MusikTexte 164 – Februar 2020, 3–5

Kunst und Gunst

Filz und Vetternwirtschaft in der neuen Musik

von Rainer Nonnenmann

Selig sind, die etwas zu geben haben, denn ihnen wird gegeben werden! Eine Hand wäscht die andere. Wie in allen Bereichen des Lebens existieren auch in der Szene der neuen Musik auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene Netzwerke, Partnerschaften, Kooperationen. Diese sind wichtig und richtig, weil sich viele Projekte ohne effizient funktionierende Zusammenarbeiten und ökonomische Synergien gar nicht realisieren lassen. Sofern die Netzwerke dabei für andere sichtbar sind und die gegenseitigen Interessen und Vereinbarungen transparent bleiben, ist nichts einzuwenden. Doch Netzwerke können, ebenso wie Ämterhäufungen, Funktions- und Seitenwechsel, auch dem Geld-, Einfluss- und Machtgewinn dienen. Die Grenzen zwischen Gemein- und Eigennutz, lauterem und unlauterem Vorgehen sind oft fließend. Eine Abmachung grenzt an Bestechung, eine Vergabe an Klüngel, dieses Engagement an Vorteilsnahme, jenes Einvernehmen an Kumpanei. Hier werden Ämter mit Privatinteressen verquickt, dort Verwandte, Freunde, Schülerinnen und Schüler begünstigt.

Statt tatsächlicher Leistungen, Kompetenzen und nachvollziehbarer Qualitätsurteile geben dann verdeckte Inter­essen und Einflüsse den Ausschlag. Persönliche Beziehungen, Vorlieben und Geldverhältnisse entscheiden, wer, wann, wo zu welchen Konditionen Aufträge bekommt, gespielt, verlegt, honoriert, engagiert wird oder Preise, Posten und Pöstchen erhält. Undurchsichtige Partialinter­essen, Autoritäten, Prominenzen und Abhängigkeitsverhältnisse untergraben die Kriterien künstlerischer Produktion, Bewertung, Auswahl und Leitung. Diversität verkehrt sich dann leicht zu Exklusivität, Durchlässigkeit zu Intransparenz, offener Wettbewerb zu Privilegien- und Günstlingswirtschaft. Sofern solche Praktiken nur vereinzelt auftreten, ist das unschön, aber für das System als Ganzes verkraftbar. Werden Kompetenzen aber dauerhaft und flächendeckend vermischt oder gar gezielt missbraucht, werden Maßstäbe und Diskussionsgrundlagen ausgehöhlt.1

Da die Szene der neuen Musik übersichtlich ist, dringt in sachbestimmte Beziehungen leicht Allzumensch­liches. Das macht die Szene familiär, heimisch und kuschelig, sorgt aber ebenso für Missgunst, Nepotismus. Bequemlichkeit und Mediokrität. Werden Funktionen vermengt, wechselseitige Anliegen und private Vorteile ausgespielt, wird auch Mittelmaß produziert. Dann gilt’s nicht mehr der Kunst, sondern der Gunst. Manche Fälle von Vetternwirtschaft liegen offen zutage. Doch die meisten Mauscheleien vollziehen sich im Verborgenen und werden nie dingfest zu machen sein, weil die daran Beteiligten davon profitieren und eine Krähe der anderen bekanntlich kein Auge aushackt. Es geht nicht darum, einzelne Tauschgeschäfte und Gefälligkeiten namentlich anzuprangern, denn sie stünden nur als pars pro toto für eine ungleich größere Grau- und Dunkelzone. Und wer selber im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Doch oft mangelt es an aufrichtiger Selbstverpflichtung zu skrupulösem Denken und Handeln. Die Zirkel der neuen Musik brauchen mehr Rechts- und Unrechtsbewusstsein darüber, dass ein Handschlag von zweien eine Ohrfeige für Dritte bedeuten kann.

Verliebt, verlobt, verheiratet

Einfluss auf die Rezeption musikalischer Leistungen nehmen alle Beteiligten des Musiklebens. Sie tun dies mit unterschiedlichen Aufgaben und ungleichem Gewicht. Bei einschlägigen Szenetreffen vermischen sich turnusmäßig allgemeine Belange dieser Solidar- und Interessengemeinschaft mit Partikularinteressen von Festivalmacherinnen, Redakteuren, Verlegern, Interpretinnen, Komponisten und Musikjournalistinnen. Wer bei solchen Zusammenkünften Entscheider treffen und für sich einnehmen kann, hat gute Chancen, am nächsten oder übernächsten Konzert oder Festival selber mitzuwirken. Wer nicht anwesend ist, könnte sein Ticket zur Mitfahrt im Karussell verpassen. Der hohe Anteil an professionell mit neuer Musik befassten Menschen macht diese Schauplätze zu Jahrmärkten der Eitelkeit. Hier tummeln sich auch Geschäftemacher, Schausteller, Schmeichler, Profiteure. Lokale Konzertreihen und internationale Festivals sind Kontaktbörsen, bei denen Künstler sich und ihre Arbeit zu Markte tragen. Die aufgeführte Musik selbst wird oft zur Nebensache.

Proporz und Protektion walten in Jurys für Wettbewerbe, Kompositionspreise, Residenzen, Stipendien sowie bei der Wahl neuer Mitglieder für Akademien und Berufungsverfahren für Professuren. Überall setzen Lehrer ihre Schüler, Kollegen ihre Freunde, Mentoren ihre Schützlinge durch. Hier lädt der Intendant einer Philharmonie jahrelang ein bestimmtes Ensemble ein, weil es sich um eine Spitzenformation handelt, deren Manager zugleich sein Lebenspartner ist. Dort lässt die Intendantin eines Festivals, die gleichzeitig ein Ensemble betreut, Letzteres jedes Jahr bei Ersterem in zwei, wenn nicht drei Konzerten auftreten und darüber hinaus regelmäßig bei einer von ihrem Ehepartner koproduzierten Veranstaltung gastieren. Andere Festivalleiter laden ihre Angehörigen ein oder setzen, sofern sie auch an Hochschulen lehren, Werke von Absolventen ihrer Kompositionsklassen aufs Programm. Auch trägt es sich zu, dass mit Komponistinnen und Komponisten verheiratete Rundfunkredakteure und -redakteurinnen, Sendungen, Kompositionsaufträge, Mitschnitte und CD-Produktionen für jene veranlassen. Funktionäre und Vorstände lokaler und nationaler Gesellschaften für neue Musik schlagen mitunter ihre eigenen Werke zur Aufführung vor. Dirigenten versuchen, ihre Engagements mit solchen für angetraute Interpretinnen zu koppeln. Praxis eines bekannten Dirigenten und Komponisten in Personalunion war es, sein Engagement als Dirigent an die Bedingung zu knüpfen, auch ein eigenes Werk oder zumindest das eines Schülers oder einer Schülerin zur Aufführung zu bringen. Natürlich soll niemand benachteiligt werden, bloß weil er oder sie mit Entscheidungsträgern liiert ist. Doch genauso wenig soll jemand aus demselben Grund systematisch privilegiert und anderen vorgezogen werden, weil dies Auswahlkriterien unterwandert und auf Dauer das Programmspektrum verengt.

Verschiedene Hüte

Viele Personen sind in mehreren Bereichen aktiv. Freiberufler brauchen unterschiedliche Verdienstquellen zur Exis­tenzsicherung, und Festangestellte arbeiten neben ihrer Haupttätigkeit auch in Gremien, Jurys, Kuratorien. Ein und dieselbe Person ist dann mal Veranstalter, mal Veranstalteter, dann wieder Berichterstatter über oder zuständig für die Finanzierung von Veranstaltungen. Kontakte und Expertise werden hier wie dort benötigt. Mal agiert jemand als freier Musikjournalist, mal als abhängig Beschäftigter. Sofern die Zuständigkeiten klar getrennt bleiben, ist am Tragen verschiedener Hüte kein Anstoß zu nehmen. Problematisch wird es, wo zu viele Ämter gehäuft, Funktionen vermischt, Abhängigkeiten zwischen Bereichen, Personen und Institutionen vertuscht und gezielt instrumentalisiert werden. Dann ist jemand zugleich Mitglied des Kuratoriums einer Stiftung und Leiter einer von dieser Stiftung geförderten Konzertreihe. Werden Produktion, Präsentation, Distribution und Evaluation vermengt, wird kritische Berichterstattung schnell zu Lobhudelei, Information zu Werbung und Belangloses als bedeutend verbrämt. An die Stelle hinterfragbarer Argumente treten vorgeschobene Gründe. Besetzen dieselben Personen zu viele Entscheidungspositionen, können sie möglicherweise über Jahre hinweg bestimmte Karrieren und Veranstaltungen fördern oder behindern.

Wie in Politik und Wirtschaft, wo Wechsel von der einen zur anderen Seite gang und gäbe sind und Interessensphären von Staat, Unternehmen, Aufsichtsräten und Lobbyvereine sich kreuzen, gibt es auch in der Musik Ämterhäufungen und Wanderungen von Personen zwischen veran­staltenden, berichtenden und fördernden Institutionen. Bei kleinen Vereinen und Ensembles sind Funktionsüberschneidungen an der Tagesordnung, weil der Kreis der Mitglieder begrenzt ist. Nicht selten programmiert und honoriert man sich hier gegenseitig oder am besten gleich selbst. Wer als Komponist ein Konzert oder Festival veranstaltet, darf erwarten, von den aufgeführten Komponisten seinerseits zu deren Veranstaltungen eingeladen zu werden. Lädst du mich ein, lad ich dich ein! Viele Ensembles wurden von jungen Komponistinnen und Komponisten gegründet, um die eigenen Werke aufzuführen und Zugang zu Veranstalternetzwerken zu erhalten. Zu starke stilistische Fixierung auf die leitende Komponistin oder den programmverantwortlichen Komponisten kann ein Ensemble jedoch auch verkümmern lassen. So ist manche pragmatische Selbsthilfe gleichzeitig ein Symptom für geringe Reichweite und Professionalität, mithin Anzeichen von Provinzialität, die es in Kleinstädten freilich ebenso gibt wie in großen Musikzentren, potenten Institutionen und internationalen Verbänden.

Fähnchen im Winde

Gelegentlich schreiben Autoren über Veranstaltungen, an denen sie selbst mitgewirkt haben. Einer berichtet über ein Festival, bei dem er zuvor als Musiker auftrat. Ein anderer schreibt über einen Komponisten und dessen neues Stück, dessen Einstudierung und Uraufführung er nicht als unabhängiger Musikjournalist erlebte, sondern – was der Artikel verschweigt – als in diese Produktion involvierter Dramaturg aktiv mitgestaltete. Es gibt Veranstalter und Redakteure, die kontinuierlich einen kleinen Kreis an Autorinnen und Autoren beschäftigen, die dann auch – vielleicht schamhaft um ein Jahr versetzt – an anderer Stelle über die von diesen Auftraggebern produzierten Konzerte und CDs berichten, wohlwollend versteht sich, um den Job nicht zu gefährden. Die alten Römer nannten solche Tauschgeschäfte „quid pro quo“: dies für das! Oft sind dazu keine großen Absprachen nötig, sondern es genügt das stillschweigende Einvernehmen, voneinander zu profitieren. Win-Win-Beziehungen unterhalten zuweilen auch Komponisten und Publizisten, frei nach dem Muster der Self-fulfilling Prophecy: Ich erkläre dich für wichtig, weil du erkannt hat, wie wichtig ich selber bin! Lob ich dich, lobst du mich! All diese Fälle basieren auf hermetischen Kreisläufen wechselseitiger Interessen, die Unvoreingenommenheit, kritische Beobachtung und selbständiges Urteilsvermögen erodieren lassen. Kritik wird durch Promotion, Imagepflege und Lobbyismus ersetzt oder – sofern sie noch stattfindet – als ruf- und geschäftsschädigend empfunden. Journalismus und Medien werden zum Tummelplatz für Opportunisten und Karrieristen. Die Folge sind verzerrte Wertungen, künstlich stimulierte Aufmerksamkeiten, gelenkte Rezeptionen, parteiische Entscheidungen, fadenscheinige Affirmationen, Mystifika­tio­nen, Geschichts­klitterungen.

Nicht selten wird Journalisten der Besuch von Festivals in kleineren Städten und Ländern dadurch ermöglicht, dass Veranstalter für sie die Reise- und Hotelkosten übernehmen, weil diese Veranstaltungen sonst kaum internationale Resonanz fänden. Manchmal begleiten Journalisten auf Kosten von Ensembles und Orchestern deren Gastspiele und Tourneen. Schließlich erhält auch die MusikTexte-Redaktion ständig Empfehlungen, Bitten und Vorschläge, man möge die Konzerte, Symposien, Bücher oder CDs ihr persönlich bekannter oder auch befreundeter Personen besprechen. All das ist für eine Zeitschrift, die sich als offenes Forum versteht, ebenso unerlässlich wie selbstverständlich. Doch in jedem einzelnen Fall haben die Beteiligten umso gewissenhafter ihre funktionale Souveränität und Professionalität unter Beweis zu stellen, indem Journalisten eine Veranstaltung, zu der sie eingeladen werden, genauso unvoreingenommen rezensieren wie Veranstalter trotz kritischer Beurteilung weiter Anzeigen in einer Zeitschrift schalten und Geldgeber die Veranstalter nicht von ihrer Förderung ausschließen.

Fördern und Fordern

Ein schmaler Grat verläuft zwischen der Vergabe von Preisen an verdienstvolle Persönlichkeiten und der Indienstnahme der gepriesenen Persönlichkeiten zu eigenen Zwecken. Mit Preisen ausgezeichnet werden meist ohnehin längt bekannte Künstlerinnen und Künstler, die das weder aus finanziellen Gründen noch zur Steigerung ihres Renommees benötigen. Einmal ausgezeichnet, werden manche immer weiter geradezu inflationär mit Preisen überhäuft. Die Soziologie bezeichnet solche Erfolgsspiralen als „Matthäus-Effekt“, der Volksmund bringt es auf das Sprichwort: „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.“ Derlei Vergabepraxis dient nicht der Förderung von Spitze und vielversprechendem Nachwuchs, sondern den Preisstiftern selbst, die sich mit illustren Namen schmücken wollen. Preiset, und ihr werdet gepriesen werden! Da fördert ein Preis vor allem Autoren, die sich publizistisch um das Schaffen desjenigen Komponisten verdient gemacht haben, der die von ihm ins Leben gerufene Stiftung primär als ein Mittel zur Erhaltung und Verbreitung des eigenen musikalischen und schriftstellerischen Lebenswerks versteht und erst in zweiter Linie als „Unterstützung förderungsbedürftiger Künstler, welche der Avantgarde zuzurechnen sind“. Die gemeinnützige Stiftung dient so vorrangig einem eigennützigen Zweck und ist damit einmal mehr ein Beleg für das Gesetz: Geld schafft Geltung. Oder marxistisch mit Blick auf die ungleichen Besitzverhältnisse von Musikschaffenden gedacht: Die herrschende Musik ist die Musik der Herrschenden.

Interessen von Privatleuten, Firmen und Stiftungen nehmen immer stärkeren Einfluss auf die Aufführung und Rezeption neuer Musik, auch bedingt durch die „Krise der Institutionen“. Rundfunkanstalten sowie Festivals und Musikförderungen in der Trägerschaft von Kommunen, Ländern und Bund werden seit Jahren durch neoliberale Kritik delegitimiert und wegen finanzieller Kürzungen auf Drittmittel verwiesen. Die dadurch wachsende Bedeutung von Sponsoren, Privat- und Unternehmensstiftungen – wer finanziell etwas fördert, der fordert auch etwas – entzieht sich jedoch demokratischer Kontrolle durch öffentliche Ämter, Gremien, Jurys. Eine potente Stiftung begnügt sich inzwischen nicht mehr damit, die Produktion und Rezeption neuer Musik „nur“ durch einen hochdotierten Musikpreis sowie durch Förderpreise und Projektförderungen zu unterstützen. Stattdessen wird sie selber initiativ tätig und beteiligt das eigene Kuratorium direkt an der Programmgestaltung zweier ausgewählter Veranstalter – andere erhielten keine solche Offerte. Die gemeinsam entwickelten Programme sollen keine Konzerte einer rundfunkeigenen Konzertreihe sowie eines Festivals ersetzen, sondern „ergänzen“, wie der Leiter der Konzertreihe – zugleich Mitglied des Kurato­riums der Stiftung – erklärte. Und bevorzugt „ergänzt“ wurden bisher vor allem Werke ehemaliger Preisträger der Stiftung.

Business as usual?

Manche der hier kritisierten Mechanismen mögen für die Aufrechterhaltung des Betriebs „Neue Musik“ unvermeidlich und vielleicht sogar wünschenswert erscheinen. Außenstehende würden darin wohl eher Praktiken eines verschworenen Inner Circle erblicken, in dem jeder seine Ansprüche, Vorteile und Einflusssphären zu wahren sucht. Die Musikszene kennt ähnliche Interessen und Konflikte, wie es sie allenthalben sonst auch in Familie, Gesellschaft, Staat und Weltgemeinschaft gibt. Letztlich geht es überall um dieselbe Grundfrage: Wie können und wollen wir zusammen (über)leben? Korrekturen im Kleinen wie im Großen setzen die Kenntnis bestehender Verhältnisse voraus, einschließlich verzerrender Beeinflussungen, Bevorzugungen und Tauschgeschäfte, selbst wenn deren Enthüllung lästig und unerfreulich ist, weil man viel lieber ein Auge zudrücken und fünf auch mal gerade sein lassen würde. Manche werden diesen Kommentar daher überflüssig finden, weil unsere Musikwelt nun mal so ist, wie sie ist, und glücklich, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. Doch gerade diese Haltung sollte unsere Alarmglocken schrillen lassen, weil es zeigt, dass wir es uns in unserer Nische über die Jahre zu bequem eingerichtet haben, um noch bemerken zu können, wie intransparente Geschäfte, Filz und Nepotismus den offenen Diskurs, Wettbewerb und Streit um Kriterien zu ersticken drohen.

1In die gleiche Richtung zielt ein Kommentar von Stefan Fricke in Heft 104 (Dezember 2008) der Schweizer Zeitschrift Dissonanz. Unter dem Titel „Manus manum lavat“
ist dieser auf der Webseite texte.musiktexte.de nachzulesen.