MusikTexte 165 – Mai 2020, 2–4

Corona Blog

von Peter Ablinger

1. April 2020

Wieviel brauchen wir?

Von allem.

Und wieviel Kunst brauchen wir?

Ok, das ist kein Blog.

Es ist nur eine Notiz, in der Art wie sie in einem Blog stehen könnte – aber ich lese ja keine Blogs, weiß also gar nichts von solcher Art.

Einfach eine Notiz anstelle einer neuen Komposition.

Was soll man auch komponieren?

Den Song zur Krise?

Pandemische Symphonie?

Daher nur ein paar Sätze.

Corona und die Erzeugung von Langeweile.

(Langeweile hab ich schon immer gemocht)

Bloß keine vernünftelnden Sätze.

Sätze, einfach Sätze.

Wir leben. Noch leben wir.

Die Zahl der Corona-Toten im Verhältnis zum
wirtschaftlichen Verlust.

Das ist genau, was so außerordentlich ist an Corona.

Erstmals überwiegt nicht das wirtschaftliche Argument.

Warum erlässt Berlin, zu einem Zeitpunkt, als es einen einzigen neunzigjährigen Corona-Toten gab, die Schulschließungen et cetera?

Dass das wirtschaftliche Argument zum ersten Mal nicht alles regiert.

Gibt irgendwie Hoffnung.

Ein neues Zeitalter.

Post-Wachstums-Zeitalter?

Jedenfalls steht zum ersten Mal das Wachstum nicht an erster Stelle.

Wir werden Schrumpfung haben statt Wachstum.

Vielleicht Verjüngung statt Alterung.

Und die Natur wird sich freuen.

Freut sich jetzt schon.

Vergleiche Berichte aus China über drastischen Smog-Rückgang.

Oder die Berliner Flughäfen: Fünf Prozent des sonstigen Flugverkehrs.

Fünf Prozent!

Aber wie lange.

Was hinterher kommt.

Die Beantwortung der Frage, wieviel wir wirklich
brauchen, wahrscheinlich.

Wahrscheinlich auch nicht.

Wahrscheinlich wird einfach nur versucht, aufzuholen, was liegenblieb.

Doppelt so viele Flugzeuge wie früher.

Kann wenigstens die Kunst sich der Frage stellen,
wieviel wir wirklich brauchen?

Wahrscheinlich ebenso nicht.

Die armen Künstler.

Es gibt ja so viele.

Und die müssen überleben und daher weitermachen.

Die Frage kann sich die Kunst nicht leisten.

Doppelt so viel Kunst wie vorher.

Die Frage, die höchstwahrscheinlich verloren gehen wird, wäre gewesen, ob ein WENIGER dauerhaft eine ­Option wäre.

Weniger Wirtschaft, weniger Flüge, weniger Umsätze, weniger Verkehr, weniger Kunst.

Eine Besinnung auf ein Weniger wird kaum kommen.

Das Aufholstreben wird im Nu alles dominieren, sobald alles vorbei ist.

Oder wird das ‚Danach‘ reflektieren, dass es auch mit ‚Weniger‘ geht?

Das wäre eine Verschiebung der Matrix, der Grund­annahmen.

Die Grundannahmen waren bisher nur auf das ‚Mehr‘ gerichtet.

Wird die Corona-Krise die Option auf ein ‚Weniger‘ ­eröffnen können?

Es geht darum, zu sehen, dass Corona auch eine Chance offenbart: die Chance, unsere Koordinaten zu ändern.

Da gibt es noch viel zu ändern.

Viel zu lernen.

Viel zu tun.

Die Erzeugung von ‚Weniger‘ statt ‚Mehr‘ ist eine
Herausforderung, eine Wissenschaft, eine Wirtschafts­wissenschaft – aber eine andere als bisher.

Die Erzeugung von Langeweile ist immerhin schon mal eine Erzeugung.

Langeweile als Produkt.

Langeweile als Musikstück.

Was kann die Musik schon besseres als ‚Weile‘ zu geben – und zwar möglichst lange.

Um die Weile geht es doch schließlich.

Für alle, die Corona überleben wollen.

Nur noch eine kleine Weile, bitte.

Corona IST diese Weile – für die, die noch leben.

Corona IST die Musik, die ein ‚Weniger‘ gibt.

Corona ist eine Komposition.

Dieser Komposition ist nichts hinzuzufügen.

Beziehungsweise:

Was ich hier gerade mache, IST ja gewissermaßen ‚Nichts hinzufügen‘.

Die Weile weilen lassen.

Ich füge etwas hinzu, das ein ‚Nichts‘ ist, oder besser: ein ‚Weniger‘.

Ein Weniger hinzufügen heißt aber etwas abziehen.

Ich ziehe also etwas ab.

Damit es weniger werde.

Aber geht das überhaupt?

Wie soll das gehen?

Energieerhaltungsgesetz.

Es kann ja gar nicht gehen.

Kann ja gar nicht weniger werden.

Aber ‚mehr‘ werden konnte es doch auch.

Mehr, mehr, mehr!

Ausbeutung auf der einen Seite, Gewinnanhäufung auf der anderen.

Ja, ja.

Das wissen wir.

Ich hatte es nur kurz vergessen.

Ich wollte ja nur wissen, was „Weniger“ bedeutet.

Bedeuten könnte.

Die Gesamtenergie bleibt also gleich.

Was passiert also beim ‚Weniger‘?

Während ich Langeweile habe, wächst irgendwo ein Baum nach?

Allenfalls ein Grashalm.

Oder vielleicht so:

Energieerhaltung:

Ich schreibe diese Sätze hier anstatt Noten.

Aber ob das besser ist?

Wohl kaum.

Oder in diesem Moment vielleicht.

In dieser Sekunde.

Weil es mir sinnlos vorkäme, eine Note auf Notenpapier zu schreiben?

Dabei spricht viel für das Sinnlose.

Ich meine, das Sinnlose ist das beste Argument, um ­etwas zu tun.

Aber wieso?

Weil der Sinn das ‚Mehr‘ produziert?

Produziert hat?

Wie schön, sich für diese eine Sekunde der Illusion ­hinzugeben, dass das schon vorbei wäre.

Vorbei mit Sinnproduktion.

Sinnzirkulation.

Sinnvermehrung.

Sinntransfer.

Sinnverkehr.

Sinn-Fernverkehr.

Sinn-Fernreisen.

Geht das jetzt gegen das große globale Dorf der Kunst?

Eine Art „Ausländer raus“?

Manchmal denke ich, die politischen Maßnahmen in ­
der Corona-Krise sind nur ein gigantischer Unfall, verursacht vom politischen Unbewussten aller
Rechtschaffenen, ein maßloses, überdimensionales „Ausländer raus!“ und „Türen zu!“ und „Keiner kommt mehr rein!“ Und für die Europäer auch noch das ­wirksamste Mittel, die Flüchtlingstragödie vor
ihrer Haustür ignorieren zu können. Und dann noch mit dem hervorragenden Nebeneffekt, die sonst innen­politisch so bedrohlichen Rechtsradikalen
temporär mundtot zu machen: Mehr Abschottung geht ja nicht.

Werd ich jetzt doch noch vernünftelnd?

Ich wollte doch nur den Sinn gegen das Sinnlose
ab­wägen.

Das alles nur wegen einer einzigen Note.

Die nicht mal geschrieben wurde.

Stattdessen das.

Sätze.

Leider zuwenig sinnlose Sätze.

Der Sinn dringt überall ein.

In jede Lücke.

In jedes Vakuum.

In jede schöne leere Langeweile.

Könnte man doch den Sinn in Quarantäne setzen.

Ihm einen Mundschutz verpassen.

Sätze also.

Sätze anstatt Noten.

Aber etwas anstatt etwas anderes tun – das hat mich schon immer irritiert.

Etwas in Stellvertretung von etwas anderem.

In effigie (Büchner).

Worte zum Beispiel.

Worte sind immer Stellvertreter.

Sätze auch?

Logischerweise sollten sie es sein.

Aber was soll hier Logik.

Sätze können vielleicht auch einfach Sätze sein.

Anstatt Stellvertreter.

Vielleicht.

Wenn sie nicht statt etwas anderem auftreten.

Statt Noten.

Vielleicht.

Die Frage ist, ob das ‚anstatt‘ überhaupt existiert.

Außer im Kopf.

Es ist wie mit dem ‚nein‘.

Es existiert auch nicht.

Außer im Kopf.

Schwierige und unpraktische Frage.

Eine schwierige und praktische Frage dagegen ist die Frage nach dem ‚Weniger‘.

Das schon wieder.

‚Weniger‘ ist ein Tun.

Nicht ein Nicht-Tun.

Oder eine Unterlassung ist ein Tun, nicht ein Nicht-Tun.

Macht das Sinn?

Es macht keinen.

Aber das wollten wir doch, oder?

Wenn es keinen Sinn macht, ist es so gut wie die Note die nicht geschrieben wurde.

Apropos ‚Note die nicht geschrieben wurde‘, apropos: ‚Weniger‘:

Corona ist zuallererst ein musikalisches Ereignis ­sondergleichen.

Oder vielleicht zuerst ein choreographisches Ereignis.

Die 1, 5-Meter-Choreographie.

Ein Tanzstück.

Ein Gesellschaftstanz.

Aber gleich danach ist es ein musikalisches Ereignis.

Oder doch davor.

Denn es betrifft auch die Nacht, wenn die Tänzer ­schlafen.

Vor allem die Nacht.

Keine einzige Note.

Kein Ton.

Vielleicht ein leises Summen von einem Ventilator ­irgendwo.

Ein Summen wie am Dorf: das einsame Summen des ­Silos.

Hundert Hertz.

Stromfrequenz.

Der Grundton.

Ansonsten Stille.

Stille Großstadt.

Noch nie in achtunddreißig Jahren hab ich Berlin so still erlebt, wie jetzt täglich, wenn ich meine Gute-Nacht-Zigarette rauche am Balkon.

Aber auch am Tag ist der Unterschied enorm.

Kaum noch Straßen, in denen der Verkehr immer und ununterbrochen braust.

Schluss mit Kontinuum.

In kleineren Straßen sowieso: ein vorbeifahrendes Auto ist jetzt die Unterbrechung.

Und in den Zwischenräumen öffnet sich eine akustische Perspektive und Raumtiefe, von der Murray Schafer schon in den Siebzigerjahren annahm, dass sie der Stadt ein für allemal entzogen sei.

Die Wiedergeburt des akustisch-urbanen Raumes.

Das ist doch was.

Eigentlich sollte man das zelebrieren.

Aber feiern ‚ist‘ gerade nicht.

Wenigstens dokumentieren.

Ich dachte, ich sollte Orte aufsuchen, dieselben Straßenecken und städtischen Situationen, wo ich vor gut zwanzig Jahren schon einmal eine Aufnahme ­gemacht habe, und dort, am besten zur gleichen ­Tages- und Uhrzeit, erneut eine Aufnahme machen.

Zum Vergleich.

Vielleicht mach ich das, wenn mir hier nichts mehr ­einfällt.

Aber wie sollte einem ‚nichts‘ nicht einfallen?

Das geht ja gar nicht.

Nicht, bis mich Corona hinwegrafft.

Dann wird’s aber nichts mit der Aufnahme.

Ich muss also einen anderen Schluss finden.

Aber welchen?

Gar einen sinnvollen?

Sonst noch was!

Dass Corona begonnen hat, hat ja auch keinen Sinn.

Es hat eben begonnen.

Also hör ich jetzt eben auf.

‚Es‘ hört dadurch ja noch nicht auf.