MusikTexte 163 – November 2019, 32–40

Schoenberg to the letter

Peter Ablingers „A Letter from Schoenberg“ und die Medienarchäologie Friedrich Kittlers

von Martin Tanšek

„Alle Welt wird ihnen sagen, dass ich kein Musiker bin. Das stimmt.“1 Stattdessen zählt sich Satie zu den „Phonometern“ und „Phonometrographen“: Nicht das Haben von „musikalischen Ideen“, sondern ein „rein wissenschaftliches Denken“ ist sein täglich Brot; nicht das Schreiben und Hören von Musik, sondern das Aufzeichnen und Wiegen, Vermessen und Inspizieren von Schall ist sein Geschäft. Dazu umgibt sich der „Phonometrograph“ mit einem bunten Ensemble von Gadgets und Gerätschaften, mit lauter kleinen Maschinen. Sein Maschinenpark umfasst Vieles vom „Schallmesser“ (phonomètre) bis zum „Phonoskop“, von der „Tonwaage“ (phono-peseur) bis zum „Kaleidophon-Registriergerät“ (caléidophone-enregistreur), vom „Gleichstromtongenerator“ (monodynamophone) bis zum „Pyrophon“. Obgleich all diesen Komposita aus griechischem Präfix und realer Erfindungsgeschichte gemein ist, dass sie nichts als reine Erfindung sind. „Mit dem Schallmesser in der Hand arbeite ich gut gelaunt und sicher. Was habe ich nicht schon alles gewogen und gemessen?“ Sowohl die großen wie die ganz großen Meister: „Den ganzen Beethoven, den ganzen Verdi usw.“ Aber auch ganz mediokre Töne: „Auf der Tonwaage erreicht ein ganz normales Fis das Gewicht von 93 Kilogramm. Es stammte allerdings von einem sehr dicken Tenor, den ich gerade wog.“ Das ist nicht nur (ausgesprochen) putzig. Jemand, der Sonometer und Phonograph (also: das frankophone ‚sonomètre‘ und den anglophonen ‚phonograph‘) dem Namen nach kombiniert, um „den ganzen Beethoven“ abzuwiegen, statt ihn sich anzuhören, kann sich zu Recht auf eine Erfindung Edisons berufen, die ja „Musik und Literatur gleichermaßen unterlief, weil sie das unvorstellbare Reale auf beider Grund reproduzierbar machte“.2 Und weil es von einem (Speicher-)Medium, das Musik unterläuft, vielleicht nicht so weit ist zu einem (sozusagen) ‚phonographischen Sport‘, der Mu­sikmachen unterläuft, erklärt sich Satie eben gleich selbst zum „Phonometrographen“, das heißt zum Agenten des maschinischen ‚agencement‘. Sein hypothetisches Kunstgewerbe nennt der „Phonometrograph“ auch (ganz unphilosophisch) „Philophonie“ oder (ganz unlinguistisch) „Phonologie“. „Ich glaube sagen zu können, dass die Phonologie der Musik weit überlegen ist. Sie ist vielfäl­tiger. Der finanzielle Ertrag ist weit größer. Ihr danke ich mein Glück.“ Satie, der „Deserteur der großen Opusmusik“,3 ist von den Musikern und Komponisten zu den „Phonometern“ und „Phonometrographen“ übergelaufen.

Was hat Peter Ablinger nicht schon alles gewogen? Den ganzen Bruckner, den ganzen Schubert, auch den ganzen Mahler hat er sehr wohl ausgemessen. Und den ganzen Beethoven sowieso. Trotzdem ist „Weiss/Weisslich 22“ keine fünf Minuten lang. Faltung bringt auch große Sinfonien, wie Konzertsäle sie beherbergen, in ein handliches, quadratisches Format: mit vierzig kurzen Sekunden (je sinfonischem Œuvre) mal vierzig großen Sekunden (ungefähr der Ambitus eines Orchestersatzes) wird Maß genommen. Auch Ablinger ist zu den „Phonometrographen“ übergelaufen. Und damit nicht genug. Auch jenen Komponisten, der seinerzeit über die Einheit des musikalischen Raums spekulierte, hat Ablinger auf dem Kerbholz. Nur lokalisiert „A Letter from Schoenberg“ den ‚ganzen Schönberg‘ nicht mehr (wie noch zuvor den ‚ganzen Beethoven‘) im Symbolischen, sondern im Realen. Der ‚Schönberg‘, der da aufgezeichnet und gewogen wurde, ist nicht das Textkorpus gleichen Eigennamens, sondern die aus ihrem schönbergschen Körper gefahrene Stimme; nicht die Schönberg-Gesamtausgabe oder -Gesamteinspielung, sondern das einzige, was Abkömmlinge des Edison-Phonographen von Leuten eben speichern: die Geräusche, die sie machen. Die Sonne über L. A. steht bereits tief, als der Zwölftonkomponist an einem Märztag des Jahres 1951 seinem Tippfräulein so ein Geräusch ins Diktaphon spricht. Dieses Geräusch hat Ablinger (mit dem „Schallmesser“) ausgemessen, (mit dem „Phonoskop“) inspiziert und (mit der „Tonwaage“) gewogen, hat den diktierten Brief absichtsvoll als Notendiktat missverstanden und hat sich das ‚phonometrographische‘ Notentranskript von einem automatischen Klavier noch mal vorlesen lassen. Postwendend oder posthum macht Schönbergs Letter aus dem Zwölfton-Tastenkasten ein veritables Geisterklavier.

Dass diese „Letter“ sich auch medientheoretisch decouvrieren lässt – : das ist die Wette des vorliegenden Textes, der eine vielleicht etwas ungewöhnliche Paarung vorschlägt, um Peter Ablingers computergestützte Klaviertranskription einer Diktaphonaufnahme Schönbergs und seine Konzeption eines musikalischen Photorealismus beziehungsweise Phonorealismus vor dem Hintergrund der Medienarchäologie Friedrich A. Kittlers zu untersuchen. Weit davon entfernt nämlich bloß eine schönbergsche Briefpost zuzustellen, postiert „A Letter from Schoenberg“ das Postwesen als solches, das heißt, neben der alteuropäischen auch die mechanisierte, die elektrifizierte und die computierte, also: die ,moderne Post‘.4 Die „wahre Flaschenpost“ hingegen, als deren Absender der Philosoph der Neuen Musik eben­falls Schönberg namhaft machte, war eine Papierpost. Einfach weil – wie Kittler gut medienmaterialistisch bemerkt hat – „Adorno das musikalische Material weiterhin nur in Papierform zuließ [...]“.5

Schreibmaschinentranskript (Kohledurchschlag) einer Drahttongerätaufnahme vom 3. März 1951

Phonorealismus

Das ‚sprechende (Automaten-)Klavier‘ aus „A Letter from Schoenberg“ gehört zu einer Gruppe von Arbeiten, die sich (im weitesten Sinne) als Phonorealismus etikettieren lassen. Das ist zum einen Ablingers bis dato siebenundfünfzig Nummern umfassender ‚Liederzyklus‘ „Voices and Piano“: Statt Kunstgesang wird hier die von einem Monolautsprecher wiedergegebene Tonaufnahme einer zumeist prominenten Persönlichkeit (von A wie Antonin Artaud bis Z wie Alenka Zupancic) mit (einer Art) Klavierbegleitung versehen. Das ist zum anderen der eigentlich bereits abgeschlossene Quadraturen“-Zyklus und hieraus insbesondere die „Quadraturen III (,Wirklichkeit‘)“, die eine noch offene Serie in der Serie bilden: Auch hier liegen in aller Regel Aufnahmen von gesprochener Sprache zugrunde, die jedoch nicht von einem Lautsprecher, sondern von einem computergesteuerten Klavier wiedergeben werden und zwar annähernd schallrealistisch. „A Letter from Schoenberg“ ist das sechste Stück dieser Serie.

Kleinster gemeinsamer Nenner dieser phonorealistischen Arbeiten ist die Wiedergabe von Tonaufnahmen durch ein Klavier: Sowohl die hochvirtuosen Tontrauben­serien des ‚sprechenden Klavierautomaten‘ aus den „Quadraturen III“ als auch die Klavierbegleitung aus „Voices and Piano“ sind die zeitlich-spektrale Rasterung der zugrunde liegenden Phonographie. Eine Art Waschzettel fasst das phonorealistische Verfahren bündig zusammen.

(1) Der erste Schritt ist immer eine akustische Photographie („Phonographie“). Das kann eine Aufnahme von irgend­etwas sein: Sprache, Straßengeräusche, Musik.
(2) Zeit und Frequenz der gewählten „Phonographie“ werden in einen Raster kleiner Rauschquadrate aufgelöst, deren Format zum Beispiel 1 Sekunde (Zeit) mal 1 Sekunde
(Intervall) sein kann.
(3) Der resultierende Raster ist die Partitur, welche dann in verschiedenen Medien reproduziert wird: auf traditionellen Instrumenten, auf dem computergesteuerten Klavier oder durch weißes Rauschen.6

Ablinger schlägt verschiedene heuristische Analogien vor, um das phonorealistische Verfahren anschaulich zu machen.

Da wäre zuallererst das photorealistische Verfahren Gerhard Richters, bei dem Photographien gerastert und die einzelnen Bildquadrate anschließend händisch auf die Leinwand übertragen werden. Wenn es nun möglich wäre, eine Phonographie auf ähnliche Weise in lauter gleich große Quadrate aufzuteilen oder nach Zeit und Frequenz zu rastern, dann ließen sich die jeweiligen Rauschwerte anschließend Quadrat für Quadrat in das notationelle Raster einer Partitur eintragen und eine tonsetzerische Entsprechung zum Verfahren in der Malerei wäre gefunden – eine Phonographie ließe sich nun mit Noten beziehungsweise Tönen abmalen. – Während eine solche Rasterung im visuellen Bereich ohne weiteres möglich ist, lauert im Audio-Bereich eine kleine Problemstellung. Schallaufzeichnungen zeichnen ja nicht Noten oder musikalische Intervalle auf, sondern physikalische Schwingungen, das heißt eine einzige in der Zeit veränderliche Größe (Schalldruck). Man vergegenwärtige sich etwa die Wellenformdarstellung in einem Audio-Editor: Die y-Achse ist keine Frequenzskala, sie zeigt die Auslenkung einer Schwingung in Abhängigkeit von der Zeit an. – Die Grobrasterung von Phonographien ist daher mit der Aufgabenstellung verbunden, die stetigen Kurvenzüge, die Schallereignisse sind, irgendwie aus dem Zeit- in den Frequenzbereich zu transformieren. Frequenzanalyse (etwa via Fast Fourier Transform, FFT) ist quasi die Camera obscura des sich in ,Pseudomorphose an die (Portrait-)Malerei‘ (Adorno) übenden Tonsetzers – sie gestattet einen Einblick in die spektrale Zusammensetzung von Schwingungsereignissen, die die Einhüllende (dem bloßen Ohr in der Zeit und) dem bloßen Auge in der Time-Domain verhüllt.

Eine andere Analogie betrifft Techniken aus der Gebrauchsgraphik, bei denen Photos mittels Grobrasterung in Druckvorlagen transformiert werden. Durch Rasterung wird die Bildvorlage in hellere und dunklere Bildquadrate aufgeteilt; im Druckbild setzen sich hellere Quadrate aus vielen kleinen Punkten zusammen, dunklere aus vielen großen; mit nur einer Druckfarbe lassen sich so verschiedene Graustufen wiedergeben. Dies scheint den technischen Aspekt des phonorealistischen Verfahrens besser zu beschreiben.

„Voices and Piano“ tendiert eher zur photorealistischen Malerei: Die Rasterung ist nur eine präkompositorische Vorarbeit, die gerasterte Vorlage will anschließend noch händisch und mit Augenmaß abgemalt, Farben auf der Palette angerührt, Kontraste gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Es darf wieder (ein bisschen) komponiert werden. Die „Quadraturen“ und das ‚sprechende (Automaten-)Klavier‘ tendieren eher zur Gebrauchsgraphik: Hier ist die gerasterte Vorlage unmittelbar die Partitur und die Ergebnisse der Rasterung sollen nicht abgemalt, sie brauchen bestenfalls abgeschrieben zu werden. Die Ergebnisse der Rasterung können auf dem computergesteuerten Klavier gar in Echtzeit abgespielt werden, die (Klavierklang-)Farbe muss gleichsam nur noch durch die Druckschablone hindurchgedrückt werden. Beim ‚sprechenden Klavier‘ aus „A Letter from Schoenberg“ wird mithin der zeitlich-spektrale Scan im Raster notationell (nicht: kompositorisch) beherrschbarer Parameter selbst zur Sache. Aufgrund der technischen Spezifikationen (sechzehn Anschläge in der Sekunde, alle achtundachtzig Tasten gleichzeitig, jede Taste mit einer anderen Anschlagsstufe) des von Winfried Ritsch gebauten Klaviervorsetzers können Phonographien auch bedeutend engmaschiger gerastert werden, wodurch sich die Wiedergabe auf dem automatischen Klavier einer schallrealistischen Wiedergabe annähert.

Ablingers Analogien aus dem visuellen Bereich sind ebenso anregend wie anschaulich. Trotzdem möchte ich noch einen weiteren, eher theoretischen Bezugspunkt vorschlagen, der das phonorealistische Verfahren nicht nur anschaulich illustriert, sondern die damit verbundenen Fragen und Probleme geradezu auf den Begriff zu bringen erlaubt: die Medientheorie Friedrich Kittlers.

Grammophon, Film und Typewriter

Friedrich Kittler – habilitierter Germanist, Militärhistoriker, Hobbybastler von (mittlerweile im Deutschen Literaturarchiv musealisierten) Modularsynthezisern und Namenspatron einer zeitweilig als ‚Kittler-Jugend‘ verballhornten intellektuellen Anhängerschaft – reüssierte in den Achtzigerjahren als Begründer einer auch als ‚German Media Theory‘ bekannt gewordenen Medienarchäologie, die eklektisch kanadische Medientheorie mit Literaturanalyse, Technik- und Militärgeschichte mit französischen (Post-)Strukturalismus verrührt.Wozu aber überhaupt eine Theorie der Medien?

Me­dien – : Das sind bei Kittler (Medien- und Kultur-)Techniken, die der Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Daten und Signalen dienen. „Elementares Datum ist, daß Literatur (was immer sie sonst noch in Leserkreisen bedeuten mag) Daten verarbeitet, speichert, überträgt“.7 Das gilt neben Literatur auch bereits für die Schriftmusik. Was aber überhaupt ein Datum ist (und nicht etwa nicht), darüber befinden nicht Künste, sondern ihre Medien – „über Ästhetik sind sie immer schon hinaus“.8 Weit davon entfernt also willfähriges Transportmittel oder bloßes Vehikel übermittelter Botschaften zu sein, gilt im Gegenteil (mit McLuhan) „the medium is the message“ oder (mit Nietzsche) „unser Schreibzeug schreibt mit an unseren Gedanken“ oder (mit Kittler) „Medien bestimmen unsere Lage“.9 Mithin ist es Kittlers Medientheorie nicht um die Medieninhalte sondern um die Medientechniken, das heißt ihre Schaltungen, Datenformate und operativen Funktionslogiken zu tun.

Mindestens zwei zentrale Theoriestücke Kittlers verdienen im Hinblick auf Ablingers Phonorealismus unsere Aufmerksamkeit: Zum einen seine medienhistorische
Periodisierung in Schriftmonopol (vor 1900), Mediendifferenzierung (1900), Computer (2000); zum anderen seine medientheoretische Aneignung der Registertheorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan.

Aus Kittlers medienmaterialistischer Grundausrichtung, die Medien als unhintergehbare Vorbedingung einer gegebenen Kultur pointiert, folgt unmittelbar seine historische Zäsur-Emphase angesichts medientechnologischer Innovationen. Die entscheidende medienhistorische Zäsur seit der Erfindung des griechischen Vokalalphabets ist für Kittler jedoch nicht bereits der Buchdruck und auch nicht erst die Erfindung des Computers, sondern die Etablierung von neuen Speichertechniken um die vorletzte Jahrhundertwende.

Vor 1900 hatte Schrift ein Monopol auf zeitserielle Datenspeicherung: Was überhaupt ein Datum war (und nicht etwa nicht), musste von Menschenhand auf Grundlage eines endlichen Zeichenvorrats geschrieben werden können. Buchstaben (A–Z) encodieren natürliche Sprachen, Noten (a–h) encodieren Musik. Für die Frequenzgemische jedoch, die (alphabetische Kleinstelemente wie) Sprachphoneme und Musikintervalle sind, ist Schrift unzuständig. Unterm Schriftmonopol bleiben Sinnesdaten (Geräu­sche im Akustischen, Gesichte im Optischen) das, was – mit Lacan – ,nicht aufhört, sich nicht zu schreiben‘, das heißt eine (medientechnische) Unmöglichkeit.

Erst um 1900 ereignet sich jener folgenreiche erfindungsgeschichtliche Zufall: Dass etwas – wieder mit Lacan – ‚aufhört, sich nicht zu schreiben. Unscheinbare, zunächst mechanische, später elektrische und elektronische Apparate treten auf den Plan, die nicht auf Grundlage eines endlichen Zeichenvorrats, sondern auf reeller Zahlenbasis operieren. Edisons Phonograph von 1877 etwa schreibt statt Sprachphonemen und Musikintervallen die stetigen Kurvenzüge von Schwingungsereignissen auf, die menschlichen Schreibhänden schlechterdings davonlaufen: Nicht die Verhältnisse zwischen Frequenzen, sondern die Frequenzen selbst, wie etwa die 440 Schwingungen, die der Kammerton a in einer einzigen Sekunde hinlegt. Edisons analphabetischer Schreib-/Leseapparat unterläuft menschliche Wahrnehmungs- und Notationsschwellen und reicht auch dort noch hin, wo Leuten Hören, Sehen und Schreiben vergeht. Wenige Jahre später, 1892, erfindet ebenfalls Edison einen Kinetographen, wenn­gleich es diesem Apparat im Gegensatz zum Phonographen nicht so recht gelingt, den stetigen Kurvenzügen seiner optischen Eingangsdaten zu folgen: Weil Lichtwellen billionenmal schneller sind als etwa die 440 Schwingungen des Kammertons, laufen sie den Filmkameras (und nicht nur menschlichen Schreibhänden) bis heute davon. Der Stummfilm muss daher seine zweiundzwanzig Schnitte in der Sekunde vornehmen, um neben den akustischen auch die optischen Sinnesdaten speicherbar zu machen. Mit Phonograph und Kinetoskop sprengen technische Analogmedien das Monopol der Schrift auf zeitserielle Datenspeicherung, zeitgleich tritt mit der Schreibmaschine Blockschrift an Stelle von Handschrift: Speichergeräte, die erstmals akustische oder optische Datenflüsse festhalten einerseits, „ein ,Zwischending‘ zwischen einem Werkzeug und der Maschine“ (Heideg­ger), das „Alteuropas einzige Speichertechnik“10 mechanisiert, andererseits. Grammophon, Film und Typewriter.

Gegen 2000 tritt auf Grundlage von Turings Modell einer universalen diskreten (Rechenschreib-)Maschine der Digitalrechner seinen Siegeszug an und alle Datenströme (Ton, Text, Bild) werden einer Codierung in zweiter In­stanz unterworfen. Unterm Digitalstandard werden also auch analoge Datenströme als ‚Schrift‘ encodierbar: Das sind jedoch Siliziuminschriften, die weder Menschenauge liest, noch Menschenhand schreibt und deren Code weder Buchstabe, noch Note, sondern Ziffer (0/1) ist.

Die Ausdifferenzierung in Speichertechniken für akustische, optische und maschinenschriftliche Datenflüsse um 1900 hängt nun eng zusammen mit Kittlers Aneignung der lacanschen Register des Realen, Symbolischen und Imaginären. Das Symbolische Lacans verdankt sich einer Radikalisierung der Strukturlinguistik Saussures. Ein Zeichen ist weniger das, was ein Bezeichnetes repräsentiert; ein Zeichen oder Signifikant ist das, was an die Stelle eines anderen Signifikanten gerückt werden kann. Das Symbolische ist keine Semantik, sondern eine Syntax: eine endliche Menge diskreter Elemente, die sich zu ‚Ketten aus Ketten’ kombinieren. Ein Gitter oder Raster. Das Imaginäre ist der – vom Symbolischen strukturierte – Bereich des Signifikats, der Repräsentation, aber auch der konstitutiven Illusionen und folgt dem Modell des Spiegels. Etwa ab dem sechsten Lebensmonat beginnen Kleinkinder im Spiegel sich selbst zu (v)erkennen: In der einheitlichen Gestalt ihres Spiegel- oder Körperbilds antizipieren sie eine Ganzheit, über die ihr sensomotorisch fragmentierter Körper noch gar nicht verfügt. Double, Doppelgänger, Spiegelphantom: Aus solchen Spiegeleffekten geht das Ich selbst hervor. Das Reale schließlich – nicht mit der imaginär-symbolischen Realität zu verwechseln – ist das, was weder eine Gestalt hat wie das Imaginäre, noch eine Syntax wie das Symbolische. Es bildet jenen Rest oder Abfall, den weder die Raster des Symbolischen, noch die Spiegel des Imaginären einfangen können. Das Reale ist das ‚Unmögliche‘.

Kittlers kaltschnäuzige These lautet nun: Die Registertheorie Lacans hat ihr (mit Foucault) historisches Apriori an der Mediendifferenzierung um 1900 und „der Strukturalismus als Theorie buchstabiert nur nach, was seit der Jahrhundertwende an Daten über die Nachrichten­kanäle läuft.“11 Das Symbolische ist einfach eine Schreibmaschine. Maschinenschrift ist nichts als Selektion aus dem endlichen Zeichenvorrat der Tastatur „ohne daß die philosophisch erträumte Unendlichkeit von Bedeutung ir­gend in Anschlag käme. Was zählt sind nur die Differenzen (oder um es in Schreibmaschinensprache zu sagen) die Spatien zwischen den Elementen eines Sys­tems.“12 Das Imaginäre mit seinen Illusionen ist schlicht Kino.

Das Imaginäre implementiert „genau die optischen Illusionen, deren Erforschung auch an der Wiege des Kinos stand. Einem zerstückelten oder (im Fall der Filmaufnahme) zerhackten Körper tritt die illu­sionäre Kontinuität von Spiegel- oder Filmbewegungen gegenüber.“13 Das Reale ist einfach ein Edison-Phonograph. Erst Edisons Talking Machine „hält fest, was Kehlköpfe vor jeder [symbolischen] Zeichenordnung und allen [imaginären] Wortbedeutungen an Geräusch auswerfen.“14

Um Kittlers medientechnische Aneignung der lacanschen Registertheorie auf ein noch handlicheres Format zu bringen, könnten wir den Unterschied zwischen Realem und Symbolischen, Rauschen und Signifikanten- oder Markow-Kette, Materie und Information auch auf ein bisschen Mengenlehre schrumpfen lassen. Als eine Kombinatorik von Signifikanten ist das Raster des Symbolischen diskret (oder digital) und operiert – wie die Schreibmaschine oder die Klaviatur – auf der Grundlage einer Teilmenge der natürlichen Zahlen, also einer abzählbar-endlichen Menge (a–h, A–Z, 0–1). Das Reale oder ‚le réel‘ hingegen, das – mit Lacan – ‚ohne Riss‘ ist, ist jen­seits aller Signifikantenordnung und Differentialität: Es ist stetig (oder analog) und operiert – wie Phonograph oder Schallplatte – auf Grundlage der reellen Zahlen, also einer überabzählbaren Menge. Das Imaginäre schließlich ist der Bereich menschlicher Täuschungen: Verwechslungen von Ich und anderem, von zerstückeltem Körper und Spiegelbild, von Signifikant und Signifikat oder eben – im Falle des Films – von diskreten (Stand-)Bildfolgen mit kontinuierlicher Bewegung. Das Kontinuum des Rea­len, die Illusionen des Imaginären, die Diskretion des Symbolischen: Grammophon, Film, Typewriter.

Sender: technische Analyse des ‚sprechenden Klaviers‘

Kehren wir nach diesem Briefing unseres medienarchäologischen Gewährsmanns Kittler zu Ablingers „A Letter from Schoenberg“ zurück. Der um 1900 erreichte medientechnische State of the Art macht nämlich auch vor dem Hause Schönberg nicht Halt. Bereits 1909 bringt Schönberg höchstpersönlich das musikalische Material auf den historischen Stand auch der neuesten Bürotechnik – der Zwölftonkomponist reicht eine Patentschrift für eine Notenschreibmaschine ein.15 Und ab 1948 gehört – nebst Klavier und Schreibmaschine – auch ein Drahttongerät der Marke Webster Wire Recorder zum schönbergschen Hausrat, das es dem Notenschreiber fortan erlaubt, seine Briefkorrespondenz bequem zu diktieren. Was nun mit Ablingers computergestützter Klaviertranskription einer Diktaphonaufnahme Schönbergs auf dem Tisch liegt, ist jene Mediendifferenzierung, die sich auch in der kalifornischen Villa des Exil-Komponisten breitgemacht hat: Auf der einen Seite ein Speichermedium, das die Werke des Zwölftonkomponisten aufschreibt, auf der anderen ein Speichermedium, das die Geräusche aufzeichnet, die er so macht.

Zwei inkompatible Formate zeitserieller Datenspeicherung stehen sich gegenüber: Einerseits ein Abkömmling des Edison-Phonographen, dessen Schreib/Lese-Kopf den stetigen Kurvenzügen seiner Eingangsdaten folgt und Ana­logsignale speichert, andererseits (Noten-)Schrift, die im Raster von Fünfliniensystem und Taktstrich verfährt oder wie das Klavier, diese Lese- und „Schreibmaschine des musikalischen Diskurses“,16 im diskreten Raster der Klavia­tur. Mit dieser Mediendifferenz liegt zugleich eine zweite, ‚ontologische‘ Differenz vor, nämlich zwischen den lacanschen Registern des (Musikalisch-)Symbolischen, wie es Notenpapier aufschreibt oder die Klaviatur greifbar macht, und dem (Akustisch-)Realen, das vor dem Auftritt technischer Analogmedien auf der historischen Bildfläche nicht aufgezeichnet werden konnte und daher das ‚Unmögliche‘ war. Das Kontinuum des Realen (Phonographie) und die Diskretion des Symbolischen (Schrift). (Das Imaginäre hingegen muss bis auf Weiteres außen vor bleiben – in den Apparaten selber, die Leute mit Interface-Effekten beliefern, gibt es nämlich nichts Imaginäres.)

Das phonorealistische Verfahren zielt nun auf eine Medientransposition. Das Geräusch, das der Zwölftonkomponist im Jahre 1951 in sein Drahttongerät spricht, soll im Raster von Fünfliniensystem und Taktstrich analysiert und anschließend auf der Klaviatur abgespielt werden. Das (Akustisch-)Reale, das Schrift doch ‚nicht aufhört, nicht zu schreiben‘, soll im Raster des (Musikalisch-)Symbolischen arretiert werden, die stetigen Kurven­züge von Schallereignissen in diskrete Tastenanschläge überführt und die unabzählbar vielen Zahlenwerte, die eine Schallplatte zu jedem Zeitpunkt annehmen kann, auf den achtundachtzig Tasten der Klaviatur nachbuchstabiert werden. Das Reale soll das Nadelöhr des Signifikanten passieren und symbolisiert werden.

Doch eine restlose Symbolisierung des Realen – das ist gerade die Pointe dieser Medientransposition – ist zum Scheitern verurteilt. Eine eineindeutige Abbildung einer Teilmenge der reellen Zahlen auf eine Teilmenge der natürlichen Zahlen bleibt eine Unmöglichkeit, über die eine Abtastfrequenz von 44100 Hertz wohl (auch puristische) Ohren hinwegtäuschen mag, nicht aber eine Anschlagsfrequenz von sechzehn Hertz. Das Scheitern einer wirklich schallrealistischen Wiedergabe von Schönbergs Diktaphonaufnahme auf dem computergesteuerten Klavier macht das sinnfällig: Das Klavier ‚spricht‘ und buchstabiert auf seinen Tasten doch nur das musikalische ABC.

Der Unmöglichkeit einer restlosen Symbolisierung des Realen entspricht die unmögliche „Quadratur“ des Kreises, die Ablingers Werkreihe im Titel führt. Ein Quadrat lässt sich in endlich viele Strecken zerlegen, ein (vollkommener) Kreis nicht. Das Eckige (als Domäne der natürlichen Zahlen) und das Runde (als Domäne der reellen Zahlen) stehen in einem Verhältnis, welchem dasjenige zwischen (Noten-)Text und Phonographie oder zwischen dem Kontinuum des (Akustisch-)Realen und der Diskretion des (Musikalisch-)Symbolischen entspricht. „Texte sind strukturell, eckige Entitäten, aus Buchstaben gemacht, und es gibt keinen Übergang zwischen A und B, sondern dazwischen ist dasselbe Loch wie zwischen Null und Eins“.17 Mit der Approximation einer schallrealistischen Wiedergabe von Phonographien auf dem Klavier avisiert das phonorealistische Verfahren die unmögliche Quadratur des Kreises: ein Kreis soll in ein Polygon mit n + 1 Ecken verwandelt werden, doch sein Flächeninhalt kann nur angenähert werden.

Fragen wir nun nach der technischen Realisierung dieser Quadratur des Kreises, das heißt, der Transposition aus dem realen Register eines analogen Speicherme­diums in das symbolische Register einer Klaviatur. Am einen Ende (Quelle) spricht Schönberg in sein Diktaphon, am anderen Ende (Kanal) kommt es als Klaviermusik wieder heraus – : Was passiert in der zwischengeschalteten Blackbox (Sender)? Wie wird aus Schönbergs phonographiertem Briefdiktat ein Klaviersatz?

Eine altbekannte Musikanwendung bietet ein anschauliches Modell um die technische Problemlösung zu rekonstruieren: Der klassische Kanalvocoder oder Vocoding-Effekt. Gegeben seien zwei Signale, typischerweise ein Sprechsignal A (Modulator) und ein Instrumentensignal B (Carrier). Die Idee ist es nun, ein Instrument zum ‚Sprechen‘ zu bringen, einfach indem die für das Sprechsignal A charakteristischen Formantbereiche im Instrumentensignal B verstärkt oder abgeschwächt werden. In einem Analyseteil wird Signal A in zehn Teilfrequenzbänder aufgespalten, deren Amplitudenhüllkurven gemessen und dann als Steuersignale verwendet werden. In einem Re-Synthese-Teil können diese Hüllkurven der Trägerschwingung, die ebenfalls in zehn Frequenzbänder aufgespalten wurde, aufmoduliert werden. Wie man sieht, ist das Verhältnis von Carrier/Modulator dem Verhältnis von Stimmbändern/Artikulationsorganen nicht unähnlich: Die Stimmbänder liefern nur eine Grundschwingung, auf die das Ensemble aus Nasen-, Mund- und Rachenhohlräumen filternd wirkt.

Im Modell lässt sich die Grobrasterung von Phonographien (Analyse) und ihre näherungsweise schallrealis­tische Wiedergabe auf dem Klavier (Re-Synthese) nun rekonstruieren. Der Vocoder liefert eine ‚wohltemperierte‘ Frequenzanalyse. Zunächst zerlegt die Filterbank das Eingangssignal in nicht nur zehn, sondern in achtundachtzig verschiedene Teilfrequenzbänder (die Anzahl der Tasten oder Saitenchöre eines Konzertflügels) und die Grenzwerte der einzelnen Bandpassfilter bilden keine lineare, sondern eine logarithmische Skala (die äquidistante Skala des gleichstufig temperierten Tonsystems). Die Filterbank ist also ein ‚Halbtonfilter‘. Nun kann ein Hüllkurvendetektor die achtundachtzig Hüllkurven extrahieren, die als Steuersignale weiterverwendet werden. Zuletzt müssen die Steuersignale digitalisiert, das heißt zu äquidistanten Zeitpunkten (die diskreten Zeitstellen der Notenschrift) abgetastet und der Amplitudenverlauf auf eindeutige Werte gebracht werden (die Anschlagstufen des ‚Schwachstarktastenkastens‘). Das Ergebnis dieser ‚wohltemperierten‘ Frequenzanalyse, die das Eingangssignal in achtundachtzig Frequenzbänder {c5– h4, h4– b4 ... B2–A2} zerlegt, ihre Hüllkurven sechzehnmal in der Sekunde (M.M. = 960) abtastet und den Pegel/Amplitudenverlauf mit einer Auflösung von acht Bit {fff, ff ... ppp} quantisiert, ist ein Parametersatz (Frequenzband, Zeitpunkt, Amplitude), der auf einen musikalischen Parametersatz (Tonhöhe, -dauer, -stärke) abgebildet beziehungsweise in einen MIDI-Datensatz (pitch, note-on/off, velo­city) oder (altmodisch:) Tonsatz konvertiert werden kann. Aus Vocoding wird Speech-to-(Noten-)Text: Der Vocoder encodiert sprechende Stimmen nicht mehr in Signalbündeln, sondern im Fünfliniensystem.

Zwar sind Ablinger und seine kleine ‚Factory‘ (Thomas Musil, Winfried Ritsch) den umgekehrten, das heißt com­putergestützten Weg gegangen:18 Das Sprechsignal wurde zuerst digitalisiert und in numerische Werte verwandelt, anschließend wurde durch Fast Fourier Transform das Spektrum des Digitalsignals in einer Serie kurzer Zeitfenster berechnet. Doch sei es in rechnerischer Form einer FFT oder eben im Modell des Vocoders: Wir erhalten eine zeitvariante spektrale ‚Beschreibung‘ von Schallkonserven, die den Prästrukturierungen von Notenschrift, Klaviatur und Klaviervorsetzer genügt und dem Tonsetzer quasi direkt in die Feder diktiert.

Beim klassischen Kanalvocoder würde auf den Analyse-Teil nun ein Re-Synthese-Teil folgen, der das Verfahren invers auf eine neue Trägerschwingung anwendet. Beim ‚sprechenden Klavier‘ hingegen gibt es keine neue Trägerschwingung. Stattdessen wird die symbolische Ma­trix der Klaviatur kurzerhand vom musikalischen Tonsystem zur physikalischen Frequenzskala umgewidmet: Das Teilfrequenzband wird zum Klavierton und das rekonstruierte Spektrum zum Klavierakkord. Die ‚Re-Synthese‘ des analysierten Signals ist einfach das Abspielen eines Notentexts auf den Tasten des Klaviers.

Kittler rechnet hoch: „Bei Lichtorgeln steuern akustische Signale optische, bei Computermusik maschinensprachliche akustische, bei Vocodern gar akustische Daten akustische.19 Bei ‚sprechenden Klavieren‘ schließlich (anders als bei Vocodern) steuern akustische Daten notenschriftliche – und notenschriftliche (wie gehabt) Klaviere. Damit kann der reale Datenfluss – also das, was vor Ende des Schriftmonopols ‚nicht aufhörte sich nicht zu schreiben‘ – auf einmal ins gute alte Medium der Notenschrift übergehen und die musikalische Lese- und Schreibmaschine wird zur Talking Machine: Chaotische Schwingungsereignisse, wie sie Kehlköpfe auswerfen, steuern oder in-formieren den musikalischen Signifikanten-Tresor. Das (Musikalisch-)Symbolische wird vom (Akustisch-)Realen infiltriert.

Empfänger: „Sonate, que me veux-tu?“

Wechseln wir nun von der Sender- auf die Empfängerseite, um „A Letter from Schoenberg“ weniger unter medientechnischem Gesichtspunkt, als vielmehr unterm Gesichtspunkt der Wahrnehmung zu analysieren. Ablinger hat den 4’33’’-Quietismus Cages (sounds in themselves) einmal seine Skylla, die mit dem Namen Schönberg verbundene Fortschreibung alteuropäischer Voraussetzungen seine Charybdis genannt, also wenn man so will: die Freisetzung des (Akustisch-)Realen zur linken, Werk und Autorschaft im (Musikalisch-)Symbolischen zur rechten Hand. Seine Bereitschaft, sechs Mann zu opfern, scheint jedoch eher der Skylla zu gelten: Eine „allzu geradlinige Cage-Nachfolge20 soll zwar vermieden, aber jene Verschiebung vom Werk auf das Hören hin, wie sie Cage ja angestoßen hatte, vollzogen werden. Anders als Cage nun ist Ablinger daran interessiert, Beziehungen zwischen und Beziehungen zu Klängen herzustellen – Beziehungen, die ungewohnte Wahrnehmungsperspektiven eröffnen und Wahrnehmung selbst problematisieren. An anderer Stelle spricht Ablinger von ‚Wahrnehmungskonstellationen‘.

Die Klänge interessieren mich nicht. Nicht als solche. Klänge und klangliche Phänomene sind nur […] Materialien, mit denen ich bestimmte Wahrnehmungskonstellationen in Gang bringen kann.21

Auch die phonorealistischen Arbeiten lassen sich als ‚Wahrnehmungskonstellationen‘ analysieren. Sie kon­stellieren Phonographien mit ihrer schriftmusikalischen Grobrasterung beziehungsweise autopianistischen Reproduktion. Ihr Verhältnis beschreibt Ablinger als Beobachtungsverhältnis: „Die Musik beobachtet die Wirk­lich­keit.“22

Das Akustisch-Reale, wie es nur technische Analogmedien registrieren und aufzeichnen können, wird im Raster des Musikalisch-Symbolischen ‚beobachtet‘. Durch die (sei es auch nur virtuelle) Gegenüberstellung von Phonographie und phonorealistischer Klavierreproduk­tion entsteht für Hörerinnen und Hörer eine Situation des Vergleichs, in der die Kluft zwischen beiden Registern hervortritt.

Dieses ‚Beobachtungsverhältnis‘, das die phonorealistische Wahrnehmungskonstellation inszeniert, und die dadurch entstehende Vergleichssituation zielen auf eine Problematisierung von Wahrnehmung. Dabei geht Ablinger von der These aus, dass die Wahrnehmung – darin dem phonorealistischen Verfahren nicht unähnlich – in Rastern organisiert ist und das Wahrgenommene in solche differentiellen Netze einträgt. Zum Verhältnis von phonographierter Sprechstimme und ihrer pianistischen Reproduktion in Voices and Piano“ bemerkt er etwa:

Und das Klavier ist nicht wirklich die Begleitung der Stimme. Das Verhältnis der beiden ist eher das eines Vergleichs. Sprache und Musik werden verglichen. Man könnte auch sagen: Wirklichkeit und Wahrnehmung. Wirklichkeit (Sprache) ist kontinuierlich, Wahrnehmung (Musik) ist ein Raster, der an das erstere heranzukommen versucht.23

Eine Kluft tut sich also auf nicht nur zwischen Phonographie und phonorealistischer Grobrasterung, sondern auch zwischen dem Realen und der wahrgenommenen Realität.

Wenn aber beide – Wahrnehmung und phonorealistisches Verfahren – in Rastern organisiert sind, dann wird das phonorealistische Verfahren gewissermaßen zu einem Modell, einem Bild oder zu einer ‚Metapher‘ der Wahrnehmung.

Die Musik, das kulturell Geschaffene, wird also zur Metapher für Wahrnehmung. Einer Wahrnehmung, die dem Wahrgenommenen in keiner Weise gerecht werden kann, uns in diesem Scheitern dafür umso mehr über die Grenzen unserer Wahrnehmung und über den Vorgang des Wirklichkeit-Erzeugens beim Wahrnehmen berichten kann.24

Und wenn das phonorealistische Verfahren oder das Beobachtungsverhältnis (‚Musik beobachtet Wirklichkeit‘) eine Art ‚Metapher der Wahrnehmung‘ ist, dann avanciert das Hören einer phonorealistischen Arbeit zur Wahrnehmung von (in Gänsefüßchen) Wahrnehmung‘. Ablinger bringt das auf eine Formel und pointiert: „Das Hören ist [...] das Mittel zur Wahrnehmung von Wah­r­nehmung.25

Hinsichtlich der (im weitesten Sinne) phonorealistischen Arbeiten wäre diese reflexive Rückwendung der Wahrnehmung auf sich selbst mithin so zu verstehen, dass die Wahrnehmung mit einem – horribile dictu –
(imaginären) Spiegelbild ihrer selbst konfrontiert wird.Das mag – insbesondere im Hinblick auf „Voices and ­Piano“ – etwas treffen, ist jedoch nicht die einzige Art und Weise, wie Ablingers Formel einer reflexiven ‚Wahrnehmung von Wahrnehmung‘ oder Wahrnehmung zweiter Stufe verstanden werden kann. Bei „A Letter from Schoenberg“ nimmt sie – wie gleich gezeigt werden soll – noch einen etwas anderen Sinn an.

Bevor wir jedoch die Frage nach einer solchen Wahrnehmung zweiter Stufe wiederaufnehmen, wollen wir zunächst auf der ersten Stufe verbleiben, um den Wahrnehmungsvorgang, der sich vor dem ‚sprechenden Klavier‘ abspielt, auf eine simple Frage hin zu untersuchen: Wie wird aus Zwölftonmusik wieder die Stimme des Zwölftonkomponisten? „A Letter from Schoenberg“ gleicht einer akustischen Kippfigur: Klavier-Hören schlägt um in Sprache-Verstehen. Der Encodierungsvorgang auf der Sender-Seite (Sprache wird zu Klaviermusik) wird durch den Wahrnehmungsvorgang auf der Empfänger-Seite (Klaviermusik wird zu Sprache) gewissermaßen in inverser Form wiederholt. Versuchen wir, diesen Wahrnehmungsvorgang in den Registern des Realen, des Symbolischen und nun auch: des Imaginären zu analysieren.

Unschuldige Hörer und Hörerinnen hören zunächst nicht mehr als zu sehen ist: ein Klavier. Denn eine schallrealistische Wiedergabe von Phonographien kann auf dem Klavier nur angenähert werden. Das ist nicht nur der Grobrasterung von Schönbergs Stimme im Raster von Fünfliniensystem und Taktstrich geschuldet; weil jeder der Klaviertöne, die je ein Teilfrequenzband des rekonstruierten Fre­quenz­gemischs vertreten, selber ein Frequenzgemisch ist und damit Obertonsalat produziert, ist der reale Klavier­output beziehungsweise Ohreninput ‚verrauscht‘ und die Stimme Schönbergs nicht zu erkennen. Rauschen im Übertragungskanal: Sonate, que me veux-tu?

Um im Sound des Klaviers nun nicht bloß ein Klavier, sondern die Stimme Schönbergs zu vernehmen, muss sozusagen das Kanalrauschen reduziert und der Signal-Rausch-Abstand optimiert werden. Erst wenn Hörerinnen und Hörer das Hören der Klaviertranskription mit dem Lesen einer Schreibmaschinentranskription zu koordinieren anfangen, beginnt sich der Schleier vor Schönbergs klandestin gewordenen Briefdiktat zu lüften und eine Art Cocktailparty-Effekt stellt sich ein: Das Nutzsignal (Stimme) wird aus dem Gemisch des Störschalls (der spektrale „Schmutz“ des Klaviersounds) gefiltert/extrahiert.

Zunächst muss das reale Schallereignis im Raster des Symbolischen analysiert werden. Das ist nun aber nicht das Raster des Musikalisch-Symbolischen, sondern dasjenige des Alltagssprachlich-Symbolischen: Schreibmaschine statt Klaviatur, Buchstaben- statt Notentext, A–Z statt a–h. Der Klaviersatz wird also nicht (wie im Gehörbildungsunterricht) auf Akkorde und Melodien hin abgehört, sondern (wie im Kaffeehaus) auf Vokale und Konsonanten, Periodizität und Rauschen, A und Z.

Auf Grundlage dieser phonetisch-phonologischen Analyse des Klavieroutputs kann zur imaginären ‚Re-Synthese‘ des Sprechsignals übergegangen werden. Im Sound des Klaviers beginnen Hörerinnen und Hörer ihresgleichen zu (v)erkennen: Der Klavierakkord wird zum sprachlichen Laut, die diskrete Anschlagsserie zum stetigen Kontur, der Konzertflügel zur Phantomstimme, Zwölftonmusik zum Zwölftonkomponisten. Wie (bei Lacan) vorm Spiegel, der anstelle des ‚zerstückelten Körpers‘ das vollkommenere Spiegelbild treten lässt, oder (bei Kittler) vor der Filmleinwand, die vierundzwanzig zerhackte Einzelbilder pro Sekunde mit der illusionären Kontinuität von Filmbewegungen verwechseln lässt, runden sich die zerhackten sechzehn Klaviercluster pro Sekunde zur Gestalt einer imaginären Phantomstimme. Wird also das reale Schallereignis (Klavieroutput oder Ohreninput) im symbolischen Raster einer Alltagssprache (Letter oder Typoskript) arretiert und als imaginäre Gestalt (Phantomstimme Schönbergs) ­(v)er­kannt, dann beginnt das ‚sprechende Klavier‘ zu sprechen – und zwar auf Englisch und mit schönbergschem Zungenschlag. Schönbergs Post ist zugestellt.

Kommen wir damit auf den versprochenen etwas anderen Sinn zu sprechen, den die Formel „die Musik ist das Mittel zur Wahrnehmung von Wahrnehmung“ annehmen kann. Die Wahrnehmung wird nicht nur mit einer Metapher oder einem Bild ihrer selbst konfrontiert; die Wahrnehmung wendet sich in ihren Vollzügen, das heißt in actu, auf sich selbst zurück. Wie gelingt diese Rückwendung der Wahrnehmung in actu?

Das ‚sprechende Klavier‘ begünstigt eine Hörillusion: Man glaubt, die Stimme des Zwölftonkomponisten zu vernehmen, obwohl doch nur Zwölftonmusik zu hören ist. Da eine wirklich schallrealistische Wiedergabe von Phonographien auf dem Klavier jedoch nicht möglich ist, stellt sich diese Illusion erst nach kurzer Einübung in die geforderte Hörweise ein. Und auch danach bleibt die Illusion eine unvollkommene: Man findet sich in einer Art Zwischenbereich wieder, in dem Klavier-Hören und Sprache-Verstehen eigentümlich oszillieren.

Die Rückwendung der Wahrnehmung auf sich selbst verdankt sich nun dem besonderen Charakter der sich einstellenden Hörillusion. Die Illusionen technischer Me­dien (Stroboskopeffekt, Nachbildwirkung) etwa nutzen naturwissenschaftliche Konstanten und psychophysische Schwel­lenwerte, um unsere Sinne zu überlisten; die Illusionen selber dürfen (im Kino) übersehen, (in der Diskothek) einfach überhört werden. Von solchen Illusionen unterscheidet sich die Hörillusion, wie sie sich vor dem ‚sprechenden Klavier‘ einstellt, auf zweierlei Weise. Erstens werden hier nicht nur die Sinne betrogen, die Sinne selber stehen unter Verdacht, zu betrügen. Wo ungewiss bleibt, ob das Wahrgenommene (etwa die Stimme Schönbergs) „wirklich real im Raum [ist] oder nur in unserem Kopf“,26 beginnt man seinen Sinnen nicht mehr zu trauen und das Wahrgenommene als Illusion zu verdächtigen.
26

Illusionen problematisieren also Sinneswahrnehmung – aber nur unter der Voraussetzung, dass ihr Status als Illusionen nicht unbemerkt bleibt. Zweitens wird die irritierende Hörillusion zwar durch das technische Setup begünstigt, aber erst durch die Spontaneität der Hörer und Hörerinnen aktualisiert. Darum zielt sie auch weniger auf Einsichten über das zeitliche Auflösevermögen des Ohrs oder Maskierungseffekte in einem kritischen Band, sondern lässt die Wahrnehmung auf ihre eigenen aktiven Wahrnehmungsleistungen aufmerksam werden – jene Wahrnehmungsarbeit, die das reale Schallereignis auf den Raster des (Alltagssprachlich-)Symbolischen hin dimensioniert, um im Sound des Klaviers eine imaginäre Stimme wiederzuerkennen.

Wie wir gesehen haben, handelt es sich bei dieser Wahrnehmungsleistung um nicht viel anderes als einen Cocktailparty-Effekt, der den Signal-Rausch-Abstand optimiert. „A Letter from Schoenberg“ schlägt also – wie ­etwa auch die Stücke der „Instrumente und Rauschen“-Serie – aus einer alltäglichen Hörsituation Kapital.

Schon wenn wir in der Nähe eines Springbrunnens sind und anderen beim Sprechen zuhören, können wir bemerken, dass von den Konsonanten der Sprache kaum noch etwas zu hören ist, weil sie vom Rauschen verhüllt werden und nur mehr die Vokale übrigbleiben, aus denen wir das Gesprochene dann erst wieder rekonstruieren. Das sind Momente, in denen wir bemerken können, wie unsere Wahrnehmung funktioniert, dass sie nämlich ständig (re)konstruiert und überhaupt nicht einfach nur aufzeichnet, was „draußen“ passiert.27

… oder „bemerken könnten, denn Alltägliches hat die Eigenart, unbemerkt zu bleiben.

Auf derart irritierende Weise zur Hörillusion eines ‚sprechenden Klaviers‘ verdichtet und in einen ästhe­tischen Kontext gestellt, wird die alltägliche Routine des Filterns jedoch zum Hebel: Im Spiel von Ent- und Verschleierung, Signal und Rauschen, Nutz- und Störschall, das heißt, auf jener Grenze zwischen Hörbarkeit und Unhörbarkeit, kann der Vorgang des Hörens oder Wahrnehmens selber zum Gegenstand avancieren. Die Wahrnehmung geht auf Tuchfühlung mit sich selbst und beginnt, sich beim Optimieren des Signal-Rausch-Abstands über die Schulter zu gucken. In einen eigentümlichen Grenzbereich getrieben, in dem Klavier-Hören und Sprache-Verstehen sich wechselseitig maskieren ohne sich auszuschließen, öffnet sich, wie Ablinger schreibt, ein „zusätzlicher Sinn“: „Ein Sinn, den wir ,die Wahrnehmung der Wahr­­nehmung‘, oder: ,das Hören hören‘ nennen könnten.“28

1Dieses und alle weiteren Zitate von Satie sind entnommen aus: Erik Satie, ­„Mémoires d’un amnésique“, in: Musik-Konzepte 11, ­München: edition text + kritik, 1980, 85.

2Friedrich A. Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose, 1986, 38.

3So Wolfgang Scherer in einer Sendung des SWR über Erik Satie und die musikalische Erfindung der Moderne vom
23. November 2009, Manuskript auf https://www.swr.de/

4„Es gibt keine Postmoderne, sondern nur die oder diese moderne Post“, kolportiert beziehungsweise verschriftlicht Friedrich Kittler die Mündlichkeit Niklas Luhmanns.
Vergleiche: Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis.
Technische Schriften, Leipzig: Reclam, 1993, 80.

5Friedrich Kittler, „Bei Tanzmusik kommt es einem in die
Beine“, 1998, https://­monoskop.org/

6Peter Ablinger, Metaphern (Wenn die Klänge die Klänge wären ...)“, in: Derselbe, Annäherung, Köln: Edition
MusikTexte, 2016, 61–62.

7Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), München: Wilhelm Fink Verlag, 2003, 502.

8Friedrich A. Kittler, siehe Fußnote 2, 10.

9Vergleiche ebenda, 218, 293, 3.

10Friedrich A. Kittler, siehe Fußnote 2, 25–26.

11Ebenda, 28.

12Ebenda.

13Ebenda.

14Ebenda, 29.

15Vergleiche hierzu: Hans Heinz Stuckenschmidt, Schönberg. Leben, Umwelt, Werk, Zürich/Freiburg: Atlantis, 1974, 162.

16Wolfgang Scherer, „Klavier-Spiele. Cembalo, Clavichord, Hammerklavier; Affekt, Empfindung, Vorstellung“, in: Julia Kursell (Herausgeberin), Physiologie des Klaviers. Vorträge und Konzerte zur Wissenschaftsgeschichte der Musik, Berlin: Preprint, 2009, 102.

17Friedrich Kittler, Platz der Luftbrücke. Ein Gespräch mit Stefan Banz, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2011, 27.

18Winfried Ritsch, Robotic Piano Player Making Pianos Talk, 2011, http://smc.afim-asso.org/

19Friedrich A. Kittler, siehe Fußnote 2, 79.

20Peter Ablinger, „Ausdruck/Sonate“, in: Derselbe,
Annäherung, siehe Fußnote 4, 15.

21Peter Ablinger, „,Die Klänge interessieren mich nicht‘. Ein Email-Interview mit Trond Olav Reinholdtsen“, in: Derselbe, Annäherung, siehe Fußnote 4, 308.

22Ebenda, 306.

23Peter Ablinger, Voices and Piano“, ebenda, 385.

24Peter Ablinger, „,Die Klänge interessieren mich nicht‘“, ebenda, 91.

25Ebenda, 308.

26Peter Ablinger, „,Die Klänge interessieren mich nicht‘“, siehe Fußnote 4, 304.

27Ebenda.

28Peter Ablinger, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript für das Symposion „Kunst und Experiment“ der Musica viva, München, 1. bis 3. Februar 2008.