MusikTexte 164 – Februar 2020, 0–0

Manus manum lavat

von Stefan Fricke

Natürlich gibt es sie in der Neuen Musik genauso wie in anderen Lebensbereichen und Arbeitsfeldern: die Verbindungen und Partnerschaften, die geschlossen werden, um erforderliche und gewünschte Qualitäten zu garantieren. Sei es – sofern dies objektiv überhaupt voraussagbar ist – auf dem Sektor der Komposition, sei es auf den Gebieten der Interpretation, der Publizistik, der Distribution, im Veranstaltungswesen. Überall werden Kontakte geknüpft, gepflegt und gehegt, damit das Gewünschte reibungslos funktioniert – allesamt überaus sinnvolle, informationsnotwendige und effizienzsteigernde Maßnahmen. Natürlich ergeben sich in diesem Getriebe auch mehr oder wenige intensive Bekanntschaften, weitere und engere Freundschaften, mithin auch Seilschaften – neutraler, politisch korrekter und zeitgeistgemäßer formuliert: Netzwerke –; also sozial-kommunikative Formationen, die sich gegenseitig absichern und zum Zweck des Überlebens gebildet werden. Allerdings geht es hierbei weder um die Erkundung der Eiger-Nordwand noch um das Erklimmen des K2 oder des Aconcagua. Die Gipfelstürmer, die sich in der kleinen Welt der Neuen Musik zu Seilschaften zusammenschließen, tun es aus anderen Gründen. Gründe, die zwar auch mit der Existenzsicherung zu tun haben, jedoch sind es vor allem ökonomische und einflussmehrende. Sie dienen der Verbesserung der Einkünfte, der Wahrung der eigenen Interessen, der Stärkung von Renommee und auch Macht. Das mag nun manchen überraschen ... Macht, Eigennutz, Profit – das sind eher keine Vokabeln, die im Diskurs der Neuen Musik eine besondere Rolle spielen. Schließlich ist der Biotop der Ernsten Jetztmusik doch ein moralisch integerer; in ihm wohnen und mehren sich ausnahmslos Gutmenschen; sie leben allein für die akustisch-ästhetische Weltverbesserung, denken bei ihrem Tun nie an Erfolg und Bankkonto. Freilich stimmt das so nicht. Auch Komponisten und Interpreten zeitgenössischer Musik sind oft gewiefte Kaufleute, kennen den Markt, seine Währungen und die Wechselkurse. Agenturen, Veranstalter und Verlage sowieso. Zugegeben: Der Markt Neue Musik ist verglichen mit anderen Märkten, auch denen im Kulturbetrieb, ein ziemlich kleiner. Seine genauen Zahlen kennt indes wohl keiner; sie wären auch nur schwer zu ermitteln. Denn ergänzend zum privatwirtschaftlichen Umsatz müsste einiges addiert werden: die Ausgaben aus öffentlicher Hand, das finanzielle Engagement des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die Ausschüttungen von Stiftungen, Vereinsvermögen usw., zudem die geldwerten Mittel.

Insgesamt dürften es einige Millionen Euro sein, die die Neue Musik in Deutschland alljährlich umsetzt. Und überall da, wo es etwas zu holen, einzuheimsen gibt, werden Wege und Mittel gesucht und gefunden, um möglichst viel vom Kuchen abzubekommen. Da, wo der Fleischtopf ist, tummeln sich viele: Hungrige wie Satte – „Treu dem Satz der Weisen, dass nicht weniger mehr, sondern mehr mehr ist“ (so einmal der Schriftsteller Rainald Goetz). Im Aufspüren und Nutzen von Möglichkeiten sind einige der Nimmersatten natürlich geschickter als andere; sie bilden und nutzen effektive Seilschaften, schaffen eng- und weitverzweigte Netz­werke, damit keine Information, kein Kontakt, keine Au­sschreibung verloren geht. Denn all das bedeutet wenn nicht schon den cashflow selbst, so doch immerhin die beste Chance in dessen Nähe zu kommen. Aber um solche Seilschaften zu entdecken, sie nach Strich und Faden zu entwirren, bedarf es großer Detailkenntnis und Insiderwissen. Sobald man über Selbiges verfügt, kann man sich jedoch nicht mehr sicher sein, ob man nicht selbst in diese oder jene Seilschaft verstrickt ist. Ein schwieriges Unterfangen. Wer aber Seilschaften als solche entlarven möchte, dem könnte eine Maxime der Kriminallogik helfen: „Folge der Spur des Geldes.“ Gesagt, getan: Wer saß in der Jury, als A.B. den Sowieso-Preis erhalten hat? Sein Kompositionslehrer, sein Verle­ger, der Lebenspartner, ein Kommilitone, ein Konzertver­an­stalter, der ihn fürs kommende Jahr bereits gebucht hat? Welcher Veranstalter arbeitet seit Jahr und Tag nahezu ausschließlich mit denselben Ensembles zusammen? Wer produziert welche Aufnahmen, in welchem Label erscheinen sie und wer schreibt den Booklet-Text?; vielleicht gar derselbe Redakteur, der in der Auslobungs-Jury saß und Komponist wie Interpreten bereits gebucht hatte, überdies auch die Laudatio bei der Preisvergabe hielt? Durchaus denkbar ...

„Spielst du mich, spiel ich dich“ lautet eine alte Regel im Kreise von Komponisten, die zugleich Programmmacher oder Interpreten sind. Gefälligkeiten und Abhängigkeiten kennt auch die kleine Welt der Neuen Musik. Denn viele müssen hier vieles machen, um zu überleben. Und viele wollen hier auch vieles machen, weil sie von der Sache überzeugt sind, ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein haben. Aber fest steht auch, dass hier, in diesem überschaubaren Biotop, nicht alles mit rechten Dingen zugeht; vieles kommt einem spanisch vor. Folgt man der Spur des Geldes, was allerdings ökonomische, juristische und soziale Kenntnisse voraussetzt, wird man entsprechende Antworten finden. Sie werden nicht immer größten Jubel freisetzen, Enttäuschungen und Ärger sind vorprogrammiert. Alles zu wissen, ist eben auch kein Vergnügen.

Doch Zahl und Art der Seilschaften beweisen immerhin, dass die Neue Musik längst aus dem so oft beschworenen und vielgescholtenen Elfenbeinturm ausgezogen und in der Wirklichkeit angekommen ist. Und in dieser gilt nach wie vor: Eine Hand wäscht die andere und kaum eine sich in Unschuld.

Erstveröffentlicht unter dem Titel „Ein Tummelplatz für Hungrige und Satie. Zeitlose Betrachtungen zu Neue Musik-Seilschaften“, in: dissonanz/dissonance 104, Dezember 2008, Basel: Schweizerischer Tonkünstlerverein, 47.