeiten, die einen affizieren. Beim sehr homogenen Klang des Streichquartetts muss man aber seinen eigenen Streichquartettklang finden.

Mainka komponierte sein zweites Streichquartett auf der Grundlage von Ideen und Skizzen, die er bei der Arbeit an seinem 2009 komponierten ersten Quartett verworfen hatte. Auffallend an seinem Stück sind prägnante Repetitionen und Motive, expressive Melodiebögen, Intervallfolgen und rhythmisierte Skalen. Neben Dissonanzen gibt es auch weiche Konsonanzen und zuweilen tonale Akkorde. Verarbeitet werden diese Materialien in einer Weise, die gelegentlich an die motivisch-thematische Durchführungstechnik der Klassik und der Moderne erinnert: Es gibt Abspaltung, Fortspinnung, Kombinatorik, metrische Versetzungen und hoquetusartige Stimmwechsel. Zudem setzt die Musik immer wieder neu an, und die Motivkerne lösen sich durch Wiederholungen und Überlagerungen in amorphe Lineamente und Geflechte auf. Neben der Klanglichkeit geht es Mainka auch um die spezifische Kommunikationsform des Streichquartetts:

Bestimmte Werke – etwa das zweite Streichquartett von Schönberg oder die späten Streichquartette von Beethoven, Webern oder Nono – lassen sich mit bestimmten Situationen der Komponisten und ihrem Schaffen verbinden und auch mit dem Begriff einer entfalteten Utopie zusammenbringen. Neben der klanglichen und kompositorischen Utopie geht es beim Streichquartett – wie bei Kammermusik insgesamt – auch um die Situation, dass sich hier Menschen über das zu vereinbaren versuchen, was sie gemeinsam erreichen wollen, ohne dass ein Dirigent Ansagen macht, und alle anderen müssen diese möglichst gut umsetzen, oder einer macht überhaupt alles ganz alleine, weil er ein Klaviervirtuose ist und einfach so lange üben kann, wie er Lust hat. Das sind unterschiedliche Modelle. Bei Kammermusik gibt es eine ganz andere Probensituation, wo nicht ein Dirigent den Ton angibt, sondern sich alle verständigen, um Schwierigkeiten gemeinsam zu lösen und Fragen der Interpretation auszudiskutieren.

Nicht-Ort und soziale Utopie

Das Zusammenspiel von vier gleichberechtigten Stimmen liefert – wenn man es denn so zuspitzen möchte – das Modell eines demokratischen Gemeinwesens: In Kammermusik und besonders beim Streichquartett agieren alle Subjekte emanzipiert, selbstverantwortlich und eigenständig. Sie leisten idealerweise erfüllte, nicht-entfremdete Arbeit in einem gleichwohl arbeitsteilig organisierten und hochgradig interaktiven Prozess, bei dem sie durch Wissen um die eigene Funktion und die Aufgaben der anderen im diskursiven Zusammenspiel zum Gelingen eines gemeinsamen Ganzen beitragen. So gesehen ist das Streichquartett als Königsdisziplin der Kammermusik ein Politikum und eine soziale Utopie. Enno Poppe brachte dies mit dem Titel „Tier“ seines ersten Streichquartetts von 2002 auf den Punkt: Das Streichquartett gleicht einem Vierbeiner, bei dem die vier Extremitäten ein Eigenleben führen und zugleich dem gesamten Organismus zu koordinierter Fortbewegung verhelfen.

Gleichwohl wird utopisches Denken normalerweise nicht mit Streichquartett in Verbindung gebracht. Der Philosoph Ernst Bloch sah darin ein universales Prinzip. In seinem dreibändigen Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ (1938–1959) spürte er utopischem Denken in allen Bereichen des Lebens nach: in Traum, Wunsch, Versprechen und konkreten Zielvorstellungen, in Alltäglich­keiten ebenso wie in Mythos, Religion, Politik, Weltgeschichte, Kunst, Kultur und natürlich auch in Musik. In allem menschlichen Wirken, Arbeiten, Denken und Hoffen erkannte Bloch einen „Ruf ins Entbehrte“, also den Wunsch nach Veränderung und das Aufscheinen eines Erwartungshorizonts. Im Hinblick auf die Dynamik der Geschichte der Gattung Streichquartett lässt sich Utopie vor allem zeitlich begreifen als das Noch-Nicht einer Zukunft, die werden könnte oder vielleicht werden sollte, weil sie besser als die Gegenwart zu sein verspricht.

Franco Evangelisti beispielsweise suchte mit seinem 1959 geschriebenen Streichquartett „Aleatorio“ einen Ausweg aus der damals von ihm als Zwang und Irrweg empfundenen Alternativsetzung, entweder seriell oder aleatorisch komponieren zu sollen. Stattdessen über­ant­wortete er den Musikern ein Feld an Möglichkeiten zur strukturellen Organisation des musikalischen Materials. Aus einer Reihe von notierten Vorschlägen wählen die Interpreten frei Tonhöhen, Rhythmen und Klangfarben. Auch Dynamik, Tempo und Charakter sollen sie bei jeder Aufführung verändern. Das Resultat ist ein offenes Kunstwerk, das sich fixierter Objekthaftigkeit entzieht. Es bleibt variabel, stets neu herzustellen und wieder verschwindend: Musik für den einmaligen, erfüllten Augenblick. Damit umreißt „Aleatorio“ vielleicht eine Utopie, sprich einen anderen sozialen Ort jenseits des sonst auf die Autoritäten von Komponist und Partitur verpflichteten Zusammenspiels der vier Musiker. In der ersten Berliner Gesprächsrunde verwies der Philosoph Christian Grüny darauf, dass der Begriff Utopie in der Geschichte der Philosophie und Literatur zunächst nicht zeitlich, sondern räumlich verstanden wurde:

Wollte man einfach die Besonderheit des Streichquartetts herausstellen, so hätte man das auch mit weniger Emphase tun können als mit „Utopie Streichquartett“. Denn Utopie ist ein extrem aufgeladener Begriff. Bloch liefert eine säkularisierte Fassung der eschatologischen Idee vom messianischen Zeitalter, das sich nicht am Horizont zeigt, aber irgendwann eintreten wird und von dem ein Vorschein zu uns dringt. Zunächst ist der Begriff Utopie aber ein räumlicher Begriff. Es heißt ja nicht U-Chronos oder Uchronie, sondern U-Topie, also Nicht-Ort. Utopie ist nicht unbedingt auf Fortschritt oder den Vorschein des Messianischen bezogen. Vielmehr wird ein Ort evoziert, an dem die Dinge anders sind und der gegen den eigenen Ort gehalten werden kann. Das hat bei Morus satirische Züge, noch viel stärker dann bei Jonathan Swift und anderen. Einen Ort gegen die eigene Wirklichkeit zu halten, hat immer etwas Augenzwinkerndes und etwas von einem Zerrspiegel, der der eigenen Welt entgegengehalten wird. Das ist aber vermutlich nicht gemeint, wenn von „Utopie Streichquartett“ die Rede ist. Gemeint ist aber auch nicht der Vorschein des messianischen Zeitalters, sondern die Speerspitze des musikalischen und künstlerischen Fortschritts. Dieser meint nicht nur Avantgarde wie im militärischen Sinne, da reitet jemand voraus und erobert das Feld, sondern immer auch mehr, als man begrifflich einholen kann und was dann in diesem extrem emphatischen Begriff Utopie zusammenkommt.

Wenn Utopie zunächst einmal „Nicht-Ort“ bedeutet, wie Christian Grüny mit Verweis auf den 1516 erschienenen philosophischen Dialog über „Die Insel Utopia“ von Thomas Morus unterstreicht, dann ist die Formulierung „Utopie Streichquartett“ ein Widerspruch in sich. Denn seit zweihundertfünfzig Jahren markiert die Gattung einen realen instrumentalen, kulturellen und sozialen Ort. Die Aufführungspraxis im Konzertsaal und die Ästhetik von Innerlichkeit, Arbeitsteilung, Spezialisierung, Leistungs- und Fortschrittsdenken entsprechen dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts aufgekommenen und noch heute allgemein vorherrschenden bürgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Das Streichquartett ist deswegen kein museales Bestandsstück eines ohnehin veralteten „Klassik“-Betriebs, sondern immer noch eine Form adäquaten Ausdrucks des unsere Gesellschaft prägenden bürgerlichen Selbst-, Diskurs- und Demokratieverständnisses. Andernfalls gäbe es nicht so viele Quartettformationen, Quartettabende und Komponisten, die neue Quartette komponieren. Eindeutig lokalisierbar ist am Streichquartett auch der klar definierte Besetzungsrahmen von zwei Geigen, einer Bratsche und einem Violoncello. Doch diese äußere Begrenzung bietet zugleich unglaublich viele Möglichkeiten des Umgangs mit diesem Instrumentarium. Die Quartette von Schönberg, Webern, Boulez, Cage, Scelsi, Xenakis, Lutosławski, ­Lachenmann, Nono, Stockhausen, Rihm und vielen anderen markieren jedes für sich einen bis dato unbetretenen Ort oder fremden Planeten. Konkret ins Werk gesetzt, werden diese utopischen Entwürfe dann freilich wieder zu benennbaren Orten und Teilen der Gattungsgeschichte.

Selbst wenn der Titel „Utopie Streichquartett“ für eine Konzertreihe etwas hochgegriffen scheint, ist nicht von der Hand zu weisen, dass kompositorische Aufbrüche zuweilen über innermusikalische Fortschrittsbewegungen oder Materialerweiterungen hinausreichen, von Komponisten auch ausdrücklich als Ausgriffe nach Neuem gemeint sind und vom Publikum auch so wahrgenommen werden. Darauf deutet ein Zitat vom Anfang der „Harmonielehre“, die Arnold Schönberg 1911 während seines kompositorischen Aufbruchs zur freien Atonalität verfasste: „Das Neue und Ungewohnte eines neuen Zusammenklangs schreibt der wirkliche Tondichter nur aus solchen Ursachen: er muss Neues, Unerhörtes ausdrücken, das ihn bewegt. Für die Nachkommen, die daran weiterarbeiten, stellt es sich bloß als neuer Klang, als technisches Mittel dar; aber es ist weit mehr als das: ein neuer Klang ist ein unwillkürlich gefundenes Symbol, das den neuen Menschen ankündigt, der sich da ausspricht.“

Ohne Schönbergs expressionistisches Pathos, aber von ähnlichem Aufbruchsgeist ist Helmut Lachenmanns erstes Streichquartett „Gran Torso“ von 1971. Diese frühe radikale Ausformung seines Ansatzes einer „musique concrète instrumentale“ durfte in der Konzertreihe „Utopie Streichquartett“ des Sonar Quartetts nicht fehlen. Zu Beginn des Stücks fordert Lachenmann vom ersten Geiger eine geradezu ikonographische Spielweise, die im Konzert nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen ist: Noch ohne einen Ton gespielt zu haben, stützt der Primarius sein Instrument senkrecht auf die Knie, um die Bogenhaare auf den Rücken des Korpus zu quetschen und ein energetisches Knirschen hervorzurufen. Der Musiker streicht also nicht wie sonst üblich den Saitensatz, sondern bearbeitet demonstrativ die Kehrseite des Instruments. Lachenmann geht es darum, den üblicherweise verborgenen mechanisch-energetischen Kraftaufwand und damit die Bedingungen der Hervorbringung von Klang freizulegen. Dazu lässt er den ersten Geiger – utopisch formuliert – einen Nicht-Ort seines Instruments auf dessen Klangpotential abtasten. Lachenmann möchte das Streichinstrumentarium nicht einfach benutzen wie vor ihm zahllose andere Komponisten. Vielmehr will er sich gemäß seiner Maxime „Komponieren heißt, ein In­strument bauen“ ein eigenes Streichquartett aus ungewöhnlichen Spieltechniken, Spielorten und geräuschhaften Klangspektren zusammensetzen. Das Angebot dieser neuen Klangwelt setzt zunächst die Verweigerung der gewohnten Praxis voraus. Für nachfolgende Genera­tionen verliert dann – gemäß dem Zitat aus Schönbergs „Harmonielehre“ – Lachenmanns instrumentalkonkrete Klangpraxis freilich ihre negative Kraft zugunsten einseitig positiver Akzeptanz als erweitertes Klangspektrum. Qualität wird so zu einer beliebigen Quantität neutralisiert. Zu „Gran Torso“ äußerte sich in der Berliner Gesprächsrunde auch Malte Giesen, der im Verhältnis zum 1935 geborenen Helmut Lachenmann dessen Enkelgeneration angehört. Er wurde 1988 in Tübingen geboren und studierte Komposition in Stuttgart, Paris und Berlin:

„Gran Torso“ war eines der allerersten Stücke, das mich überhaupt mit neuer Musik in Berührung brachte als ich siebzehn, achtzehn Jahre alt war. Damals gab es einen Workshop mit Helmut Lachenmann. Doch aus historischer Perspektive wurde zunächst von anderen vermittelt, dass bei diesem Stück dieses oder jenes nicht gemacht wird, die Instrumente beispielsweise nicht mit dem Bogen traditionell auf den Saiten gestrichen werden und so weiter. Es ging um die Negation, also um all das, was nicht gemacht wird. Doch dann kam Helmut Lachenmann und erzählte ganz begeistert von diesen Klängen und diesem Rauschen. Da hat man gemerkt, er hat etwas entdeckt, er bietet etwas an, es geht ihm wirklich um das positive Anbieten einer anderen Seite oder Perspektive. Die Qualität seines Quartetts zeichnet sich nicht dadurch aus, was hier nicht gemacht wird, sondern eben dadurch, was es anbietet. Und das ist dann letztlich der zeitlose Aspekt daran: ein Angebot von dem, was ich so noch nicht gehört hatte. Bartók-Pizzikato gab es schon 1673 bei Heinrich Ignaz Franz Biber, wo auch schon auf das Griffbrett geschnalzt wurde, um Musketenschüsse zu imitieren, und da wurde das Instrument auch schon mit Papier präpariert. Das alles war schon da, nur ich habe es eben in der Art und Weise noch nie gehört wie bei Lachenmann, und das macht sein „Gran Torso“ so spannend und zeitlos.

Ton- und Ortswechsel

Die Berliner Konzertreihe „Utopie Streichquartett“ des Sonar Quartetts präsentierte auch das 2014 entstandene „Divertimento“ von Malte Giesen. Der Titel beschwört einen Typus frühklassischer Unterhaltungsmusik und unterwandert so elegant den traditionell mit der Gattung Streichquartett verbundenen Kunst- und Innovationsanspruch. Die Bezeichnung „Streichquartett“ erscheint dagegen nur noch als Besetzungsangabe: „Divertimento“ für Streichquartett und Elektronik. Das live spielende Quartett wird elektronisch verstärkt und zugleich mit vorproduzierten Sounds und transformierten Quartettklängen kombiniert. Solcherart verdoppelt entsteht aus dem Quartett ein instrumental-elektronisches Hybrid-Instrument, das über andere, verfremdete, sirrende, stotternde und in Extremlagen transponierte Klänge verfügt. Material aus Mozarts Divertimenti KV 136 und KV 138 erscheint so in einer anarchisch-spielerischen Scratch-Version. Malte Giesen lässt sein Stück aus dem Bereich des herkömmlichen und auch spieltechnisch erweiterten Quartettklangs an einen anderen sozialen Ort auswandern, heraus aus dem gewohnten Bereich bürgerlicher Kunst- und Kammermusik in die anders geartete Sphäre von Pop-, Noise-, Club- und Jugendkultur.

Es kann eine gute Strategie sein – und das habe ich eine Zeitlang auch verfolgt –, sich als Komponist mit Tradition so dermaßen zu überfüttern, dass man irgendwann keine Lust mehr darauf hat und nochmal neu ansetzt. Als ich an dem Punkt war, wo erstmals im Raum stand, auf Anfrage ein Streichquartett zu schreiben – ich hatte darüber auch schon selber nachgedacht –, da musste ich wirklich überlegen, ob mir da überhaupt etwas einfällt und dem bereits Bestehenden noch etwas hinzuzufügen ist. Man ist ja nicht allein, sondern in Dialog mit allem, was davor geschrieben wurde und was noch kommt. Und gerade bei dieser Königsdisziplin – auch bei Orchesterstücken – ist man total blockiert von so wahnsinnig viel Gewicht. Es gab eine lange, lange Phase der Überlegung. Letztendlich war es dann eine bewusste Entscheidung, einfach wegzugehen von diesem sehr schweren und sehr hohen Anspruch, von diesem riesigen Gewicht, das da auf einem lastet, zu einem anderen Angebot. Ich wollte ganz bewusst auch diese Blütezeit der Quartette thematisieren und nochmal in diesen Klang hineingehen. Dazu habe ich mich für Mozarts drei „Divertimenti“ entschieden, für Stellen aus dem ersten Satz von KV 136 und KV 138 sowie einen kleinen Ausschnitt aus dem Andante. Ich bin sozusagen den Weg über die Frage gegangen: Was war das historisch für eine Musik? Eben Unterhaltungsmusik zum Essen oder nebenher. Und ich habe mich gefragt, was wäre heute das Analogon dazu, und was sind die kompositorischen Techniken der heutigen Unterhaltungsmusik? Beides habe ich dann zu verknüpfen versucht und geguckt, was kommen für neue, ungewohnte Charaktere heraus. Die Elektronik spielt dabei – wie immer bei mir – eine Rolle des Beobachtens, wie ein Instrument zur Analyse. Elektronik ist bei mir keine zusätzliche Stimme, die das Ganze irgendwie elektronisch klingen lässt, sondern tatsächlich eine andere Ebene, die das Ganze bricht, anders reflektiert und auch andere Möglichkeiten des Zusammenhangs zwischen Instrumenten und Elektronik schafft. Ob mein Stück dann vor der Gattungstradition gekonnt ausgewichen oder gestolpert ist, wird man sehen.

Neben neuen Quartetten von Malte Giesen, Jörg Mainka, Gérard Pape und Michael Wertmüller präsentierte das Sonar Quartett in der Berliner Akademie der Künste auch eine Uraufführung von Chiyoko Szlavnics. Die aus Kanada stammende und seit 1998 in Berlin lebende Komponistin hat unter anderem bei James Tenney studiert. Wie anderen Werken legte sie ihrem Streichquartett „Flutter“ (2017) eine selbstgezeichnete Graphik zugrunde. So wie sich darin Schraffuren und Linien überlagern, kreuzen, eng zusammenkommen und voneinander wegbewegen, verlaufen im Stück die vier selbständigen Stimmen. Die in reinen Quinten gestimmten Saiten der Streichinstrumente werden im ersten Teil des Stücks ausschließlich mit natürlichen Flageoletts bespielt. Da diese auf jeweils anderen Saiten hervorgebracht werden, entstehen verschiedene natürliche Obertöne – dritter, fünfter, siebter, elfter –, die sich zu mikrotonalen Differenzen überlagern. Es kommt zu eben jenen Rauheiten und pulsierenden Schwebungen, die der englische Werktitel „Flutter“ benennt.

Utopisch beim Prozess der Herstellung dieses Stücks ist, dass es aus Zeichnungen entstanden ist. Die Zeichnung kann sehr einfach oder auch eine sehr raffinierte Art mensch­lichen Ausdrucks sein. Es ist eine imaginäre Klangwelt, die ich höre und dann tatsächlich in Musik umwandle. Bei „Flutter“ wollte ich sehr, sehr reduzierte Materialien erzeugen. Ich wollte ganz essentiell bleiben und nicht zu viel machen, sondern quasi Unisoni erforschen und komponieren. Die vier Instrumente spielen alle in einem ähnlichen Tonhöhenbereich und sind fast wie ein Instrument. Sie bringen viele natürliche Obertöne hervor, keine künstlichen Flageoletts. Auf dem Cello kommen diese Obertöne besonders gut heraus, weshalb es den anderen Instrumenten die Töne und Intonation vorgibt. Dadurch entsteht eine sehr enge Zusammenarbeit der vier Musiker, die stark voneinander abhängig sind und letztlich gemeinsam einen Klang hervorbringen. Wenn man das Stück hört, weiß man nicht genau, wer was spielt, weil die Stimmen in sehr ähnlichen Bereichen spielen. Vielleicht ist das utopisch?

Szlavnics’ Streichquartett „Flutter“ besteht aus zwei Sätzen. Dem Flageolett-Satz folgt ein zweiter, bei dem sich lang gestreckte Glissandi gegeneinander verschieben, so dass es auch hier zu mikrotonalen Überlagerungen kommt. Beide Sätze verfolgen also mit verschiedenen Mitteln dasselbe Ziel. Die Töne kreuzen sich, verschmelzen zu Unisoni oder gleiten auseinander und erzeugen flirrende Schwebungen, komplexe Harmonien und leuch­tende Dur- oder Spektral-Akkorde. Die Hörer erleben den Tonraum als ein fließendes Kontinuum, innerhalb dessen musikalisch prinzipiell alles möglich ist: Mikrointervalle und Geräusche ebenso wie klar definierte Tonhöhen und Dreiklänge oder – wie in anderen Streichquartetten – Gesten, Motive, Bezugnahmen auf historische Musik, unterschiedliche mediale Erweiterungen sowie verschiedenste Interaktionsweisen zwischen den Musikern.

In der langen Reihe von insgesamt zwanzig Streichquartetten des vergangenen und gegenwärtigen Jahrhunderts, die das Sonar Quartett in Berlin aufführte, verlieh dieses letzte Stück „Flutter“ von Chiyoko Szlavnics dem Titel der Konzertreihe „Utopie Streichquartett“ Nachdruck. Denn einmal mehr wurde deutlich: Die Gattung Streichquartett definiert einen Tonraum von vier live spielenden Instrumentalisten und zugleich – wie letztlich jede Besetzung – einen nahezu unendlichen Möglichkeitsraum für das kompositorische Denken, Experimentieren und hörende Erleben. Zwar schreibt kein Komponist ein Streichquartett, um die Welt zu verändern, was vermessen wäre. Auch die lange Gattungstradition mit einem neuen Werk zu wenden, wäre ein immenser Anspruch. Doch mit einem neuen Quartett zumindest das eigene Schaffen in eine individuell neue Region zu treiben, liegt durchaus im Bereich des Machbaren. Insofern mag jede Komponistin und jeder Komponist in dem von ihr oder ihm geschriebenen Streichquartett für sich persönlich hinsichtlich eines bestimmten Aspekts eine kleine Utopie erkennen.

Und vielleicht entfaltet die alte bürgerliche Gattung auch darüber hinaus etwas Utopisches, gerade heute als klar bestimmter sozialer, kultureller und instrumentaler Ort. In unserer zunehmend technologisch überformten Informations-, Telekommunikations- und Mediengesellschaft, die augenblicklich mehr Dystopien als Utopien hervorbringt, verdichtet sich die geforderte zwischenmenschliche Interaktion, Sensibilität und Hellhörigkeit der vier Musiker hier und jetzt im Konzert zu einem lebendigen Gegenentwurf: „Utopie Streichquartett“!