MusikTexte 164 – Februar 2020, 94–95

„Orchestrale Zweiklassengesellschaft“

Martin Rempes Studie zur Genese der deutschen Orchesterlandschaft

von Rainer Nonnenmann

Kulturpolitischen Empfehlungen oder Handlungsanweisungen will diese Studie ausdrücklich keine geben. Ebenso wenig möchte sie „Munition für all jene neoliberalen Anhänger der ,unsichtbaren Hand‘“ liefern (8), die den Abbau von Subventionen und den Rückzug des Staats aus dem Musikleben fordern. Angestoßen wurde die Studie gleichwohl durch die aktuelle Situation einer immer breiteren und vielfältigeren freiberuflichen Musikszene und der daraus sich ergebenden Notwendigkeit, lange bestehende Förderstrukturen in ihrer institutionellen Etablierung und Wirkungsweise kritisch unter die Lupe zu nehmen und neue Finanzierungsmodelle und Managementkonzepte zu diskutieren. Daher geht es dem Autor letztlich doch darum, auf der Grundlage historisch gesicherter Fakten Ideen zu entwickeln „für eine dynamischere, kräftigere, innovativere, vielleicht auch gerechtere Orchesterlandschaft“ (eben­da). Der Kultur- und Sozialhistoriker Martin Rempe – 2017 an der Universität Kon­stanz mit einer Arbeit über den Musikerberuf in Deutschland habilitiert – benötigt für seinen konzisen Abriss über „Kulturförderung, Interessenorganisation und Arbeitsbedingungen“ in der deutschen Orchesterlandschaft seit 1900 weniger als dreißig Textseiten zuzüglich sechs Seiten Literaturangaben. In aller Kürze werden langfristig wirkende Mechanismen des deutschen Musiklebens benannt. Entstanden ist die Studie im Auftrag der 2016 gegründeten Vereinigung unternehmerisch organisierter professioneller Ensembles und Orchester in Deutschland „FREO – Freie Ensembles und Orchester in Deutschland“ e. V.

Der geschichtliche Untersuchungszeitraum von fast einhundertzwanzig Jahren überrascht angesichts der Brisanz der aktuellen Situation. Doch der historische Horizont hilft bei der Erklärung gegenwärtiger Strukturen und Bedingungen der deutschen Orchesterlandschaft. Nach Streichungen im Zuge der Wiedervereinigung gibt es in Deutschland momentan immer noch rund einhundertdreißig öffentlich finanzierte Opern-, Sinfonie-, Rundfunk- und Kammerorchester sowie etwa einhundert freiberuflich organisierte Ensembles. Für diesen weltweit einzigartigen Schatz stellte die Bundesregierung im Frühjahr 2018 bei der UNESCO den Antrag zur Auszeichnung als „immaterielles Kulturgut“. Damit würde dann freilich eine „orchestrale Zweiklassengesellschaft“ unter den Schutz der Vereinten Nationen gestellt, die im Vergleich mit den USA und Großbritannien zwar tatsächlich ein „deutsches Alleinstellungsmerkmal“ darstellt (39), aber angesichts der „enormen Bereicherung, die die freien Ensembles für das deutsche Musikleben in den letzten Jahren darstellten, immer weniger zeitgemäß“ ist (36).

1920 befanden sich in Deutschland siebenundvierzig Orchester in öffentlicher Trägerschaft, darunter einige nach dem Ersten Weltkrieg von Staaten und Kommunen übernommene ehemalige Hofkapellen. 1929 waren es bereits sechsundneunzig Orchester, mehr als doppelt so viele. Daneben existierten außerdem über hundert Sinfonie-, Theater-, Café-, Tanz- und Kinoorchester mit „freistehenden Musikern“ in privater Unternehmerschaft, von denen im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929/1930 jedoch viele aufgelöst wurden. Im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltung wurden schließlich private Orchester geschlossen, sofern sie sich nicht rein aus Berufsmusikern zusammensetzten und nicht der Reichsmusikkammer beitraten. Zudem wurden private Neugründungen untersagt. Die 1938 erlassene „Tarifordnung Kulturorchester“ garantierte Sozial- und Pensionsleistungen nur für Orchester, „die regelmäßig Operndienst versehen oder Konzerte ernst zu wertender Musik spielen“, während andere Formationen in den Bereichen Unterhaltung, Tanz und Operette ausgeschlossen wurden. Das Modell „Kulturorchester“ wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) weitgehend übernommen. Die Fixierung auf die sogenannte musikalische Hochkultur wurde dadurch zementiert, was „flexiblen Formen der öffentlichen Orchesterfinanzierung“ sowie einer „freieren künstlerischen Programmatik“ entgegenwirkte (17).

Waren die Arbeitsbedingungen im Berufsfeld Musik um 1900 noch nahezu überall „ziemlich bescheiden“, bildete sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts eine „Zweiklassengesellschaft zwischen abhängig Beschäftigten und Freischaffenden“ (29). Fest angestellte Musiker von „Kulturorchestern“ mit starker Interessenrepräsentation durch Verbände und Politik kamen in den Genuss von Arbeits- und Tarifrecht, besserer Bezahlung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Beschäftigungsgarantie, Kündigungsfrist, gesetzlichem Urlaub, Kranken-, Invaliden- und Rentenversicherung. 1956 knüpfte der Freiburger Tarifvertrag der DOV die Vergütung von Musikern in Kulturorchestern schließlich an die Gehaltssteigerungen des öffentlichen Diensts. Dagegen fehlten geeignete sozialpolitische Rahmenbedingungen zur Bildung einer freien Musikszene, die zudem keine Lobby hatte. Erst im Laufe der Siebzigerjahre gab es verstärkt freie Eigeninitiativen und Ensemblegründungen im Jazz sowie in der Alten und Neuen Musik. Als sich schließlich der Präsident des Deutschen Musikrats Siegfried Borris für Reformen stark machte, gerieten freie Künstlerberufe auch in den Fokus der Politik (34). 1973 gründete sich die Union deutscher Jazzmusiker und ab 1983 verschaffte die Künstlersozialkasse selbständigen Musikerinnen den Zugang zu gesetzlicher Kranken- und Rentenversicherung.

Rempe erwähnt in diesem Zusammenhang allerdings nicht, dass sich die Zahl der bei der Künstlersozialkasse versicherten Freiberufler seit 1991 nahezu verfünffacht und sich das Verhältnis zwischen festangestellten und freiberuflichen Musikern seit den Achtzigerjahren von einst siebzig zu dreißig Prozent komplett umgekehrt hat, mit weiter auseinander driftender Tendenz (Vergleiche hierzu den Kommentar „Dynamik mit Dynamit“ in MusikTexte 163). Kaum gestreift werden in seiner Studie auch die ästhetischen, technologischen, medialen und hochschulischen sowie allgemein gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche, die seit den Sechzigerjahren vielerorts zur Herausbildung freier Musikszenen beitrugen. Ebenso wenig Gegenstand sind die prekären Lebensverhältnisse vieler freiberuflicher Musikschaffender. Wirklich brisant können Rempes historische Ausführungen zur rechtlichen Körperschaft von Orchestern und Musikverbänden erst werden, wenn man sie angesichts der gewandelten Ästhetik und Sozialstruktur der von öffentlichen Trägerschaften ausgeschlossenen Musikerinnen und Musiker mit der Frage verknüpft, wie sich die Musikförderung in Deutschland neu aushandeln lässt, ohne dass man dabei das reiche Erbe bestehender Musikinstitutionen delegitimiert und die Solidargemeinschaft aller Musikschaffenden – seien es festangestellte oder freiberufliche – aufs Spiel setzt. Rempes Studie liefert hierzu keine konkreten Vorschläge, aber in aller Kürze die nötigen historischen Hintergründe. Der Umbau der politischen Ökonomie der deutschen Orchesterlandschaft bleibt dann anderen überlassen.

Martin Rempe, Die deutsche Orchesterlandschaft: Kulturförderung, Interessenorganisation und Arbeitsbedingungen seit 1900, herausgegeben von FREO Freie Ensembles und Orchester in Deutschland e.V., Berlin 2019, Down­load unter https://freo.online/downloads.