MusikTexte 164 – Februar 2020, 55–61

Pluralismus als Schicksal

Der Komponist, Dirigent und Musiktheoretiker Hans Zender und die Darmstädter Ferienkurse

von Rainer Nonnenmann

Hans Zender war ein Universalist. Zunächst im In- und Ausland als Dirigent bekannt geworden, gewann er bald auch als Komponist sowie als Musikdenker und Hochschullehrer internationale Reputation. Bevor er ein einziges Mal bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt als Dozent auftrat, im Jahr 2000, hatte er an den Ferienkursen bereits fünfzig Jahre zuvor als Schüler und dann als Student teilgenommen. 1936 in Wiesbaden geboren, besuchte er Darmstadt erstmals 1951. Einige Hauptfiguren der seriellen Nachkriegsavantgarde, wie die bald tonangebenden Komponisten Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, waren dort erst bei den darauffolgenden Ferienkursen 1952 zugegen. Als musikbegeisterter Teenager erlebte Zender in Darmstadt die Wiederentdeckung der neuen Musik der Zwischenkriegszeit, insbesondere der Zweiten Wiener Schule. Hier verfolgte er auch den Aufstieg der seriellen Komponisten, die schnell den technischen Diskurs dominierten, während ihn selber die kursierenden widerstreitenden Stile und Richtungen faszinierten, die schließlich zur Grundlage seiner späteren pluralistischen Grundhaltung wurden, gegensätzliche Ansätze nach Möglichkeit zu synthetisieren. Zenders Anfänge als Komponist zu Beginn der Fünfzigerjahre waren zunächst jedoch noch – wie seinerzeit bei vielen jungen Musikern – durch das klassisch-romantische Repertoire sowie den damals international dominierenden Neoklassizismus geprägt. Das bezeugen ein frühes Bläserquintett und eine Sonatine des Jugendlichen. Dann aber kam Darmstadt.

Das muss ’51 gewesen sein, sehr früh, ich war vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und habe mich zunächst hingeschlichen. Schließlich bin ich dort mit Zustimmung der Eltern regelmäßig jeden Tag aufgetaucht. Neben der Schule war das natürlich ein Unterfangen, obwohl es meistens in die Ferienzeit fiel. Damals waren die Darmstädter Ferienkurse noch fünf, sechs Wochen lang. Ein sehr spannender Ort, für mich natürlich eine Offenbarung! Ich habe da zum ersten Mal in meinem Leben Schönberg gehört, auch Webern und die jungen Komponisten, der junge Nono fing schon an. Das war für mich ein Erlebnis von größter Faszination, besonders wegen des sehr konservativen Musiklebens in Wiesbaden. Ich kannte bisher nur die andere Seite der Musik, die ganz traditionelle Luxusausgabe sozusagen, mit Wilhelm Furtwängler, Edwin Fischer und Walter Gieseking, bei dem ich ein bisschen Klavierunterricht hatte. Die besten Leute der deutschen Kultur waren damals regelmäßig in Wiesbaden zu Gast. Und zwischen diesen ästhetischen Abgründen bin ich dauernd herumgefahren.1

Zenders lebenslanges Anliegen, verschiedene Materialien, Stile und Traditionen zu verbinden, zeigte sich seit den späten Siebzigerjahren auch in der Kombination verschiedener Stimmungssysteme. Spektrale Obertöne und Mikrointervalle verwendete er nicht nur als schönen Klangfarbenreiz. Vielmehr wollte er sie im Sinne der europäischen Tradition auch als harmonische Elemente einsetzen und erfahrbar machen. Anstelle der üblichen chromatischen Unterteilung der Oktave in zwölf Halbtonschritte entwickelte er ein Tonsystem, das die Oktave in zweiundsiebzig Mikrointervalle unterteilt. Statt des Halbtons bildet folglich ein Zwölfteltonschritt die kleinste Einheit. Über dieses Tonsystem referierte Zender bei den Darmstädter Ferienkursen 2000 im Rahmen eines auf zwei Tage verteilten, insgesamt achtstündigen Vortrags. Sein Ansatz einer „Gegenstrebigen Harmonik“ bestimmt auch seine im damaligen Eröffnungskonzert vom Berliner Sinfonieorchester unter Leitung von Johannes Kalitzke gespielten Orchesterwerke „Kalligraphie I und II“ von 1997 und 1999. Wie schon in „Dialog mit Haydn“ von 1982 nutzt Zender hier drei Klaviere und drei Harfen, die jeweils einen Sechstelton gegeneinander versetzt gestimmt sind, so dass mikrointervallische und spektrale Mixturen entstehen. In „Kalligraphie II“ werden zudem alte gregorianische Melodien rhythmisch und intervallisch so gestaucht, dass aus Halbtönen beispielsweise Viertel-, Sechstel- oder gar Zwölfteltöne entstehen. Auffällig an Zenders Stück ist neben der Mikrotonalität auch die breite Klangfarbenpalette des großen Sinfonieorchesters, dessen Behandlung hörbar durch die französische Musiktradition beeinflusst ist, insbesondere durch Oli­vier Messiaen, den Zender schon bei seinen ersten Ferienkursbesuchen Anfang der Fünfzigerjahre erlebt hatte.

Messiaen und Boulez

Ich habe damals regelmäßig „Melos“ gelesen, die wirklich vorzügliche Zeitschrift des Schott-Verlags über neue Musik. Und ich habe um diese Zeit auch schon fleißig komponiert, natürlich im Fahrwasser von Hindemith, Bartók, Strawinsky und solchen Komponisten. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich zum ersten Mal von den Darmstädter Ferienkursen gehört habe, vermutlich gab es ein bisschen Werbung, regelmäßig auch Kritiken über Darmstadt in der Zeitung. Man wurde da schon neugierig. Dann bin ich einfach hingefahren und war bis zu meinem Abitur regelmäßig jedes Jahr in Darmstadt. In meiner Erinnerung bin ich gleich im ersten Jahr Messiaen begegnet. Er gab einen Kurs über Rhythmik. Ich habe neulich die Konzeptblätter gefunden, die ich mir damals von seinen Vorträgen gemacht hatte. Messiaen hat auch selber gespielt und dann später – ich weiß nicht, ob er zweimal da war, oder ob ich das jetzt in meiner Erinnerung in ein Jahr verlege –, jedenfalls erinnere ich mich sehr gut noch an Konzerte, die er mit Yvonne Loriod gegeben hat, die Visions de l’Amen“ für zwei Klaviere. Loriod hat auch den großen Zyklus „Zwanzig Blicke auf das Jesuskind“ gespielt. Das werde ich nie vergessen, weil das so ein schöner Skandal in Darmstadt war, das hat sich mir besonders eingeprägt. Messiaen ist die Figur, die mir zu Darmstadt als erstes in Erinnerung kommt.

Olivier Messiaen hatte den Klavierzyklus „Vingt regards sur l’enfant Jésus“ bereits 1944 komponiert. Die deutsche Erstaufführung spielte die französische Pianistin Yvonne Loriod bei den Darmstädter Ferienkursen 1952. Eine Auswahl daraus präsentierte sie – seit 1961 mit Messiaen verheiratet – auch bei den Ferienkursen 1953. Zender erlebte diese Musik als Jugendlicher vor dem Hintergrund der damals in Darmstadt intensiv diskutierten Zwölftonwerke Anton Weberns und der Konsequenzen, welche die serielle Nachkriegsavantgarde daraus zog. Messiaens modale Harmonik sowie impressionistische Farbigkeit, gestische Melodik und katholische Glaubensinnigkeit wirkten demgegenüber wie eine Provokation. Die Nummer 15, „Der Kuss des Jesuskinds“, grenzte vor diesem Hintergrund gar an süßliche Salonmusik. Die junge Avantgarde verfolgte dagegen das gänzlich andere Ideal eines möglichst von allen tonalen Resten gereinigten und rational durchkonstruierten Materials. Das Beispiel Messiaen deutet die Vielfalt der Richtungen an, die Zender bei seinen frühen Ferienkursbesuchen erlebte. Entgegen der landläufigen Meinung über die sogenannte „Darmstädter Schule“ mit der tonangebenden Trias Boulez, Nono und Stockhausen, wurden die Ferienkurse der Fünfzigerjahre nicht ausschließlich von den Serialisten dominiert. Vielmehr gab es ein Konglomerat unterschiedlicher ästhetischer Positionen und kompositorischer Methoden. Beim jungen Hans Zender sorgte dies zunächst für Orientierungslosigkeit und das Bedürfnis nach Anlehnung an ein bestimmtes Vorbild.

Es gab natürlich auch die Verführung, einen Übervater zu suchen, nach dem man sich geistig richten konnte. Das war für mich ganz eindeutig Boulez. Als ich ein paar Jahre später mit dem Studium anfing, habe ich einen deutschen Boulez gesucht, aber nicht gefunden. Ich bin dann nach Freiburg zu Wolfgang Fortner gegangen, der einen sauberen Unterricht im traditionellen Sinne des Komponierhandwerks gegeben und auch sehr viel zwölftönige Strukturen verarbeitet hat, durchaus gut und professionell bewandert. Bei Boulez war am ehesten eine Brücke von der, sagen wir einmal, deutschen kontrapunktischen Schule zur Zwölftontechnik zu finden. Und das war für mich zunächst der prägende Einfluss. Als junger Mensch sucht man nach Orientierungspunkten, an die man sich halten kann, konstruktionsmäßig. Dafür hat man sich dann durchaus so etwas wie eine „Darmstädter Schule“, ich möchte sagen, zurechtgemacht. Denn das war mehr ein Mythos. Wenn man genau hinschaute – was mir aber erst viel später klargeworden ist –, dann waren das grundverschiedene Ansätze, die sich nur der Öffentlichkeit gegenüber als Schule präsentiert haben oder eben dazu gemacht wurden, auch unter dem Einfluss des französischen, etwas scholastischen Denkens, das mit Messiaen und Boulez sehr stark vertreten war. Dieses schulmäßige, systematische und konstruktive Denken hat die Darmstädter sehr geprägt. Gerade Messiaen hat sie sehr geprägt, was man später vergessen hat, denn diese wirklich ganz enorme Idee der seriellen Umrechnung von Zwölftonreihen in rhythmische Reihen kam direkt von ihm.

Messiaen komponierte seine berühmte Etüde „Mode de valeurs et d’intensités“ im Sommer 1949 während eines Kurzbesuchs der Ferienkurse. Er ordnete in diesem Klavierstück jeder Tonhöhe eine bestimmte Dauer und Dynamik zu, so dass in serieller Abstufung eine Skala vom höchsten Ton mit der kürzesten bis zum tiefsten Ton mit der längsten Dauer entstand. Vorgestellt wurden Messiaens sämtliche „Quatre études de rythme“, denen der „Mode de valeurs et d’intensités“ als zweites Stück angehört, bei den Ferienkursen 1951 erstmals per Schallplatte im Seminar des französischen Musikwissenschaftlers Antoine Goléa. Als Messiaen im darauffolgenden Jahr selbst als Dozent nach Darmstadt kam, besprach und spielte er in seinem Rhythmus-Seminar auch diese berühmt gewordene Etüde. Mit dem Impuls zur seriellen Organisation sämtlicher Klangeigenschaften setzte sie für viele der damals jungen Komponisten einen wichtigen Maßstab für das eigene Schaffen. Nach immer umfassenderen Konstruktionen strebten damals vor allem die beiden Messiaen-Schüler Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen. Am integralen Serialismus beteiligen sich aber auch die Belgier Karel Goeyvaerts und Henri Pousseur sowie die Italiener Bruno Maderna und Luigi Nono. Für Zender wurde Messiaen dagegen zu einer frühen Schlüsselfigur eben des Stilpluralismus, den er später selber vertreten sollte.

Mitte der Fünfzigerjahre kam für Messiaen dieser unglaubliche Wechsel, Paradigmenwechsel muss man sagen. In seinem großen Klavierzyklus über die Vogelstimmen „Catalogue d’oiseaux“ – ein Riesenstück, drei Stunden dauert es – hat er einen stilistischen Pluralismus vorgeführt, der unglaublich und bis heute sehr prägend und aufregend ist, aber immer noch von vielen missverstanden wird. Im Laufe der Studienjahre bin ich dann ganz langsam auch auf Bernd Alois Zimmermann gekommen, der mich schließlich in einer Weise geprägt hat, wie mich sonst persönlich niemand von den Darmstädtern geprägt hat.

Olivier Messiaen verwendete im „Catalogue d’oiseaux“, entstanden zwischen 1956 und 1958 in insgesamt sieben Bänden, wie auch in vielen späteren Werken möglichst genaue Transkriptionen von Vogelstimmen. Im achten Stück ist es zum Beispiel der Gesang der „Alouette calandrelle“, der in Mittelfrankreich beheimateten Kurzzehenlerche. Bei den Ferienkursen traf diese naturalistische und gestisch sprechende Musik auf Ablehnung. Die jüngeren Komponisten hielten Messiaens Musik in Bezug auf die eigenen seriellen und aleatorischen Ansätze schlicht für veraltet und irrelevant. Zender begann damals gerade sein Musikstudium, zunächst 1956 an der Frankfurter Musikhochschule mit Klavier, Dirigieren und Komposition bei Kurt Hessenberg. 1957 wechselte er an die Musikhochschule Freiburg zum Klavierstudium bei Edith Picht-Axenfeld, Dirigieren bei Carl Ueter und Komposition bei Wolfgang Fortner. Noch während des Studiums begann er als Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Freiburg zu arbeiten. Nach dem Abschluss 1963 ging er für ein Jahr als Stipendiat der Villa Massimo nach Rom. Bereits 1964 wurde er Chefdirigent der Oper Bonn, mit kaum achtundzwanzig Jahren damals jüngster Generalmusikdirektor in der Bundesrepublik. Später leitete Zender viele weitere bedeutende Sinfonie- und Opernorchester. Als Chefdirigent wirkte er in Kiel, Saarbrücken, Hamburg, Hilversum, Brüssel, Baden-Baden und Freiburg. Mit dem Sinfonieorchester des Saarländischen Rundfunks prägte er von 1971 bis 1984 die Konzertreihe „Musik im 20. Jahrhundert“. Seine große stilistische Offenheit beweisen zahlreiche CD-Einspielungen, vom klassisch-romantischen Repertoire bis zur Musik der Moderne und der Gegenwart sowie sein umfangreiches eigenes kompositorisches Schaffen. Ausdrückliche Verbindungen seiner Doppelbegabung als Interpret und Komponist sind seine „komponierten Interpretationen“ von Schuberts „Winterreise“ (1993), Schumanns „Fantasie“ C-Dur (1997) und Beethovens „Diabelli-Variationen“ (2011), welche die Kluft zwischen diesen exponierten Werken der tonalen Vergangenheit und der neuen Musik der Gegenwart zu überwinden suchen.

Bernd Alois Zimmermann

Während meiner Studienzeit war ich ein orthodoxer Darmstädter, bis in die Sechzigerjahre hinein. Dann begegnete mir Zimmermann. Mit ihm sah ich plötzlich eine ganz neue Dimension. Er eröffnete Möglichkeiten, die weg vom Doktrinären gingen, trotzdem aber einen großen Entwurf von musikalischer Methodik und integrativem Denken vorstellten, der mir unendlich viele Möglichkeiten für die Zukunft zu eröffnen schien. Anfang der Sechzigerjahre, etwa 1963/64, wurde mir die Darmstädter Schule, die ich sehr liebte – von Pousseur etwa habe ich unendlich viel gelernt –, langsam wirklich zu gefängnishaft, zu dogmatisch, vor allem durch Boulez. Aber natürlich kann man das von zwei Seiten sehen: auf der einen Seite Boulez’ unglaubliche intellektuelle Leistung, seine Harmonik, phantastische Logik und klaren Definitionen. Doch diese Dinge bekamen etwas Doktrinäres, denn sie bildete einen Stil, in Rohfassung möchte ich sagen, den Darmstädter Stil, der sehr von diesem Denken und dieser Methodik beeinflusst war. Davon fühlte ich mich ab einem gewissen Zeitpunkt – wie viele andere auch – beengt. Und da kam plötzlich Zimmermann und es ging die Tür auf, weil man plötzlich sah: Die Avantgarde sollte sich nicht darin erschöpfen, einen neuen Stil der Zeit zu bilden oder der Chimäre „Zeitstil“ nachlaufen. Das wurde dann immer mehr zu meiner Überzeugung, hat aber ganz schön lange gedauert.

In Zimmermanns Pluralismus erkannte Zender den von ihm gesuchten Mittelweg zwischen dem Purismus und hochelaborierten Personalstil von Boulez auf der einen Seite sowie der Sprengung jeglicher Subjektivität bei John Cage, dessen legendären Darmstädter Auftritt er 1958 erlebt hatte, auf der anderen Seite. Demonstrativ gegen die Bildung eines Personalstils gerichtet ist auch Zimmermanns Ballettsuite „Musique pour les soupers du Roi Ubu“. Nach zunächst konzertanter Uraufführung in Berlin leitete Zender 1968 die szenische Uraufführung dieses „Ballet noir“ an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Auf der Grundlage von Tänzen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts collagierte Zimmermann die gesamte „Ubu“-Musik aus Fragmenten von Werken anderer Komponisten und eigener Werke, ohne substantiell neue Noten hinzuzufügen. Im Eröffnungsstück „Entrée de l’Academie“ zitiert er Werke zeitgenössischer Komponisten, die wie Zimmermann Mitglieder der Berliner Akademie waren und deren Musik Zimmermann wegen zum Teil allzu neo-klassizistischer Attitüde mit wenigen Ausnahmen nicht mochte: Versammelt wird Musik von Vizepräsident Boris Blacher und dem Direktor der Abteilung Musik der Akademie Wolfgang Fortner, ferner von Paul Hindemith, Arthur Honegger, Ernst Pepping, Paul Dessau und – auf der Orgel gespielt – von Joseph Johannes Ahrens die „Cantiones sacrae“, die ihrerseits die dorische Sequenz „dies irae“ aus dem lateinischen Requiem aufgreifen. Hinzu kommen Zitate aus Wagners „Tristan und Isolde“ kombiniert mit vier Takten aus Beethovens Klaviersonate opus 31,3 sowie am Ende Fanfarenstöße der Hörner und Trompeten aus Zimmermanns eigener Oper „Die Soldaten“ kombiniert mit der in Bassposaune, Fagott und Tuba aufsteigenden Zwölftonreihe aus Luigi Dallapiccolas religiös-politischem Bekenntniswerk „Canti di liberazione“, was Zimmermann vermutlich als Sympathieadresse an den – wie er selbst – katholisch-humanistisch gesinnten italienischen Komponisten verstand.

Auch Zimmermann musste ich erst verdauen, insbesondere seine Arbeiten mit heterogenem Material, die bis zur Sprengung der Autorschaft gingen, bis zur Infragestellung des Ich in der Komposition. Das war sehr faszinierend und – für mich wenigstens damals – das Gegengift zu Darmstadt: dass man plötzlich eine Musik konzipierte, die nicht mehr auf einen Personalstil und den Ausdruck eines bestimmten komponierenden Ich reduzierbar war, aber auch nicht wie Cage, wo der Zufall regiert, das Ich sozusagen total in Luft auflöste. Auf der einen Seite stilbildende Scholastik und auf der anderen das vollkommen chaotische Sich-Ausliefern dem unmittelbaren Geschehen des spontan eintretenden Zufalls, das bei Cage letzten Endes – wenn man es so radikal nimmt, wie er damals ja war – aus dem Kunstbegriff überhaupt herausführt: Zwischen diesen beiden extremen Möglichkeiten liegt eine Methode – schien mir und scheint mir noch heute –, die Zimmermann vertreten und die den Rundhorizont für die Musik erfunden hat: dass man nicht nur nach vorne schaut und einen neuen Stil sucht, wie die internationale Avantgarde unter Eliminierung aller regionalen Stile und Methoden, sondern dass man einen Rundhorizont schafft, in dem die ganze Welt mit ihren verschieden gepolten Energien und Traditionen drin ist, also eine potentiell unendliche Welt, die deswegen auch keinen geschlossenen Stil und keine geschlossenen Stücke mehr kennt.

Zimmermann hatte die Darmstädter Ferienkurse seit 1949 einige Male als Teilnehmer besucht. Auch Werke von ihm wurden aufgeführt, doch als Dozent war er nie vertreten. Zender lernte Zimmermanns Musik zunächst vor allem durch Radioübertragungen und Partituren kennen. Während des Musikstudiums in Frankfurt versucht er, zum Studium bei Zimmermann an die Kölner Musikhochschule zu wechseln. Doch weil Zimmermann erst 1958 als Nachfolger von Frank Martin die Kompositionsprofessur an der Kölner Musikhochschule übernahm, zerschlug sich dieser Plan, so dass Zender 1957 zu Fortner nach Freiburg ging. In persönlichen Kontakt mit dem fast zwanzig Jahre älteren Zimmermann kam Zender erst während seines Stipendienaufenthalts in der Villa Massimo Rom 1963/1964, wo er sich mit dem gleichzeitig anwesenden Kollegen anfreundete. Zimmermann arbeitete damals an seiner Oper „Die Soldaten“, in der Zender die von ihm ersehnte Verbindung der ihn plagenden Widersprüche zwischen der großen sinfonischen Tradi­tion und der strikt atonalen Darmstädter Avantgarde erkannte.

Hans Rosbaud

Parallel zu den Einflüssen, die Messiaen, Boulez und seit Mitte der Sechzigerjahre Zimmermann ausübten, erfuhr Zender auch als Dirigent maßgebliche Prägungen bei den Darmstädter Ferienkursen. Neben Bruno Maderna beeindruckte ihn dort vor allem Hans Rosbaud. Obwohl Hermann Scherchen bei den Ferienkursen als Interpret von Werken der Zweiten Wiener Schule eine viel wichtigere Rolle spielte, faszinierten Zender vor allem die unbedingte Sachlichkeit und Rationalität des Dirigierstils von Rosbaud. Dieser war nach dem Zweiten Weltkrieg als Leiter des Sinfonieorchesters des Südwestfunks Baden-Baden maßgeblich am Neubeginn der Donaueschinger Musiktage beteiligt, wo er etliche Meilensteine der jüngeren Musikgeschichte zur Uraufführung brachte, etwa Luigi Nonos „Due espressioni“, Iannis Xenakis’ „Metastaseis“, Krzysztof Pendereckis „Anaklasis“ und György Ligetis „Atmosphères“. Mit Solisten des SWF-Symphonieorchesters hob Rosbaud auch zentrale Werke von Pierre Boulez aus der Taufe: in Donaueschingen 1951 „Polyphonie X“ und in Baden-Baden 1955 „Le marteau sans maître“. Mehrmals gastierte Rosbaud mit dem SWF-Orchester auch bei den Darmstädter Ferienkursen. 1951 leitet er dort die deutsche Erstaufführung von Luigi Dallapiccolas Opern­einakter „Il Prigioniero“ und 1953 eine Folgeaufführung der „Polyphonie X“ von Boulez. So wie Zender Mitte der Sechzigerjahre das Bedürfnis hatte, die widerstreitenden kompositorischen Extreme von Messiaen, Boulez und Cage zu einer Synthese zu führen, wollte er auch als Dirigent die damals von Wilhelm Furtwängler, Hermann Scherchen und Hans Rosbaud verkörperten interpretatorischen Extreme verbinden. Rosbaud erwies sich für ihn zunächst als klares Vorbild.

Das war eine ganz große Figur, die bis heute für mich als Dirigent Vorbildcharakter hat. Scherchen war ein Kraftkerl, der das Publikum wie das Orchester erst einmal überrollte, vielleicht auch die Komponisten, das kann ich nicht beurteilen. Er war eine starke Figur, aber mir nicht sympathisch, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich wollte kein Dirigent sein wie der Scherchen. Das war ein anderer Typus, bewundernswert in seiner Konsequenz und in seinem Einsatz für die Sache. Rosbaud war der Mann, den ich als Interpret am meisten verehrt habe. Er war für mich ein Gegenpol zu Furtwängler, den ich in Wiesbaden sicher fünf, sechs Mal erlebt habe. Ich konnte immer in die Proben gehen und wurde Furtwängler sogar einmal vorgestellt. Das war ein unglaublich starker Eindruck. Einen größeren Kontrast als Rosbaud kann man sich dazu gar nicht vorstellen. Zwischen diesen beiden Polen war erst einmal keine Vermittlung möglich: hier die psychologische Taktführung Furtwänglers, der mit seiner Schlagtechnik eine Art Geheimschrift entwickelt hatte, dort Rosbauds absolut rationale, kopfgesteuerte Bewegungen. Die vollkommene Objektivität bei Rosbaud und der vollkommene Subjektivismus bei Furtwängler. Dies irgendwie zusammenzubringen, war auf anderer Ebene auch eine Aufgabe für mich. Diese Polarität ging eigentlich durch mein ganzes Leben, bis heute, das ist eine Art Schicksal, so habe ich es immer aufgefasst, dem man sich nicht entziehen kann, zumal wenn man als Dirigent so exponiert ist.

Zunächst an Rosbauds Präzision und Klarheit orientiert, geriet Zender im Alter von Mitte vierzig jedoch in eine Krise, die ihn schließlich veranlasste, sein Dirigat umzustellen und sich mit dem anderen Pol zu versöhnen: den Körper stärker einzubeziehen und mehr an die Klanglichkeit zu denken. Nachdem er seine dreifache Musikausübung als Pianist, Dirigent und Komponist lange Zeit gleichrangig mit demselben Ernst verfolgen konnte, schob sich durch seine diversen Chefdirigenten-Posten die Interpretentätigkeit mehr und mehr in den Vordergrund. Zender ging es damit ähnlich wie Pierre Boulez, der seit den Sechzigerjahren als Dirigent eine glänzende internationale Karriere machte, jedoch als Komponist phasenweise völlig verstummte. Zender kam zu den Darmstädter Ferienkursen nicht als Komponist, sondern mehrmals als Dirigent, vor allem für Gastkonzerte mit den Orchestern des Saarländischen, Hessischen und Südwest-Rundfunks. Gleichwohl schuf er kontinuierlich ein umfangreiches kompositorisches Œuvre. Von 1988 bis 2000 unterrichtete er zudem als Kompositionsprofessor an der Frankfurter Musikhochschule. Zu seinen Schülern gehörten unter anderen Christian Banasik, Dániel Péter Biró, John Gomez, Vincent Grüger, Wieland Hoban, Hanspeter Kyburz, Alexander Stankovski, Johannes Quint, José Sanchez-Verdú, Daniel Smutny und Hans Thomalla sowie als einzige bekannt gewordene Schülerin Isabel Mundry. Selbstverständlich schickte er seine Kompositionsklasse zu den Darmstädter Ferienkursen. Im Unterricht ging es ihm vor allem um Mikrointervalle, Spektralismus und verschiedene Intonationsweisen, die ihn selber beschäftigten.

Gegenstrebige Harmonik

Ein Anker für meine Kompositionsklasse war eine möglichst genaue Kenntnis der Vergangenheit, weniger die barocke Ebene, die in der alten Kompositionsunterrichtssphäre sehr viel Raum einnahm, Kontrapunkt und Fugen schreiben oder so etwas, als vielmehr die Beethovensche Tradition bis hin zu Mahler, also die Hochblüte der Funktionstonalität, die man einfach sehen muss, um den Übergang zu Schönberg wirklich verstehen zu können. Ich muss analytisch genau betrachten, was Wagner gemacht hat, dann auch Mahler und Reger, den Schönberg sehr geschätzt hat, also diese Übergangszeit Anfang des Jahrhunderts, als Schönberg seine „Harmonielehre“ geschrieben hat. Darin liegt auch ein Ansatz, der mich später zu meiner „Gegenstrebigen Fügung“ geführt hat, also zu einer Mikrotonalität, die den fünften, siebten und elften Oberton wirklich in unser Tonsystem integriert. Schon der frühe Schönberg hat das verlangt, ich glaube im Vorwort der „Harmonielehre“. Doch das ist erst einmal brach liegengeblieben und wurde überhaupt erst bewusst, als die Spektralisten in Frankreich auftauchten und zeigten, was man mit dem Spektrum alles für unheimliche Sachen machen kann. Auch das war ein Thema in der Frankfurter Kompositionsklasse, spek­trale Analysen und solche Dinge.

In den Achtziger- und Neunzigerjahren versuchte Friedrich Hommel, der damalige Leiter der Darmstädter Ferienkurse, wiederholt, Zender auch als vortragenden Komponisten für die Ferienkurse zu gewinnen. Aus Termingründen scheiterte dies jedoch mehrmals. Erst im Juli 2000 hielt Zender schließlich einen mehrstündigen Vortrag über „Gegenstrebige Harmonik“.2 Den titelprägenden Begriff „Gegenstrebig“ entlehnte er einem Text des antiken griechischen Philosophen Heraklit, der den Begriff Harmonie mit der gegenstrebigen Führung des Bogens über die Saiten einer Leier bestimmte. Neben der Demonstration von Oberton-, Interferenz- und Modula­tionsphänomenen präsentierte Zender in seinem Vortrag auch Ausschnitte aus eigenen Werken: „Dialog mit Haydn“ für zwei Klaviere und drei Orchestergruppen (1982), „Shir Hashirim“ nach dem alttestamentarischen „Hohelied Salomons“ für Soli, Chor, Live-Elektronik und großes Orchester (1992–1996), „Music to hear“ nach dem achten Sonett von William Shakespeare (1998). Live aufgeführt wurden die auf seinem System der mikrointervallischen Harmonik basieren Orchesterwerke „Kalligraphie I und II“.

Die pluralistische Ästhetik, die Zenders Komponieren schon seit Mitte der Sechzigerjahre bestimmte, fand in diesem Vortrag ihre theoretische Grundlegung. Bilanziert werden darin verschiedene Tonsysteme seit der Antike, um sie zu einer integrativen mikrotonalen Harmonik zu verbinden. Durch die französischen Spektralisten sowie die Musik von Giacinto Scelsi und die Auseinandersetzung mit ostasiatischen Musikkulturen hielt Zender ein harmonisches Konzept im Umgang mit Mikrointervallen für überfällig. Vordringliches Anliegen wäre es, Tonräume jenseits des temperierten Systems zu erschließen, um der neuen Musik andere strukturelle und syntaktische Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Zender sagte dazu:

Es ist klar, dass wir in der uns heute von der geschichtlichen Entwicklung aufgezwungenen Situation eines total offenen ästhetischen Horizonts – das ist ja unsere Situation: Wir haben einen offenen Horizont, aber wir können uns nicht mehr orientieren – vor die große Aufgabe gestellt sind, neue Zeichen zu entwickeln, die genügend klar und deutlich sind, um sich im entstandenen babylonischen Chaos als verstehbar durchzusetzen. Ich erinnere an das, was Webern mit Fasslichkeit meint. Ich glaube, das müssen wir heute auch neu verstehen. Die Möglichkeiten, zu Komponieren, sind so immens groß geworden, dass wir zunächst Mal dem Hörer klar machen müssen, welche dieser Möglichkeiten wir anpeilen, indem wir in unseren Stücken ein klares Denken in der Kombinatorik zum Ausdruck bringen, das dem Hörer hilft, zu verstehen, wo wir hinwollen. Um nun auch hier dem Dilemma des temperierten Chromatizismus zu entgehen, ist eine Gewaltkur nötig, welche bis zu den Fundamenten unseres Tonsystems vordringen muss. Ziel ist es, eine Harmonik zu finden, welche auch die feinsten mikrotonalen Bewegungen durchhörbar und verständlich macht, sie also nicht nur als sensuelle Sensation nimmt, und außerdem die geschichtliche Genese unseres Intervallverstehens durchscheinen lässt. Das heißt, es muss etwas durchscheinen von dem, was wir geschichtlich gelernt haben. Die Geschichte soll nicht verdrängt, sondern fruchtbar gemacht werden. Es muss ein ganz neues Beziehungsnetz der Tonhöhen gefunden werden, gleich fern von den Sicherungen der alten Tonalität wie von denen der seriell geordneten Atonalität, ein Netz, das aber trotzdem auch diese und noch andere Stadien des geschichtlichen Denkens darstellen könnte. Das heißt, ich habe eigentlich zwanzig Jahre lang nach einem Tonsystem gesucht, das fähig ist, uns nicht nur aus unserem Dilemma der verbrauchten Zwölftontechnik zu helfen, durch Verfeinerung, sondern das auch fähig ist, die alten europäischen Musiken und natürlich auch die außereuropäischen Systeme mit größerer Genauigkeit darzustellen, als es das temperierte System kann.3

Hans Zender verfügt über einen breiten kulturellen Horizont. Allein die von ihm vertonten Texte reichen von der Antike bis zur literarischen Moderne, vom Alten und Neuen Testament über Heraklit, Cervantes, Hölderlin, Mallarmé, Joyce, Hugo Ball und Ezra Pound bis zu asiatischer Lyrik. Seine pluralistische Grundhaltung zeigt sich unter anderem in seinem zwischen 1977 und 1989 entstanden sechsteiligen Zyklus „Lo-Shu“. Bei den Darmstädter Ferienkursen 2000 spielten der Flötist Martin Fahlenböck und der Cellist Lucas Fels vom Freiburger ensemble recherche einige Sätze daraus, die in Bauweise und Charakter der Poesie japanischer Haikus folgen und etwa die Silbenzahl von Versen des japanischen Dichters Bashō umsetzen.

Ich habe damals ganz stark empfunden, dass man eine Harmonik finden müsste, die diese mikrotonalen, kleinsten Intervalle akustisch stützt. Das war die Idee, die ich mit der „gegenstrebigen Fügung“ entwickelt habe. Ich weiß nicht, wie viele Leute das verstanden haben, aber einige schon. Wenn man nämlich ein normales Intervall nimmt, zum Beispiel eine Quarte, die kann ich glaubhaft darstellen und die hört jeder, darauf kann ich mich verlassen. Und wenn ich daraus die Summe bilde, dann habe ich 3 plus 4. Den siebten Oberton gibt es zwar nicht in unserem System, aber ich höre ihn sehr genau als Summationston, das gibt einen harmonisch runden Klang. Und wenn ich jetzt diesen siebten, zu tiefen Klang definieren will, dann müsste ich ihn als siebten Oberton dieser Quarte definieren, was dem Ohr die entscheidende Stütze gibt, wenn ich auch tatsächlich eine Quarte mit im Akkord habe, um diesen Viertelton zu orten, nämlich als ein a, wenn man von fis-h ausgeht [singt], ein a, das eben zwischen dem zu hohen a des temperierten Systems und dem nächst tieferen chromatischen Ton liegt. Und so kann man es mit jedem Intervall machen. Das war eigentlich das Ergebnis meiner Recherche.

Schicksal Pluralismus

Hans Zenders Ansatz, unterschiedliche tonale, modale und mi­kro­tonale Traditionen zu verbinden, spielt auch in „¿Adonde?/ Wohin?“ für Violine, Sopran und Ensemble eine zen­trale Rolle. Das Stück entstand 2008/2009 für das Klangforum Wien zu dessen fünfundzwanzigjährigem Bestehen. Zugrunde liegt der Komposition ein geistliches Liebesgedicht von San Juan de la Cruz, in dem eine Braut ihren entflohenen Geliebten sucht. Dass alle Verse dieses Gedichts entweder sieben oder elf Silben umfassen, nahm Zender zum Anlass, die Harmonik des Stücks durchweg auf dem siebten und elften Oberton zu gründen, also Intervalle einzubeziehen, die im gleichschwebend temperierten Tonsystem nicht enthalten sind. Um diese Intervalle dennoch notieren zu können, verwendete er sein Tonsystem mit zweiundsiebzig Stufen innerhalb der Oktave. Praktisch realisierte er dies – wie schon in früheren Werken – durch zwei vierteltönig gegeneinander gestimmte Klaviere und eine teilweise einen Sechstelton tiefer gestimmte Harfe.

Bemerkenswert ist am Schluss des Stücks – gewidmet „Arnold Schönberg in memoriam“ –, dass Zender hier ­eine Verbindung zu den Anfangsjahren der Darmstädter Ferienkurse schlägt, indem er die Quarten-Fanfare aus Schönbergs „Kammersinfonie“ opus 9 zitiert. Vorbereitet wird das Zitat durch verschiedene intervallische Spreizungen und Stauchungen. Der Originalinstrumentation mit Horn gehen diverse Varianten in Trompete und Posaune voraus, teils von den Streichern in exakt parallelem Rhythmus mit chromatisch auf- und absteigenden Skalen grundiert. Die Quarten werden dabei mikrotonal so gegeneinander verschoben, dass leicht vergrößerte Intervalle entstehen und die Quartenketten auf anderen Tönen enden als im Original d-g-c1-f 1-b1-es2. Zender inte­griert das Zitat auf diese Weise in sein Zweiundsiebzigtonsystem. Direkt aneinander anschließend blasen schließlich Posaune und Horn ab Takt 297 eine durchgehende Kette von insgesamt sieben Quarten statt fünf wie bei Schönberg. Weil die Quarten-Fanfare den Darmstädter Ferienkursen in der Anfangszeit als Logo auf Plakaten und Programmheften diente, beschwört Zender mit diesem Zitat auch autobiographisch seine ersten eigenen Erlebnisse bei den Ferienkursen ab 1951 und seine Dankbarkeit diesen gegenüber.

Auch später sah Zender die Darmstädter Ferienkurse als wichtig an. Denn obwohl junge Komponisten längst ungleich mehr Möglichkeit haben, an verschiedenen Hochschulen in Deutschland und weltweit zu studieren, und es außerdem vielerorts Kurse, Workshops, Sommerakademien, Wettbewerbe, Residenzen und Stipendien gibt, lässt sich dennoch kaum sonst irgendwo ein solcher ästhetischer Pluralismus unterschiedlichster Stile, Methoden und Wirkungsabsichten erleben wie hier. Daran ließ Zender auch im Gespräch 2013 keinen Zweifel.

Die Gefahr bei Hochschulen ist natürlich, dass da gewisse Erbhöfe entstehen oder einseitige Stilvermittlungen stattfinden. Insofern hätten Ferienkurse die Aufgabe, diese Einseitigkeit – die notwendig da ist, wenn jemand unterrichtet, was er kann und was er weiß – zu korrigieren. Viele profilierte Leute anzubieten, ist in Darmstadt immer wieder geschehen. Insofern finde ich – Krisen hin und her –, dass die Darmstädter Ferienkurse ihre Vitalität bewiesen haben und man sie unter allen Umständen halten sollte, vielleicht aber mehr praxisorientiert in dem Sinne, dass man die Konzerte, Proben und das Hören mehr als bewusste Tätigkeit in den Vordergrund stellt, und nicht die Selbstdarstellung von Leuten, die vielleicht noch nicht ganz so weit sind, um wirklich etwas von theoretischem Belang sagen zu können. Wichtig ist für die jungen Musiker, die da hinkommen, dass sie viele unterschiedliche Kompositionen hören. Das habe ich immer versucht, meinen Studenten in Frankfurt zu sagen: Ihr müsst vor allen Dingen hören, was der Kollege schreibt und was die anderen schreiben! Es geht nicht um Vielwisserei, sondern darum, sich in diesen Pluralismus einzufühlen, der unser Schicksal ist. Denn es gibt keinen Zeitstil. Das ist ja inzwischen eine Binsenweisheit geworden, was damals nicht ohne weiteres für alle einsehbar war. Und weil es keinen Zeitstil gibt, ist jeder junge Komponist gezwungen, sich selbst etwas zu suchen und selbst zu entscheiden: So will ich es, da will ich hin! Es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Das ist eine andere Situa­tion als noch in den Sechzigerjahren, wo man glaubte, jetzt haben wir’s gefunden, den Zeitstil der Epoche.

Dieser Text ist die Überarbeitung eines Manuskripts für eine Sendung, die am 3. April 2014 im Rahmen ­einer Sendereihe von hr2-kultur über die Rolle einzelner Musikerinnen und Musiker bei den Darmstädter Ferienkursen ausgestrahlt wurde.

1Das Gespräch mit Hans Zender, dem auch die weiteren Zitate entstammen, fand am 16. August 2013 in dessen Haus in Meersburg am Bodensee statt, dem sogenannten „Glaserhäusle“ hoch über den Weinbergen mit Blick auf den See, einst Wohnort des Sprachphilosophen Fritz Mauthner.

2Vergleiche Hans Zender, „Gegenstrebige Harmonik“, in: Musik der anderen Tradition. Mikrotonale Tonwelten, Musik-Konzepte Sonderband III/2003, München: text + Kritik, Februar 2003, 167–208, wiederabgedruck in Hans Zender, Die Sinne denken: Texte zur Musik 1975–2003, herausgegeben von Jörn Peter Hiekel, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2004, 95–135.

3Mitschnitt des ersten Teils von Zenders Darmstädter
Vortrag am 16. Juli 2000 von Minute 11 : 08 bis 12 : 04,
Inter­nationales Musikinstitut Darmstadt.