MusikTexte 163 – November 2019, 43–48

Das Wiedererblühen der Rose

Zum Werk des argentinischen Komponisten José Manuel Serrano

von Wolfgang Rüdiger

Einem uralten Mythos zufolge ist der Phönix, griechisch phoínix (= purpurrot), ein heiliger und heilender, mit magischen Kräften ausgestatteter Vogel, der nach langem Leben im selbst entfachten Feuer verbrennt und aus der Asche in neuer Gestalt ersteht (so eine Fassung der Legende) – Sinnbild für Wandlung und Wiedergeburt, das über die Zeiten mannigfache Darstellungen und Deutungen in Kunst, Literatur und Musik erfahren hat.1 Seinem zentralen Bestandteil, der Asche, aber hat keiner bislang eine solche Reverenz erwiesen wie der 1982 geborene argentinische Komponist José Manuel Serrano. Vier seiner Werke, einem Zyklus gleich, tragen Asche, spanisch „ceniza“, im Titel: „Cenizas blancas“ (2017) für Englischhorn, Bassklarinette und Fagott, „Cenizas de un madrigal triste“ (2016) für Oboe, Schlagzeug, Cembalo und Kontrabass (nach dem gleichnamigen Gedicht aus Charles Baudelaires „Die Blumen des Bösen“), „Cenizas de Jayyam“ (2011) für Altsaxophon (oder Bassklarinette), Fagott, Schlagzeug, Violine und Viola (auf den persischen Forscher, Philosophen und Dichter Omar Chayyām), und „Cenizas“ (2010, rev. 2014) für Violoncello.2

Auch dort, wo ein Werk nicht nach ihr benannt ist, prägt „Cenizas“ als Metapher und Modell das kompositorische Denken José Manuel Serranos, vor allem im geheimen Aschestück3 „Rosa de Paracelso“ (2014) für Flöte (Bassflöte und Piccolo) und Streichquartett. Chronologisch wie ästhetisch auf dem Scheitelpunkt der vier „Cenizas“-Werke angesiedelt, ohne vordergründig auf die zentrale Inspirationsmetapher Bezug zu nehmen, steht „Rosa de Paracelso“ exemplarisch für die kompositorische Poetik Serranos, so dass sich von hier aus weitere ausgewählte Werke und Grundzüge seines Schaffens erschließen lassen. Was geschieht in „Rosa de Paracelso“, wie ist das ca. sechsminütige Stück komponiert? Und was ist sein Hintergrund, welche Idee verfolgt es?4

Rosa de Paracelso (2014)

Auffällig erscheint beim ersten Blick das ebenso aufgelockerte wie statisch anmutende Klangbild des Beginns: zwei der fünf Stimmen (Violine 1 und 2) sind bis Buchstabe A weiß, und das den ersten Abschnitt tragende Trio aus Violoncello, Viola und Altflöte bewegt sich kaum vom Fleck. Oder doch?

Aus dem Nichts setzt das Violoncello sul ponticello mit C ein, das sich in einem plötzlich aufwallenden Crescendo-Decrescendo in die um einen Viertelton erniedrigte Oktave spreizt, schattiert von dem um einen Viertelton erhöhten c in der Viola. Auf diesem dunkel-rauen Fundament ruht das statische, um einen Viertelton erniedrigte d der Altflöte im Piano, das kaum merklich den Impuls zur mikrotonalen Bewegung setzt und zu Beginn von Takt 2, nachdem das Cello in sein initiales C zurückgesunken ist, ppp alleine übrigbleibt. – Die mikroskopische Beschreibung des ersten Taktes entspricht der Musik: Vier Tonhöhen im Ambitus einer Sekunde (c Viertelton tief - c - c Viertelton hoch - d Viertelton tief, das cis bleibt ausgespart) bilden ein enges, in T. 2 wiederholtes mikrointervallisches Geflecht gestisch aufgeladener, durch die exaltierte Cello-Dynamik in Erregung versetzter Klänge; kein Ton ohne Dynamik-Scheren.

Aus dem Unisono-C Ende Takt 2 entwickelt die Altflöte in Takt 3 eine zart aufblühende Knickfigur, erweitert zur Kleinterzfolge c-es-d(-f) und grundiert von einer kurz aufscheinenden Doppeloktave des Cellos, welches in Takt 4 das d der Flöte übernimmt und zusammen mit neu eingeführtem b in den diatonischen Cluster C-B-d im fff ausbricht, während die Viola ihre Schattenfunktion beibehält. Das Kleinterz-Sekund-Motiv c-es-d(-f) in der Altflöte erweitert sich zur melodischen Quart-Figur f-d-c Takt 4, deren Ziel indes, nach kurzem Unisono-C in Takt 4-5, ein Absinken ins um einen Viertelton erhöhte h ist, mikrotonaler Seufzer und Tiefpunkt nach dem tonalen Raumgewinn. Die Flöte setzt in Takt 7 mit d auf Cellofundament C ein, das erstmalig zum neu eingeführten Cis Viertelton tief und dann zum Cis ansteigt, und seufzt in einer Doppelgeste d-cis-c (mit Stimme) und es-des-c zurück zum Ausgangston c, den das Cello (analog Flöte Takt 6) mit Glissando ins h hinabsinken lässt – Ende des ersten Formteils, dessen Tonmaterial einen mikrotonal ausgefüllten Tritonus umfasst (ohne den Ton e, der vorerst ausgespart bleibt).

Notenbeispiel 1: „Rosa de Paracelso“, Frame I, T. 1 – 11 (12 GP)

Schon in diesen ersten Takten sind alle signifikanten Klänge, Motive, Farben und Figuren in nuce versammelt, die sich im Laufe des Stückes entfalten und eine Geschichte erzählen von Enge und Weite, Erregung und Beruhigung, Anstieg und Absinken, Dunkel und Licht. Eine permanente Wandlung prägt jedes Detail wie das Ganze. Denn in immer neuen Permutationen, Registerwechseln und Beleuchtungen erscheinen die konstitutiven Klangmuster und Motive des vierundneunzig Takte umfassenden Werkes, das sich in zirka zehn Formteilen oder besser Frames organisiert – Rahmen für kaleidoskopartig wechselnde Bilder, die aufs engste miteinander verwoben sind. Ein Überblick über die blockhaft angeordneten „Stationen“ und Klangwandlungen des Stücks, das eher einen Zustand beschreibt als einer diskursiven Logik folgt, offenbart die Grundidee von „Rosa de Paracelso“ ebenso wie Grundzüge der Schaffensweise des Komponisten:

Frame I: T. 1 – 12 (Generalpause = GP), Viertel = 60: mikrointervallisches Geflecht um C mit explosiven Oktav-Crescendi im Cello, Grundmotiv c-es-d(-f), erweitert zum Quartrahmen f-d-c in der Flöte, mikrotonale und chromatische Seufzer, flüchtiger Lichtschein im Oktav-Flageolett des Cellos, Erweiterung des Tonmaterials und -umfangs zum Tritonus h-f, dunkler Klang, dichte Textur, Bewegung abwärts, Cello-Glissando c-h.

Frame II: Buchstabe A T. 13 – 19, Viertel = 50 Poco meno mosso: Oktavversetzung nach oben in Cello und Flöte mit Anknüpfung c-h-d’ = Krebsumkehrung des Grundmotivs, verschränkt mit rückführender Seufzerfigur (Suspiratio) d-cis-c in der 1. Violine = Motiv Flöte T. 7-8 in neuer Farbe, Öffnen und Schließen; Seufzer h-b-a in Klangfarbenlinie von Flöte, 2. Violine und 1. Violine mit schroffem Cello-Cluster C-d-es im ff, horizontal entfaltet zur Seufzerfigur b’-es’-d’ der 2. Violine.

Frame III: T. 20 – 29, Viertel = 60 Tempo primo: Eingestrichene Oktave im Cello mit zerschnittenem Seufzer a-gis-g im pp (Suspiratio), rhythmisch schattiert von Violinen und Viola plus Ton b in der Flöte = chromatischer Cluster; fluktuierendes Timbre und melodisches Linienführung; Flöte Sextbewegung b-des abwärts, Cello Kleinterz-Zelle g-b-g, nach heftiger Interruption C chromatisch weitergeführt in fis-f, Flöte b-g’ aufwärts, stehender Sekundklang f’-g’ in Cello und Flöte und g’ Flöte allein; Quintanstieg des Cello-Grundtons vom C zum G (plus A); Ausweitung von Intervallen, Registerlagen, Tonmaterial bis zum chromatischen Total (ohne e).

Frame IV: Buchstabe B T. 30 – 44 (GP): enge Verknüpfung T. 29-30 durch Suspiratio b-(c’)-a-gis-g; Flöte g-f-d’, Viola Seufzer f-e (neue Tonhöhe); Grundmotiv erweitert zur Klangfarbenmelodie d’’-c’’-es’’-d’’-b’ in Hoquetus und hoher Lage der Streicher; diatonischer Cluster Cello C-H-d; Echo Flöten-„Melodie“ im Cello – Generalpause.

Frame V: T. 45 – 53, Viertel = 50 Poco meno mosso, T. 48 Viertel = 70 Più mosso: Fortissimo-Attacken und chromatische bis vierteltönige Glissando-Seufzer („gewaltsam“) in den Streichern mit Grundmaterial C-cis-d-es; Flöte und Violoncello zerschnittene Unisono-Glissando-Linie es-d-cis-c (analog den Seufzerfiguren T. 8-10), Cello c-h-Seufzer Crescendo ins fff; mikrotonal, zerrissen, in heterophonem oder „ungenauem Unisono“ (Adorno)5 begleitet bzw. antizipiert von Viola; T. 52-53 Halbtonglissando aufwärts (Viertelton tief zu hoch); barocke Figuren (Suspiratio, Tmesis, Passus duriusculus, Katabasis).

Frame VI: Buchstabe C T. 54 – 61 (GP), Viertel = 50 Meno mosso: Grundmaterial mit neuer Farbe und „Tönung“ Kleinterz cis-e-cis in Flöte, gefolgt von wiederholter Kleinterz c-es, solistisch offen in T. 58 = Goldener Schnitt des Werks; Umkehrung f-d in T. 59 mit Schärfung d-es im Cello; Kontrast durch mikrotonale Kleinsekund- und Kleinterz-Glissandi abwärts in den hohen Streichern; modaler Tetrachord c-d-es-f in der Flöte (zusammen mit cis-e = chromatisch gefüllter Quartraum); konsequente Ausdünnung der dichten Textur mit Hervortreten des konstitutiven Kleinterzmotivs c-es mit Umkehrung f-d; GP.

Frame VII: Buchstabe D T. 62 – 69 (GP); Viertel = 80 Più mosso: Quartanstieg von Grundmotiv und Glissandi: Flöte b-g und c-a; Knickfigur a-b-g im Cello; hohe Streicher verschiedene Glissandi aufwärts vom Cluster fis-g-gis aus; Ausdünnung und Vereinzelung zur Klangfarbenlinie a-b-des-b in Cello (mit singulärem Vibrato als besonderer Ausdrucksfarbe, überraschend), Flöte, Violinen; Cello-Seufzer a-gis (simultan), GP.

Frame VIII: T. 70 – 80, Viertel = 40 Molto meno mosso, Fermate T. 71: mikrotonale Cluster mit leisen Glissandi abwärts, Katabasis b-a-gis-g-fis-f-e; Flöte und Cello-Glissando quasikadenziell in d T. 81 hineinführend.

Frame IX: Buchstabe E T. 81 (83 GP) – 87 (GP lang), Viertel = 80 Molto più mosso: Cello und Viola fff-Ausbruch und Attacke C-H-d-cis, Flöte Seufzer d-cis – GP – crescendierender Cluster Cello/Viola; Cello H-d-e, verschränkt mit Flöte Kernmotiv d-e-cis (plus Viola-Schatten) – Muta a Piccolo.

Frame X: Buchstabe F T. 88 – 94 (GP, Fermate), Viertel = 70 Poco meno mosso: Umschlag in neue Qualität, Transformation in einen anderen Zustand: über gleißend hohen Streichern (Viola e’’’/ f’’’, Cello f’’ Viertelton tief, 1. Violine e’, 2. Violine g’’) kantable modale Melodie der Piccoloflöte mit Quartsprung a-d’-b-a (Viertelton tief) -g-a, tonale Anabasis d-e-f-g-a mit „Kadenz“ f Viertelton tief -d-g.

Notenbeispiel 2: „Rosa de Paracelso“, Frame X T. 88 – 94

Notenbeispiel 3: Tonale Analyse „Rosa de Paracelso“, Frame I – X

Auf der Mikroebene des Stücks zeigt sich somit ein äußerst genauer, ja akribischer Umgang mit präzise gesetzten Einzeltönen und signifikanten Intervallen, denen eine spezifische expressive, genauer: affektive Qualität eignet. Denn Serrano arbeitet mit barocken Affektfiguren wie Suspiratio, Tmesis, Passus duriusculus, Katabasis (überwiegend), Anabasis (vornehmlich zum Schluss), die mikrotonal gefärbt, zu Clustern zusammengefaltet und zu engmaschigen Texturen verdichtet, in fluktuierende Timbres überführt und gehaltlich aufgeladen werden. Organisiert werden sie mittels Spiegel- und Permutations-Techniken sowie verschobenen („ungenauen“) Unisono-Linien und Hoquetus-Verfahren, wobei die melodisch-horizontale und die harmonisch-vertikale Materialkonzeption eng miteinander verflochten sind, das eine spiegelt das andere wider.

Auf der Makroebene entspricht dem ein genau kalkulierter Tempo- bzw. Zeitplan, einem expressiven Vor- und Zurückschalten gleich, mit genau bestimmten Dichtegraden, Übergängen, Generalpausen – bis zum finalen Umschlag in eine neue Qualität von Schönheit und Gesang, die als Potenzial in den vor innerer Spannung bebenden Mustern und Motiven bereits enthalten ist, als sei das eine – die ungebärdigen Ausbrüche des Beginns, die an- und abschwellenden Einzeltöne, die sich herauskristallisierenden Intervalle, der Anstieg der Registerlagen, das Kleinterzmotiv – die Kehrseite des anderen: der zarten lichtumflossenen Kantilene, die, einem Hoffnungsstrahl gleich, nur kurz aufleuchtet, unter Berührungsverbot gleichsam (noli me tangere), und verglimmt, Feier der Verwandlung, Utopie pur.

Und in der Tat, bei genauem Hinsehen und Hinhören formen die membra disjecta des Beginns: das Kleinterz-Kernmotiv c-es und d-f (später chromatisch vermittelt mit cis-e) das Material der sehnsüchtig ansteigenden Melodie der Verwandlung, zu der die verstreuten Glieder sich am Schluss zusammenfügen, zur Quinte ansteigen: d-e-f-g-a und in einer quasikadenziellen Gebärde ausatmen – wie wenn wahre künstlerische Erkenntnis bei aller Schwärze nicht des schwachen Lichts entraten könnte, „das von der Erlösung her auf die Welt scheint“.6

Wie entstand das Stück, wie vollzieht sich der Kompositionsprozess, und was steht im Hintergrund von „Rosa de Paracelso“? Prüfen wir unsere analytischen Beobachtungen an der „expliziten Poetik“ des Komponisten.7

Kompositorische Poetik und poetischer Hintergrund

„Rosa de Paracelso“ entstand wie viele Werke José Serranos aus einem Wechselspiel von Improvisation und Imagination, genauer: Experimentieren mit Stimme und Instrumenten – ich singe gern und spiele dazu auf meinem Hauptinstrument Gitarre oder dem Violoncello als Kompositionsinstrument – und Ausarbeiten. In der Phase der Ideen- und Materialfindung dialogisieren und interferieren verschiedene Klangfarben und -schichten, die in einem kreativen Loop allmählich Gestalt gewinnen: Improvisationen mit Stimme und Instrument – Hören – freies Fusionieren – mentale Vorstellung – Aufnahmen – erste Skizzen. Aus der Fülle frei sich entwickelnder Klangmaterialien, Transkriptionen, Ausarbeitungen (der Arbeitsweise Scelsis verwandt, nur in Eigenregie) trifft der Komponist eine Auswahl von Texturen, die dem frei flottierenden Klangstrom Kontur verleihen und dem Stück eine Richtung geben. Solche Texturen entstehen aus der Interaktion bzw. Kombination verschiedener Elemente in unterschiedlichen Dichtegraden – Beispiele: eine Kombination von diatonischem Cluster und darüber gelagerter Melodie – ein Crescendo-Decrescendo-Klang mit Glissando abwärts – statische Einzelklänge als Folge der Ausdünnung einer dichten Textur aus Elementen wie Cluster, Glissandi, „Melodie“-Motiven (zum Beispiel in Frame VII).

„Rosa de Paracelso“ ist ein Paradebeispiel für diese Verfahrensweise: Der Beginn entspringt improvisatorischem Cello-Spielen mit C und mikrotonaler Oktave, worüber sich eine melodische Linie der Stimme erhebt, die später in die Bassflöte gelegt wird. Die Viola-Stimme ist das Zeugnis einer „Post-Elaboration“ mit 3 C-Oktaven: Viertelton tief und Viertelton hoch gleich Halbton. So entstehen aus Klang und geistiger Verarbeitung zirka dreißig Sekunden Musik in my mind, die im Schreibprozess übernommen, relativiert und modifiziert werden. Ähnlich entwickeln sich die nächsten Phrasen, Texturen, Übergänge in einer additiven Vorgehensweise, die für Serranos Schaffensprozess charakteristisch ist.

Meine Musik ist sehr rhapsodisch, wie eine Fantasie, eine stete Veränderung der Formen, ein Weg von einer Textur zur nächsten mittels Modulation, Transition und Kontrast – eine fluide, fantasievoll-sinnliche Weise des Komponierens ohne formale Vorstrukturierung, von Moment zu Moment, aber in meiner Fantasie mit einer halben Idee von einer größeren Form als Resultat der Möglichkeiten des Materials. Der Formgehalt der Musik Serranos ergibt sich aus der Eigenbewegung der Klänge bzw. der „zufällig“ entstehenden Texturen, die dem denkenden Ohr ein sinnliches Angebot zur weiteren Ausarbeitung unterbreiten; die momenthafte Vorgehensweise schlägt um in eine neue Qualität formaler Gestaltung, die aus der Tendenz des „Rohstoffs“ oder „Materials“ entspringt, dem bereits eine eigene Intelligenz innewohnt.

Ein sinnfälliges Beispiel für die additive, gleichwohl verflochtene oder „verflechtende“ Arbeitsweise mit Rück- und Vorbezügen ist Frame II von „Rosa de Paracelso“ (Buchstabe A Takt 13 ff.), wo die Flöte aus dem Schatten des Beginns heraus- und als melodische Hauptstimme mit harmonischer Begleitung von Violine und Violoncello hervortritt – eine komplett andere, neue, gleichwohl vermittelte Textur in leiser Dynamik, zurückhaltender Artikulation, heller Klanggestalt, verinnerlichter Expression. Serrano verweist an dieser Stelle auf sein Vorbild Claude Debussy, „Ce qu’a vu le vent d’ouest“ aus den „Préludes“ Heft 1, ebenso wie das offene Kleinterz-Echo der Flöte in Takt 58 ein Anklang an das Werk seines Lehrers Mariano Etkin ist. Nicht nur die innerkompositorischen Züge, sondern so manche Zeiten und Zonen der Geschichte verschränken sich im Werk Serranos.

So steht „Rosa de Paracelso“ exemplarisch für ein Entstehen von Form als rhapsodische Entwicklung in der Zeit, innen wie außen, mit etlichen Anspielungen und Übergängen. Die Textur wandelt sich ständig – wohin? Nirgendwohin, allenfalls in ein Helldunkel, dem Chiaroscuro der Malerei vergleichbar, in melancholischer Grundatmosphäre von Dunkelheit und Licht als Hoffnungsschimmer – ein Licht, dass nur ganz kurz aufleuchtet und von einem schnellen Absturz in Traurigkeit gefolgt ist.

José Serranos Musik fasziniert als eine Musik des Zwischen, eines permanent sich wandelnden Schwebezustands zwischen den Farben, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Leben und Tod, Innen und Außen, und dies bei einer weitgehend intuitiven Entstehung von Form aus der Bewegung des fein ausgehörten Materials – eine Musik auf der existenziellen Schwelle, der Schatten-Grenzen in unendlicher Oszillation – und darin, nach Selbstaussage des Komponisten, vollkommen Anti-Beethoven: ohne Botschaft und Entwicklung, mehr Zeichnung sinnlich-seelischer Zustände als Zielstrebigkeit und Überzeugenwollen. Serrano verortet sich selbst in der Traditionslinie Schubert, Chopin, Berlioz, Debussy, Etkin – einer nicht-prosaischen, zutiefst poetischen Musik der Seelenfarben-Dialektik, die erblüht und endet, wenn die „stillen Wandlungen“8 der Texturen, Tensionen und Tendenzen erfüllt sind – und darin durchaus auch ein Spiegel der introvertierten, höchst sensiblen Persönlichkeit des Komponisten, der nicht auf Überzeugung anderer aus ist, sondern in stillem Respekt vor der Fülle aller Wesen und Weisen Seins Werke schafft und Menschen und Zeiten, Eigenes und Fremdes zusammenführt in einem tagträumerischen Zwischenreich von Kontemplation und Intention, Entdecken und Empfangen.9

Serranos Poetik der Hingabe an die offenen Wege und Möglichkeiten des Materials, unter Verzicht auf ein vorgeschaltetes System, jedoch unter genauester Kontrolle des kompositorischen Ohrs, erinnert an ein in Zeiten von Konzeptualismus (Johannes Kreidler, Martin Schüttler u. a.), Social Composing (Brigitta Muntendorf) und Embedded Art (Hannes Seidl) immer noch gültiges beziehungsweise unabgegoltenes Postulat einer „informellen Musik“, das Serranos Werk auf klangsinnlich einzigartige Weise einlöst. „Gemeint ist eine Musik, die alle ihr äußerlich […] gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat, die aber, vollkommen frei vom heteronom Auferlegten und ihr Fremden, doch objektiv zwingend im Phänomen […] sich konstituiert. […] Die klangliche Dimension ist vielleicht die sinnfälligste der neuen Musik, von ihr erst vollends frei gesetzt. […] Sie ist aber in Werken, die zählen, nie Selbstzweck, sondern, gerade als emanzipierte, Funktion des kompositorischen Zusammenhangs und zugleich dessen Ferment. […] Die Avantgarde verlangt […] eine Musik, die den Komponisten überrascht wie den Chemiker eine neue Substanz im Reagenzglas. […] Die Spannung von Vorstellung und Unabsehbarem ist selber ein Lebenselement der neuen Musik.“10 Indem Serrano mit feinstem Sensorium der Tendenz des zugefallenen beziehungsweise eingegebenen Materials sich überantwortet, entäußert er kompositorische Subjektivität an „die Regung dessen, was nicht selbst Subjekt ist“,11 und erschafft eine Musik, die ebenso subtil komponiert wie selbstlos ist, nah an der Sinnlichkeit und Intelligenz der Klänge und damit völlig gelöst und gewaltfrei, dem Weinen nah, doch gänzlich unsentimental, klingendes Bild von Freiheit und Humanität.

Entstand „Rosa de Paracelso“ zunächst aus Klang, Texturen, Transitionen, so erscheinen Titel und Thema ebenso als Ergebnis einer Eingebung: dass auch dieses dichte, komplexe Stück der Zwischen-Zustände, der ständigen Modulationen und des Chiaroscuro in extremo (tief-hoch, laut-leise, dunkel-hell) mit Ascheformen zu tun hat. Im Prozess der Klangentwicklung steigt die Erinnerung an Jorge Luis Borges’ Erzählung „Die Rose des Paracelsus“ auf, eine Geschichte der Wandlungen, an deren Ende die Rose aus Asche neu ersteht.12 Das Geheimnis der alchimistischen Verwandlung aber bleibt dem ungläubigen Schüler verborgen: Paracelsus:„Glaubst du vielleicht, es könne irgendetwas dem Nichts überantwortet werden? […] Ich sage dir, dass die Rose ewig ist und dass nur ihre Erscheinung sich ändern kann.“ Der Schüler: „Lass mich weiter die Asche sehen. Ich kehre zurück, wenn ich stärker bin, und dann werde ich dein Schüler sein und am Ende des Wegs die Rose sehen.“ – „Paracelsus blieb allein. Bevor er die Lampe löschte und sich in den ermatteten Sessel niederließ, nahm er das feine Häufchen Asche in die hohle Hand und sagte mit leiser Stimme ein Wort. Die Rose erstand aufs neue.“13

Diese Erkenntnis aber, dass Asche und Rose, Verlöschen und Erblühen, Leben und Tod zwei Seiten derselben Medaille sind und lediglich Zustandsänderungen eines gleichen Phänomens, ist zentral für Serranos helldunkles Flöten-Streicher-Quintett ebenso wie für sein existenzielles und spirituelles Werkschaffen insgesamt. Nach „Rosa de Paracelso“, ein Werk, das ihn in eine anderthalbjährige Kompositions- und Lebenskrise stürzte, begann er mit neuen Dingen zu experimentieren, wie stets unter dem inspirierenden Einfluss von Literatur, Bildender Kunst, Philosophie, Film – woraus Werke wie „Smultronstället“ (2015, rev. 2017) für Bassflöte, Bassklarinette, Klavier, Schlagzeug, Violine, Viola und Violoncello nach dem gleichnamigem Film von Ingmar Bergman („Wilde Erdbeeren“,1957) und „Cenizas de un madrigal triste“ (2016) für Oboe, Schlagzeug, Cembalo und Kontrabass nach dem Gedicht von Charles Baudelaire entstanden (mit fünfzehn Minuten Serranos längstes Werk). Ein für den Komponisten sehr wichtiges Werk dieser Nach-„Rosa“-Phase14 ist „Cenizas blancas“.

„Cenizas blancas“ (2017) – Weiße Asche

Das Trio für Englischhorn, Bassklarinette und Fagott15 spannt, wie alle Werke, ein Netz von Bezügen in verschiedene temporale, kulturelle, lokale, artistische und personale Richtungen. Unter dem Eindruck des Todes von Serranos Kompositionslehrer und Kollegen an der Universidad Nacional de La Plata Mariano Etkin (1943-2016) entstanden, nimmt das neunminütige Werk auf dessen kurzes Septett „Flores blancas“ (2006) für Klarinette, Fagott, Tenor-Bass-Posaune, Schlagzeug, Klavier, Violoncello und Kontrabass Bezug, als würden in Asche die weißen Blumen fortleben. Wie „Rosa de Paracelso“ ist es blockhaft angelegt, voll permanenter Fluktuation und Wandlung, realisiert jedoch einige neue kompositorische Ideen. In seinem Werkkommentar schreibt der Komponist:

In this piece I work on several of my main musical interests. The gradual change, but constant, between different kinds of textures, specially between heterophonies, paraphonies, monodies and chorals. These different kind of textures can be established or articulated by just one small change in the materials. Another aspect is the production of small moments of ambiguity or duality between each kind of texture.
On the other hand, the musical form is the consequence of this continuously change. Like in a rhapsody or a fantasy, or more like in a dream, when all the changes are constant but also apparently disconnected (when they are truly connected by small filaments between old and new elements).
Melody is an important aspect of this piece. The melodical tensions and the different kind of phrases are structural, but it is also very important how it changes in terms of color, rugosity, opacity, deepness or distance, among others parameters.
This piece also belongs into a series of compositions which I wrote around the word Ashes’ (Cenizas in Spanish). These pieces turn around some ideas about nostalgia, evocations of musics from different eras and composers, but always in a poetical way, and by way of echoes, memories and fantasies.
This piece is dedicated to Trio Aventure, in deep friendship and admiration.

Was Serrano als Signatur von „Cenizas blancas“ andeutet, lässt sich benennen als grundsätzliche Opposition von Melodie auf der einen Seite und Monodie, Akkord oder Cluster, auf der anderen Seite. Der im Trio vorherrschende kontinuierliche bis abrupte Wechsel horizontaler und vertikaler Sektionen erscheint zugleich als das am meisten lateinamerikanische Element, mehr noch: das weiche Verhältnis von neunzig Prozent Gradualität zu zehn Prozent Opposition gerät in den Momenten des Horizontal-Vertikal-Kontrasts oder -Dualismus zum Wahrzeichen lateinamerikanischer Identität – man braucht kein anderes Material – nur gleiches Material in seinen extremen Erscheinungen (nach dem Vorbild von Mariano Etkin, Juan Carlos Paz, Edgard Varèse).16

Notenbeispiel 4: „Cenizas blancas“, T. 1 – 17 (Beginn bis Buchstabe B)

Der Beginn (siehe Notenbeispiel) exponiert den horizontalen Aspekt: eine gemeinsame Melodie in Englischhorn und Fagott mit „schizophrenen“ Überlappungen von Dauern und Klangfarben, schattiert von Pedaltönen der Klarinette – Heterophonie als ähnliche Melodie in verschiedener Zeitgestaltung (eine Steigerung des „ungenauen Unisono“). Bei Buchstabe A, T. 12 herrscht Vertikalität vor, je nach Fokus des Hörens, gefolgt von einer Klangfarbenmelodie im Hoquetus von Klarinette zu Englischhorn/Fagott zu Englischhorn solo zu Klarinette zu Fagott in Takt 14-16, ein Klangband feinster Übergaben von Farben, Höhen, Dauern, mit minimalem Glissando, engem Ambitus und mikrotonaler Färbung.

Nicht selten münden klangfarblich oszillierende Legato-Melodien in vertikale Akkordstrukturen, aus denen wiederum Einzellinien herauswachsen – eine Ambiguität von Melodie und Farbe wie bei Buchstabe C, T. 21, wo aus dem Akkord beziehungsweise dem diatonischen Cluster subito fffppp in Englischhorn und Fagott das Messa di voce der Klarinette hervorkommt – oder wie in der Klarinettenmelodie mit Pedaltönen Takt 28-30 (kurz vor dem vertikalen Schnitt bei Buchstabe D, T. 31)

Die Drei-Ton-Akkorde oder Cluster folgen, wie bereits beobachtet, dem Verfahren einer Schichtung von kleinen beziehungsweise großen Sekunden und Terzen, zum Beispiel als attackierende Akkorde tief, kurz, laut, akzentuiert, mit kontrastreicher Resonanz in einer langen, leise, weichen Legatolinie in der Mittellage. Kurze Attacken können jedoch auch aus Kombinationen von hart-weich, hoch-tief, laut-leise, dunkel-hell, lang-kurz entstehen. Die meist dreitönigen Akkord- beziehungsweise Clusterstrukturen gehorchen dem Prinzip einer fein ausgehörten „modal- chromatisch-alterierten Harmonik“, die ebenso horizontale Linien in engem Ambitus generiert (siehe Notenbeispiel), zu Unschärfe, Schwebung, Ambiguität gesteigert durch mikrotonale Alterationen.

Notenbeispiel 5: Beispiel für Serranos „modal-chromatisch-alterierte Harmonik“

Ähnlich wie Mariano Etkin mit differenzierten Attacken und Tenuto-Punkten einerseits und kantablen Linien andererseits operiert, prallen in Serranos „Weiße Asche“ archaische Kräfte und lyrische Kantilenen aufeinander und verschränken sich zu einem Ineinander von Brutalität und Bittgebet, animalischer Natur und verfeinerter Kultur, Spiegel der leibkörperlichen Ambiguität des Menschen, der ganz Natur und ganz Kultur ist,17 und Ausdruck lateinamerikanischer Klangwirklichkeit zugleich.

Wenn Serrano ein doppeldeutiges Gebilde von halb Cluster, halb Melodie beziehungsweise Choral komponiert (wie bei Buchstabe I, Takt 75), das in eine melodische Linie mit Akkorden in weitem Ambitus (hoch-sehr tief) ohne Mittelregister mündet, dann ist das eines von vielen Beispielen für verschiedene Grade von Dualität und Mehrdeutigkeit zwischen den Polen chaotisch und klar. Und wenn auf der Skala kompositorischer Ambiguität der Pol der Klarheit erreicht zu sein scheint, erscheint auch dieser nicht ohne doppelten Boden – wie der kurze Moment der Hoffnung am Schluss von „Cenizas blancas“: schön, aber abgründig traurig, Ende eines der schwärzesten Stücke Serranos, voller Melancholie und Leere, wie in Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Dagegen ist „Rosa de Paracelso“ mit seinem ausgeprägten Chiaroscuro geradezu schön, licht, hoffnungsvoll.

Ich arbeite mit Übergängen, und diese Arbeit ruht auf drei Säulen: 1. Form: Rhapsodie, Fantasie; 2. Textur: kontinuierliche Modulationen, Heterophonien, Monodien, Cluster und Akkorde; 3. Timbre. Serranos Technik der kontinuierlichen Wandlungen zwischen weichen Metamorphosen und harten Schnitten, mehr oder weniger klaren Gestalten und verschwimmenden Grenzen ist vergleichbar der Traumarbeit, die mit ebensolchen Übergängen zwischen kurzen Momenten der Klarheit, z. B. Melodien oder Monodien, Schattenwelten und Kippfiguren operiert, bei denen das eine im anderen erkennbar ist, aber in seinen Grenzen verschwimmt – ein stetes Oszillieren zwischen Klarheit, Ambiguität, Dualität, wie es auch Traumphantasien und Tagträume durchzieht, in deren Nähe Serranos Kompositionstechnik siedelt. Traumarbeit bedeutet nach (frühem) Freud die Verwandlung eines latenten Traumgedankens in einen manifesten Trauminhalt meist dunklen, verworrenen, rätselhaften Charakters, in dem sich das latente Material zu neuen Konstellationen, fantasievollen Sammelbildern und Situationen, Mischgebilden und raum-zeitübergreifenden Tableaus verdichtet, verschiebt und eine irritierende Anschaulichkeit gewinnt, die der Analyse reichlich Stoff bietet.18 Das zentrale Moment der Traumarbeit, die Verwandlung eines Dinges in ein anderes zwischen Zusammenhang und Zusammenhangslosigkeit, scheinbarer Ordnung und Außerordentlichem, Kontinuität und Diskontinuität, Doppeldeutigkeit und Kontrast ist ein zentrales Moment der kompositorischen Technik Serranos, die zwischen Gradualität, Ambiguität und Opposition der Texturen und Gestalten oszilliert. Tagträumerisch und besonnen zugleich komponiert Serrano an den Grenzen bestehender Wirklichkeiten und über sie hinaus – musikalische Traumarbeit aus Trauer und ein wenig Hoffnung, die Welten, Menschen, Musiken, Künste in Raum und Zeit übergreift und verbindet.

Phantasmagorie der Asche

Vereint das Werk José Manuel Serranos alle Schattierungen von Seelenzuständen zwischen mysteriös und melancholisch, hoffnungsvoll und leer, gleichgültig und (selten) glückhaft, chaotisch und verrückt (nie jedoch in Reinform freudig oder traurig), so wurzelt dies in einer Faszination des Komponisten an Schwellenphänomenen, Schwebezuständen und Zwischenwelten von Raum und Zeit, Traum und „Wirklichkeit“, Künsten und Kulturen, in denen ähnliche Erscheinungen an unterschiedlichen Orten und in auseinanderliegenden Epochen wiederkehren und das eine an anderes erinnert, das es einst war. Das Inbild dieser Ambiguität des Seienden aber ist die Phantasmagorie der Asche.

Asche stammt von etwas, das zu Asche geworden ist, ohne dass man weiß, was es ist oder war. Das Original stirbt, aber etwas bleibt. Sieht man, wie Serrano, Asche als Zeichen dafür, dass etwas war, so kann auch die Folgerung einleuchten, dass die Welt eine Wüste aus Asche ist: Asche als Teil einer Ruine, von der sie zeugt; Asche als Anonymität eines Körpers ohne leibhafte Individualität; Asche als Symbol des Todes und Restbestand der Feuerbestattung, in der der Körper verbrannt und als Asche aufbewahrt oder der Natur zurückerstattet wird, aus der er entstanden ist. Verankert werden kann das Zeugnis der Asche, dass alles vergeht, in seine Atome zerfällt und in einem unendlichen Prozess der Metamorphose neu geboren wird, zudem in der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches ebenso wie in der Literatur der Décadence (zum Beispiel Joris-Karl Huysmans) oder der Quantenphysik.19

Die Idee eines universalen Netzwerks von Verweisen und Verwandlungen prägt auch die – maßgeblich von Henri Bergson beeinflusste20 – Zeitphilosophie Serranos, die der kompositorischen Poetik des (wie viele Argentinier) universal gebildeten, an Geschichte, Archäologie, Literatur, Kunst, Psychologie und Philosophie interessierten Komponisten zugrunde liegt: Wenn die Gegenwart als Vergangenheit der Zukunft wie auch als Zukunft der Vergangenheit verstanden werden kann, so stellen wir einerseits die „primitiven“ Vorläufer einer fernen Zukunft, andererseits die „futuristischen“ Ausprägungen einer fernen Vergangenheit dar. Eine fortschreitend lineare Entwicklung beziehungsweise Evolution jedoch gibt es nicht in der Geschichte. Vielmehr erscheinen Dinge zu bestimmten Zeiten, verschwinden und erscheinen wieder in anderen Zeiten und an anderen, entlegenen Orten in veränderter Gestalt.

So trägt, kunstgeschichtlich gesehen, das Werk Giuseppe Arcimboldos im 16. Jahrhundert surrealistische Züge, die bei Salvador Dalí wiederkehren, Giovanni Batista Bracelli erscheint als Vorläufer des Kubismus, und in der Musik weisen manche Passagen von Beethovens 6. Sinfonie „Pastorale“ auf die Minimal Music voraus. Gleiches erscheint in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten oder zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten, und alle Referenzen können im offenen Buch der Geschichte verwendet werden. Denn die Vergangenheit ist lebendig und in Bewegung, sie verändert sich in jedem Augenblick, mit jedem schöpferischen Akt, und kein Werk ist jemals ganz ein eigenes, vielmehr ein Netzwerk unterschiedlicher, bewusster, halb- und unbewusster Einflüsse.

Das Programm solch „intertextueller“ Beziehungen fasst der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz folgendermaßen: „Der Akt des Schreibens von Gedichten stellt sich uns dar als ein Bündel entgegengesetzter Kräfte, in dem unsere Stimme und die andere Stimme sich verbinden und vermischen. Die Grenzen verschwimmen. […] Der Mensch ist Pluralität und Dialog, unaufhörlich mit sich übereinstimmend und sich vereinigend, aber auch unaufhörlich sich spaltend. Unsere Stimme ist viele Stimmen.“21

Solch innere Vielstimmigkeit und Durchmischung von Eigenem und Fremdem kennzeichnet die Arbeitsweise Serranos, dessen Komponieren im steten Dialog mit anderen Kompositionen, Zeiten, Künsten stehen und dessen Werk, in Adaption eines Wortes des russischen Literaturwissenschaftlers Michail M. Bachtins, bewusst als „halbfremdes Werk“ im Austausch mit anderen konzipiert ist.22

Inspiration bezieht Serrano aus den unterschiedlichsten Quellen. Dazu gehören Vorbilder und Einflüsse aus der Literatur, besonders Jorge Luis Borges, ebenso Raymond Roussel (Streichtrio „Sistro impar“ von 2010 nach Raymond Roussels Roman „Locus solus“23), Honoré de Balzac („Catherine Lescault“, 2012, nach Balzacs Erzählung „Das unbekannte Meisterwerk“), Charles Baudelaire, Vladimir Nabokov (geplantes Musiktheaterstück nach dem späten Roman „Das Bastardzeichen“), Samuel Beckett („Everything’s Dead but the Tree“ für Gitarrenquartett von 2017 nach Becketts „Warten auf Godot“), Bruno Schulz („A Bruno Schulz“ für Klarinette [und Bassetthorn], Viola und Elektronik, 2018); ebenso aus der Philosophie (Bergson, Wittgenstein, Deleuze, Foucault, Derrida), der Filmkunst (besonders Ingmar Bergman), Malerei und natürlich Musik. Die Einflüsse, Aneignungen und Anspielungen erstrecken sich von alter Musik langsamen, statischen Charakters (Codex Montpellier, ars nova und ars subtilior, musica reservata – Orlando di Lasso, Carlo Gesualdo – früher Monteverdi) über romantische Musik (Schubert, Berlioz, später Liszt, Debussy) und neue Musik, hier besonders der frühe Ligeti, Scelsi, Xenakis, Cecilia Villanueva und Mariano Etkin, der in „Lágrimas“ für Orchester (2016) seinerseits ein Zitat aus Hector Berlioz’ „Les nuits d’été“ op. 7 (Sommernächte) einwebt. Ebenso wie Etkin arbeitet Serrano mit Zitaten beziehungsweise Scheinzitaten, indem er zum Beispiel Antonello da Casertas Lied „Amour m’a le cuer mis“ in mehreren Werken verwendet („Cenizas de Jayyam“, „Cenizas de un madrigal triste“, „Smultronstället“). Nicht selten erscheinen die Vorbilder dabei mehr als Evokationen denn als reale Zitate – wie zum Beispiel Klangnuancen und Intervallverhältnisse von Etkins „Flores blancas“ in Serranos „Cenizas blancas“ gespiegelt wiederkehren; und wenn ein Zitat erscheint, so kommt dies immer „natürlich“ aus der eigenen Musik heraus, wobei das reale Zitat oft verborgen bleibt, das simulierte Zitat oder Schein-Zitat hingegen als Zitat erkennbar wird, eine weitere Form der Verrätselung und Ambiguität. Entscheidend ist stets die Schönheit im Detail, die mikroskopische Welt der subtilen Wandlungen und die Trias von Rhapsodie, Textur und Timbre, die Serrano bisweilen zu ungewöhnlichen Besetzungen führt. Ein Beispiel dafür ist „Bilis negra“ (Schwarze Galle, 2016) für Stimme, Bassblockflöte, Orgelportativ, Cembalo, barockes Streichquartett und barocken Kontrabass, das auf Galens Säfte- und Temperamentenlehre Bezug nimmt und ein weiteres Mal das Hauptthema Melancholie aufgreift.

Dass aber in jedem Phänomen ein Anderes, Verborgenes enthalten ist, auf das es verweist, und Komponieren mehr ein Auffinden sein kann als ein Hinzufügen und Bemächtigen, prägt bereits das Frühwerk des Komponisten, dem ein letzter Blick gilt.

„al arrancar la piedra“ (2007) – Beim Meißeln des Steins

Das zirka fünfminütige Klavierstück „al arrancar la piedra“ (Beim Meißeln des Steins) ist das erste offizielle von Serrano autorisierte Werk, sein Opus 1 gleichsam. „Arrancar“ bedeutet herausholen oder, in diesem Zusammenhang, herausmeißeln (wie „cincelar“) und bezeichnet das Gegenteil des Verständnisses von kreativem Schaffen als Vermehren, Anwachsen und Auftürmen. Serrano geht es mehr um das Entdecken und Bergen verborgener Schönheiten, wie ein barocker Bildhauer, der die innere Form aus dem Stein herausmeißelt, besser: die Figur im Inneren des Steins auffindet und befreit – ein Folgen dem Ruf des Marmorblocks, wie es Michelangelo nachgesagt wird, und Ausfindigmachen dessen, was bereits da ist, was wir bereits haben, aber (noch) nicht sehen oder hören können.24 Dies steht dem nahe, was Tolstoi zur Idee des Fortschritts notiert: „Eine große Definition von Henry James (senior) gelesen, was wahrer Fortschritt ist. Fortschritt ist ein Prozeß, ähnlich dem Gestalten, dem Herausschlagen eines Standbildes aus einem Marmorblock, Elimination alles Überflüssigen. Der Marmor, das Material, ist nichts. Wichtig ist das Herausschlagen, das Abtrennen des Überflüssigen.“25 Analog dazu kann Serranos kurzes Stück als Erhorchen und Herausholen der verborgenen Klangvaleurs des Klaviers verstanden werden. Das Entdecken seiner inneren Klangqualitäten und Formmöglichkeiten ist das Thema von „al arrancar la piedra“. Wie dies geschieht, mit welchen Mitteln am Klavier mit „Hammer und Meißel“ gearbeitet und eine Klangfigur herausgeschlagen wird, sei kurz angedeutet.

Notenbeispiel 6: „al arrancar la piedra“, Beginn und Ende

Das Stück beginnt mit dem „stummen Anschlag“ der tonlos gesenkten Tasten g-as-h-c’ in der linken Hand, ein symmetrischer Tetrachord als Cluster, der in Takt 2 horizontal entfaltet wird in extremem Kontrast von akzentuiertem Staccato-Anschlag as’ im sffz – eine gewaltige „Arrancar“-Aktion, die die Clustertöne flageolettartig in Resonanz versetzt26 – und leisestem Echo der melodisch aufsteigenden Resttöne g-h-c, vom ppp ins pppp entschwindend. In Takt 3 wird dann das h’ herausgeschlagen, gefolgt von der Knickfigur (h-)g-a im pppp, in Takt 4 das g’ mit quasi angebundenem as’. Vergleichbar der subtilen Arbeit mit Timbre und Textur in den späteren Werken, liegt hier der Fokus auf einer höchst differenzierten Artikulation, die jedem Ton, jeder Tonkombination neue Seiten entlockt und Modulationen in Klangfarbe und Form erzeugt, die Figuren der Klarheit (zarte Dreiton-Melodien und Hoquetus-Monodien) wie solche des Kontrasts (Subito-Anschläge) und der Doppeldeutigkeit hervorbringen. Messiaen ähnlich, entsteht ein unendlicher artikulatorischer und dynamischer Reichtum durch permanenten Wechsel von Legato, Staccato, Staccato mit Akzent, Akzent mit Keil, Akzent pur, Pizzicato (im Inneren des Flügels, string piano), sfffz, sffz, kombiniert mit Pedal oder non Pedal, una corda, einer Lautstärkenskala von ppppp bis sfffz und der Technik kontinuierlichen Lösens von Clustertönen, aus denen sich einzelne Klänge herausfiltern (wie in Werken von Nicolaus A. Huber, Helmut Lachenmann und anderen) – bis sich am Ende eine dunkle Melodiegestalt in tiefster Tiefe herauskristallisiert.

Der Komponist als Kulturvermittler, Festivalleiter und vielfacher Förderer

Wie im frühen Klavierstück die späteren Techniken und Themen des hingebungsvoll entdeckenden, mikroskopisch genauen und klangsinnlichen Komponierens Serranos präfiguriert und die Fäden eines reichen Verweisungszusammenhangs in alle Richtungen angelegt sind, so verknüpft der Komponist sein Werkschaffen mit einem vielseitigen Wirken als Konzertgestalter, Kulturvermittler, Kompositionslehrer und Festivalleiter. Geboren 1982 in Buenos Aires und als ehemaliger Schüler von Mariano Etkin und María Cecilia Villanueva von 2007 bis 2016 Assistent Etkins an der Nationaluniversität von La Plata, gründete José Manuel Serrano – nach Vorläufern 2012/2013 – im Jahr 2014 in seiner Geburtsstadt Choele Choel in der Provinz Rio Negro (Patagonien) das internationale Festival für neue Musik Distat Terra, auf dem sich alle zwei Jahre, konzentriert auf zwei Wochen im Dezember, Musiker und Künstler aus aller Welt treffen und austauschen. Mit zirka zwölf Konzertprogrammen, darunter etliche Uraufführungen argentinischer beziehungsweise lateinamerikanischer Werke, sowie Lectures, Vorträgen und Gesprächen bis tief in die Nacht, ist Distat Terra, das durch die Provinz Rio Negro, europäische Institutionen und private Sponsoren unterstützt wird, einzigartig nicht nur in Lateinamerika. Die Vergabe von Kompositionsaufträgen wird ermöglicht durch die Fundación Música AntiquaNova, deren Mitgründer und (seit 2012) Präsident José Manuel Serrano ist (unterstützt von seiner Mutter Liliana Noemi Zacarias, Direktorin des Museo Histórico Regional Choele Choel, seinem Bruder Gonzalo und einem Kreis von engagierten Musiker- und Komponistenfreunden in La Plata und Buenos Aires). In dieser Funktion vermag Serrano auch Projekte der Weiterentwicklung und Verbreitung lateinamerikanischer Musik in Europa zu fördern wie zum Beispiel die CD-Reihe des Ensemble Aventure in Zusammenarbeit mit Wergo und dem Deutschlandfunk, in der Porträt-CDs von Juan Carlos Paz, Graciela Paraskevaídis und Coriún Aharonián erschienen sind (eine CD mit Werken von Mariano Etkin befindet sich in Vorbereitung).

Möglicherweise gründen ja, dieses Gedankenspiel sei zum Schluss gestattet, manche der Charakteristika des kompositorischen Kosmos José Manuel Serranos, vielseitig gebildeter Humanist und Kosmopolit, Wanderer zwischen den Zeiten und Welten, Orten und Kulturen, in dieser seiner Herkunft. Choele Choel liegt am linken Ufer des Río Negro, der die fruchtbaren Felder des Valle Medio durchzieht und eine blühende Insel umarmt. Auf der anderen Seite liegt die Wüste, aus deren Staub Schreie von Papageien aufsteigen und Schlangen ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht ist es ja, geoästhetisch gesehen, ein Stück weit dieser extreme Kontrast von Landschaft und Licht, Stimmen und Stille, Blüte und Staub, der sich den doppeldeutigen Texturen und Timbres des aus Asche höchst sinnlich erstehenden Werkes Serranos in Schönheit einschreibt.

Das Copyright der Notenbeispiele liegt bei José Manuel Serrano, Buenos Aires.

1Vgl. Artikel „Phoinix“, in: W. H. Roscher (Hg.), Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Dritter Band, Zweite Abteilung. Pasikrateia – Pyxios, Leipzig: Teubner, 1902-1909, Sp. 3450-3472.

Eine zentrale Rolle spielt der Phönix in Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Heptalogie, wo er sich im zweiten Band erstmalig in einen Feuerball verwandelt und aus Asche neu geboren wird, sowie im fünften Band dem titelgebenden Orden seinen Namen verleiht. „Harry Potter und der Orden des Phönix“ wiederum verweist auf Jorge Luis Borges’ „Fiktion“ der „Phönix-Sekte“ („La secta del Fénix“, 1952) und damit auf die Fülle intertextueller Bezüge, die auch Serranos Werk kennzeichnet (deutsche Übersetzung von Die Phönix-Sekte“ in: Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Herausgegeben von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Der Erzählungen erster Teil, München, Wien: Hanser, 1991, 234-237).

2Weitere neuere Kompositionen zur Asche-Thematik sind, soweit dem Verfasser bekannt, das Oktett „Asche“ (1992) und die Oper „AscheMOND oder The Fairy Queen“ (2013) von Helmut Oehring, der 4. Satz „Aschen“ aus Gilead Mishorys „Irdische Tänze“ für Bläserquintett und Schlagzeug (2019) und das Duo „Asche“ (2012) für Klarinette und Violoncello von Lisa Streich, ein beruhigend-erregendes „Phönix“-Stück zwischen Stille und Erregung, Versenkung und Flug. Im Bereich der Literatur ist Asche häufiger anzutreffen, vgl. die Asche-Metapher in Paul Celans Gedicht „Engführung“ aus dem Lyrikband „Sprachgitter“; das Gedicht „Asche“ von Jorge Luis Borges (s. unten Anm. 12) den beunruhigenden Text „Das Aschenreich“ von Henri Michaux, in: Derselbe, Dichtungen, Schriften I, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1966, 305; die Aschermittwoch-Episode im Roman „Null K“ von Don DeLillo („Zero K“, 2016, deutsch Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018, 19: „ein Daumenabdruck aus heiliger Asche auf meiner Stirn. Denn Staub bist du. […] Und zum Staub wirst du zurückkehren“) und die Geburt der Schrift aus Asche bei Ocean Vuong, Auf Erden sind wir kurz grandios, München: Carl Hanser, 2019, 253: „Ich erinnere mich, wie ich Asche mit der hohlen Hand schöpfte und die Worte lebe lebe lebe auf die Stirnen der drei Frauen schrieb, die im Zimmer saßen. Wie sich die Asche eines Tages zu Tinte auf einer leeren Seite verhärtete. Wie Asche auf ebendieser Seite ist. Wie es genug davon für alle gibt.“

3José Manuel Serrano im Gespräch mit dem Autor, das am 31. Juli 2018 in Freiburg geführt wurde und aus dem auch die weiteren kursiv gesetzten Zitate stammen.

4Hörbeispiele finden sich unter https://soundcloud.com/serranojm7/rosa-de-paracelso-2014 und https://www.youtube.com/watch?v=tSq532o-v6A (Stand: 30. März 2020). Vgl. die Website des Komponisten Website https://josemanuelserrano.com.ar/.

5Der vielfach schwebend doppeldeutige Charakter der Musik Serranos gründet nicht zuletzt in einer Rhythmus- bzw. Klangfarbenorganisation, die der von Theodor W. Adorno als „ungenaues Unisono“ bezeichneten Technik Robert Schumanns verwandt ist, vgl. Reinhold Brinkmann: Lied als individuelle Struktur. Ausgewählte Kommentare zu Schumanns „Zwielicht“, in: Analysen. Beiträge zu einer Problemgeschichte des Komponierens. Festschrift für Hans Heinrich Eggebrecht zum 65. Geburtstag, herausgegeben von Werner Breig, Reinhold Brinkmann und Elmar Budde, Stuttgart: Steiner, 1984 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, 23), 268.

6Theodor W. Adorno, Minima Moralia (1951), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1962, 333.

7Vgl. Hermann Danuser: „Inspiration, Rationalität, Zufall. Über musikalische Poetik im 20. Jahrhundert“, in: Vom Einfall zum Kunstwerk. Der Kompositionsprozeß in der Musik des 20. Jahrhunderts (Publikationen der Hochschule für Musik und Theater Hannover, 4), hrsg. von Hermann Danuser und Günter Katzenberger, Hannover: Laaber, 1993, 11-21 (Erstdruck in Archiv für Musikwissenschaft Jg. 47, 1990, 87-102).

8Vgl. Francois Jullien, Die stillen Wandlungen, Berlin: Merve, 2010.

9Vgl. Bernhard Waldenfels, Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht, Berlin: Suhrkamp, 2019.

10Theodor W Adorno: „Vers une musique informelle“, in: Gesammelte Schriften, Band 16, Musikalische Schriften I-III, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, 496, 500 (Anmerkung 4) und 523.

11Ebenda, 537.

12Jorge Luis Borges, „Die Rose des Paracelsus“, in: Derselbe, Gesammelte Werke. Herausgegeben von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Der Erzählungen zweiter Teil, München, Wien: Hanser, 1991, 208-212.

13Zum Themenkomplex vgl. auch die Gedichte „Die Rose“, in: Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Herausgegeben von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Der Gedichte erster Teil, München, Wien: Hanser, 1991, 27 (Text s. unten), „Asche“, in: Derselbe, Gesammelte Werke. Herausgegeben von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Der Gedichte dritter Teil, München: Hanser, 1994, 419 und „Der Alchimist“, in: Derselbe, Gesammelte Werke. Herausgegeben von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Der Gedichte zweiter Teil, München, Wien: Hanser, 1993, 145 – sowie den Schlusssatz von Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ („Il nome della rosa“, Milano 1980): „Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus.“ („Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen.“) – Als Manifestation ewiger göttlicher Schönheit, an der sich die sehnsüchtige Nachtigall der Seele berauscht, spielt die rote Rose eine zentrale Rolle in der frühmittelalterlichen persischen Liebeslyrik bzw. Liebesmystik; vgl. Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, 3. Auflage, München: Diederichs, 1995, Kapitel „Rose und Nachtigall: Persische und türkische mystische Dichtung“, Abschnitt „Unsterbliche Rose“, 408-425. Auch darauf spielt Jorge Luis Borges an.

Die Rose,
die nimmerwelke Rose, die ich nicht singe,
die Gewicht ist und Duft,
die des schwarzen Gartens in tiefer Nacht,
die jeglichen Gartens und jeglichen Abends,
die Rose, die wiederersteht aus der schwachen
Asche durch die Kunst der Alchimie,
die Rose der Perser und des Ariost,
die immer allein ist,
die immer die Rose der Rosen ist,
die junge platonische Blume,
die brennende, blinde Rose, die ich nicht singe,
die unerreichbare Rose.

14Dass das Thema den Komponisten indes nicht loslässt, zeigt ein neues Werk mit dem Titel Sub rosa (2018) für Flöte(n), Klarinette(n), Schlagzeug, Klavier und Violoncello. Der lateinische Ausdruck „sub rosa“, wörtlich „unter der Rose“, bedeutet „im Vertrauen“, „unter dem Siegel der Verschwiegenheit“. Zu den verschiedenen Herleitungen der Rose als Symbol des Schweigens, zum Beispiel in geschnitzter oder gemalter Form an Beichtstühlen oder an der Decke von Konventssälen in Klöstern, aber auch in vertraulichen Gesprächen unter rosenbekränzten Zecherfreunden, vergleiche die Artikel „Sub rosa“, https://de.wikipedia.org/wiki/Sub_rosa und „Schweigerose“, https://de.wikipedia.org/wiki/Schweigerose (Stand: 30.3.2020).

15Die Videoaufzeichnung der Uraufführung durch das Trio Aventure am 29. September 2017 in der Elisabeth Schneider Stiftung Freiburg ist auf Youtube zu finden, https://www.youtube.com/watch?v=55CjJRzW-h4 (Stand: 30.3.2020).

16Ohne Zweifel artikuliert sich hier eine generationenbedingt andere Sichtweise auf lateinamerikanische Identität in der Musik als z. B. bei Coriún Aharonián, der das Merkmal einer lateinamerikanischen Musik, die sich von westlichen Modellen abgrenzt, in der Bezugnahme auf die reale, in Kolonialgeschichte wurzelnde Klangwirklichkeit des jeweiligen Landes und dabei besonders im Rhythmus-Empfinden verortet, genauer: im „mestizisch“ geprägten Mit- und Gegeneinander von Dreier- und Zweier-Metrum (Proportion 3 : 3 : 2 afroamerikanischen Ursprungs, vermischt mit iberoamerikanischen und europäischen Einflüssen); vgl. Coriún Aharonián, „Gibt es eine lateinamerikanische Identität?“, in: Weissbuch Lateinamerika. Eigenes und Fremdes, hg. von Karl Ludolf Hübener – Eva Karnofsky – Pilar Lozano, Wuppertal: Peter Hammer, 1991, 53-65; vgl. Wolfgang Rüdiger, „Wie mit Trauer und Wut. Alltäglichkeit und Engagement in Coriún Aharoniáns Klavierstück ¿Y ahora? (1984)“, in: Jörn Peter Hiekel (Hg.), Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in neuer Musik (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt Band 55), Mainz: Schott, 2015, 128-135.

17Vgl. Bernhard Waldenfels, Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, Göttingen: Wallstein, 2001, Kapitel IV. „Genealogie der Kultur“, 97-117. Eine ähnliche Verflechtung der Extreme von Puccini und Höhlenmensch (Serrano) realisiert Mariano Etkin in „La naturaleza de las cosas“ für Klarinette, Posaune, Violoncello und Klavier (2001, nach Lukrez’ „de rerum natura“), ebenso Galina Ustwolskaja in ihrer „Komposition 2 Dies irae“ (1972-73) für acht Kontrabässe, Holzwürfel und Klavier. Auch darin mag Jorge Luis Borges ein Vorbild sein, dessen Dichter in „Spiegel und Maske“ die „archaischsten Worte der Sprache und die komplexesten Metaphern in all ihrer Fülle“ zusammenspannt, „Herbes […] mit Lieblichem verbindet und „eine einzige Zeile“ zwischen „Bittgebet“ und „Blasphemie“ oszillieren lässt, in: Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Herausgegeben von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Der Erzählungen zweiter Teil, München, Wien: Hanser, 1991, 143-147.

18Vgl. Sigmund Freud, „Über den Traum“ (1901), in: Derselbe, Über Träume und Traumdeutungen, Frankfurt am Main: Fischer, 1974, 11-52.

19Asche spielt sowohl in religiösen wie weltlichen Zusammenhängen eine erstaunliche Rolle, vgl. z. B. die bekannte liturgische Formel der Beerdigungszeremonie „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, den französischen Asche-Käse Morbier, dem die Asche Schutz vor Austrocknung und Verkeimung verleiht, oder die griechische „Löffelsüßigkeit“ (Glikó tou koutalioú) Walnüsse im Sirup (Karídi-Glikó), bei deren Zubereitung die noch grüne, geschälte junge Walnuss mit Asche behandelt wird. Und aus Asche der am 14. November 1940 beim deutschen Luftangriff zerstörten gotischen Kathedrale von Coventry geborgen wurden drei handgeschmiedete Nägel. Diese ließ der damalige Dompropst zu einem Nagelkreuz zusammensetzen, dessen Nachbildung, verbunden mit der Bitte um Vergebung, in religiösen Einrichtungen weltweit zu Versöhnung und Frieden aufruft. So können aus Asche Zeichen der Mitmenschlichkeit erwachsen, so wie aus ihrer Ästhetik eine höchst sinnliche und sensible, leuchtend humane Musik.

20Vor allem Zeit und Freiheit (Essai sur les données immédiates de la conscience, 1889, deutsch 1911).

21Octavio Paz, Der Bogen und die Leier. Poetologischer Essay. Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, 206 und 215.

22Michail M. Bachtin, „Das Wort im Roman“, in: Derselbe, Die Ästhetik des Wortes, herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979, 185 („Das Wort der Sprache ist ein halbfremdes Wort“).

23“The title refers to a singular percussion instrument, appearing in one of the numerous stories included in the novel ’Locus Solus’ by Raymond Roussel. In it, Roussel makes use of ’le Procedé’ (the Procedure) – a literary resource created by himself – linking different characters, time periods and contexts, without a direct connection, apparently far away from each other. However, they are associated via the homophonic and homographic content of the words” (Werkkommentar des Komponisten).

24Vgl. Georg W. Bertram, Kunst. Eine philosophische Einführung, Stuttgart: Reclam, 2005, 289-290: „Das Gegeneinander von Materialität und Prozessualität lässt sich auch auf Seiten der Produktion von Kunst nachvollziehen. Viele Arbeitsberichte von Künstlern dokumentieren ein solches Gegeneinander. So wird zum Beispiel von Bildhauern wie Michelangelo gesagt, ein Marmorblock habe ihm gleichsam befohlen, die Figur aus ihm zu befreien. Ein solcher Befehl signalisiert die Verfestigung des Materials als Moment der ästhetischen Erfahrung, die der Künstler macht. Die Bestimmtheit der Zeichengestalt, die er schafft, entfaltet so eine Eigenlogik, noch bevor das Zeichen in seinen konkreten Details fertig gestellt ist. Die Verstehensprozesse, die der Künstler dem von ihm gestalteten Zeichen gegenüber erfährt, gewinnen eine Prozessualität, gegenüber der das entstehende Zeichen als unflexibel erscheint. Der Künstler kann mit seinem eigenen Material nicht dahin, wo er will.“

25Tagebucheintragung vom 9. März 1891, in: Leo N. Tolstoi, Tagebücher 1847-1910. Aus dem Russischen übersetzt von Günter Dalitz. Ausgewählt, mit Vorwort und Zeittafel versehen sowie zusammen mit Ulrike Hirschberg kommentiert von Eberhard Dieckmann. Ergänzt durch einen Essay von Bodo Zelinsky, München: Winkler, 1979, 421.

26Zu historischen Vorläufern siehe Herbert Henck, Neue Spieltechniken in der Klaviermusik der Moderne.Tasten – Pedale – Saiten, http://www.herbert-henck.de/Internettexte/Spieltechniken/spieltechniken.html (Stand: 30.3.2020)