MusikTexte 165 – Mai 2020, 59–67

„Der liebe Gott hat mich zum Melodiker gemacht“

Der Komponist Dimitri Terzakis porträtiert

von Rainer Nonnenmann

Denn durch der Musen Geschenk und des treffenden Föbos Apollon / Sind die Männer des Liedes und Harfengetöns
auf der Erde; / Aber durch Zeus
Volkspfleger. O Seliger, welchem die Musen / Huldreich nahn! wie strömet ihm
süß vom Munde der Wohllaut!
Hesiod, „Theogonie“

Als der griechische Komponist 1965 nach Köln kam, um bei Bernd Alois Zimmermann zu studieren, erlebte er das dortige Musikleben als doktrinär. Zwar strebten Komponisten wie Zimmermann, Stockhausen, Kagel und andere jeder in eine verschiedene Richtung. Doch über alle Differenzen hinweg war man sich darin einig, überkommene Traditionen nicht einfach fortzusetzen, sondern möglichst neu anzufangen. Konträr dazu grenzte sich der 1938 in Athen geborene Dimitri Terzakis von all dem ab, was bis dato die westeuropäische Kunstmusik ausgezeichnet hatte: Harmonik, Polyphonie, Moderne, Atonalität. Stattdessen besann er sich auf Gesänge des bzyantinischen Mittelalters und der griechisch-orthodoxen Kirche, um fortan rein horizontal sich entfaltende melodische Linien zu komponieren. Als ein Gegenentwurf zur Prädominanz der westlichen Kultur und Moderne präfiguriert das Schaffen von Terzakis Motive des gegenwärtig unter Begriffen wie „Postkolonialismus“ und „Diversität“ geführten Diskurses über Globalisierung und Interkulturalität.

Terzakis wird häufig als Komponist zwischen zwei Welten bezeichnet. Tatsächlich trifft diese Zuschreibung sein Selbstverständnis als Vermittler traditioneller Musikkulturen des östlichen Mittelmeerraums nach Mitteleuropa. Schon als Kind erlebte er verschiedene musikalische Sphären und Tonsysteme. In griechischen Kirchen hörte er die mikrointervallisch belebten einstimmigen Melo­dien der orthodoxen Gesänge, während er zuhause Unterricht auf dem gleichschwebend temperierten Ak­kord­instrument Klavier erhielt. Seit Ende der Sechzigerjahre komponiert er in Anknüpfung an die antike Musiktheorie und orthodoxe Gesangspraxis primär horizontal. Statt harmonische und klangfarbliche Raffinesse steht für ihn die Gestaltung melodischer Linien im Zentrum, oft in Rein­form als unbegleitete Monodien, mit offensichtlicher Nähe zu altbyzantinischen Chorälen sowie Traditionen des Balkans und Vorderen Orients. Paradigma seines Schaffens ist nicht Revolution, sondern Evolution.

Byzanz

Die byzantinische Melurgie – von der sich auch die Grego­rianik ableitet – kennt vier authentische und vier plagale Kirchentonarten. Diese Modi oder „echoi“ basieren auf Hexachorden mit jeweils charakteristischen Intervallabständen, welche verschiedene melodische Figuren, Zäsuren, Bezugstöne, Phrasen- und Kadenzbildungen erlauben. Beeinflusst durch hebräische und syrische Musik werden auch nicht exakt intonierte Vierteltöne genutzt sowie übermäßige Sekunden. Terzakis verwendet dieselben Skalen nach eigenen Regeln. Er plaziert das charakteristische Intervall der übermäßigen Sekunde variabel auf allen möglichen Tonstufen und kombiniert in ein und demselben Stück verschiedene Tetrachorde nicht nur desselben Tongeschlechts, sondern auch solche von Dur, Moll und Chromatik. Im Gegensatz zu den äquidistanten chromatischen und diatonischen Tonschritten des temperierten Systems nutzt er Mikrointervalle nicht bloß als schmückende Zutaten, sondern wie in den byzantinischen Modi als Kernbestand und farblich-expressives Cha­rakteristikum. Für mitteleuropäische Hörer wirkt dieses Tonmaterial ungewohnt und neu, obwohl es in Wirklichkeit sehr alt ist und von Terzakis lediglich wiederentdeckt und etwas anders systematisiert wurde.1

Ich wusste, dass meine Sprache eine andere ist, und habe dann festgestellt, dass diese Welt – die Musik der Antike, die mittelalterliche, sprich byzantinische Musik – hier in Deutschland total unbekannt war. Und da man diese Welt nicht kannte, vereinfachten diejenigen, die gegen mich waren, die Sachen: Es genügte eine übermäßige Sekunde, um den Stempel der Folklore zu bekommen. Aber das chromatische Tongeschlecht gibt es seit der Antike. Man braucht nur Aristoxenes zu lesen oder Claudius Ptolemäus oder Quintilianus. Machten die auch Folklore? Aber die Kritiker wussten das nicht, und sie wollten natürlich auch nicht zugeben, dass sie es nicht wissen. Und dann bekam ich den Stempel der Folklore, obwohl ich nie eine Folklore-Note benutzt habe.2

Durch die Trennung von west- und oströmischem Kaiserreich sowie das Schisma von katholischer und orthodoxer Kirche im Jahr 1054 verlief die Politik-, Kirchen- und Musikgeschichte in West- und Osteuropa unterschiedlich. Verstärkt wurden die kulturellen Differenzen infolge der Eroberungen Konstantinopels 1204 durch die katholischen Kreuzritter – die man als Erzfeinde ansah – sowie 1453 durch die Osmanen mit der sich anschließenden fast vierhundertjährigen türkischen Okkupation Griechenlands bis 1821. Während sich in Mittel- und Westeuropa der Gregorianische Choral ab etwa 1100 nach und nach zur Mehrstimmigkeit entwickelte, veränderten sich die seit dem achten Jahrhundert überlieferten byzantinischen Kirchentöne ähnlich der Ikonenmalerei über Jahrhunderte kaum. Basierend auf den Kirchentönen und dazugehörigen rhythmischen Modellen blieb die Musik im östlichen Mittelmeerraum primär auf einstimmige Linien gerichtet, die möglichst reich, beweglich und ausdrucksstark zu gestalten waren. Die byzantinische und griechisch-orthodoxe Musik wurde auch weiterhin in Neumen notiert, mit denen nie bloß Einzeltöne verzeichnet wurden, sondern immer kleine Wendungen mit jeweils spezifischer Rhythmik und Melodik. Um die Linien besonders lebendig, stufenlos gleitend, spannungsvoll und expressiv zu gestalten, nutzten die Musiker intonatorische und agogische Spielräume. In der westlichen Musik dagegen führten Polyphonie, Kontrapunkt und Harmonik zu starker vertikaler Koordination mittels Metrum, Takt und Notation. Die Erweiterung auf drei und vier Notenlinien im Terzabstand durch Guido von Arezzo um 1025 sowie die Herausbildung der Mensuralnotation ab etwa 1230 bis hin zum noch heute gültigen Fünfliniensystem bewirkten eine gewisse Erstarrung von Melodie und Rhythmus. Die Fixierung auf temperierte Stimmung und tonale Funktionsharmonik im Lauf des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts verengte das Tonmaterial schließlich auf lediglich drei Skalen: Dur, Moll und Chromatik.

Das Werkverzeichnis von Dimitri Terzakis enthält bevorzugt Stücke für Singstimmen und Streicher in wahlweise solistischer, kammermusikalischer oder chorischer Besetzung, da diese eine besonders gute Artikula­tion dessen erlauben, was der Komponist „Mikromelos“3 nennt: melodische Linien innerhalb eines relativ geringen Ambitus mit Mikrointervallen, gleitenden Tonhöhen sowie feinsten intonatorischen und dynamischen Nuancen. ­Nahezu alle hundertsiebzig Werke, die Terzakis bis zur Vollendung seines achtzigsten Lebensjahrs 2018 schuf, weisen diese Stilelemente auf. Seine „Lieder ohne Worte“ (1994–1996) komponierte er ursprünglich als dreiteilige Folge für eine solistische Vokalstimme ohne Textgrundlage. Vom Bass bis zum Koloratursopran sind alle Register möglich. Die Sängerin oder der Sänger soll statt Wörter beliebige Vokale und bei Tonrepetitionen Konsonanten wählen, um Affekt und Charakter der achtzehn „kleinen Monodramen“ ausschließlich durch die Melodik und Rhythmik zum Ausdruck zu bringen, was verbale Hinweise präzisieren: „zornig“, „unruhig“, „bedrohlich“, „Hoff­nung“, „Angst“, „Verzweiflung“, „Enttäuschung“. Zu­dem darf sich der Interpret/die Interpretin schlichter Gestik bedienen. Zwanzig Jahre später bearbeitete Terzakis vier Sätze aus „Lieder ohne Worte“ für Viola solo (2017). Die wortlosen Vokalisen spielt nun die Solobratsche als ebenso „mikromelische“, expressiv sprechende instrumentale Gesänge. Die poetischen Titel der Stücke könnten aus Klavierstücken von Mendelssohn oder Schumann stammen: „Erster Liebestraum“, „Ein Märchen“, „Aus fernen Zeiten“, „Ein Adler“.

Melodiker

Dimitri Terzakis wurde 1938 in Athen geboren. Sein Vater Angelos Terzakis (1907–1979) war ein bedeutender Romancier und Feuilletonist, der dreißig Jahre lang am Nationaltheater in Athen wirkte, zuletzt als Direktor und Intendant. Durch ihn lernte Terzakis früh die Welt des Theaters kennen sowie die Literatur und Philosophie von der griechischen Antike bis zur Klassik, Romantik und Moderne.4 Bei Aufenthalten auf dem Landgut des Großvaters bei Nafplio auf der Peleponnes erlebte er orthodoxe Kirchen- und griechische Volksmusik. Seit den Sechzigerjahren besuchte er mehrmals die Mönchsrepublik auf dem Berg Athos. Die byzantinischen Hymnen und vielstündigen Messfeiern beeindruckten ihn so sehr, dass er die Mönche der dortigen Klöster später ausdrücklich zu seinen Musiklehrern zählte.5

Die Auseinandersetzung mit byzantinischer Musik vertiefte Terzakis durch die Lektüre alter Traktate und neuerer Theoriebücher. Mit Rat und Tat half ihm der befreundete Sänger, Chorleiter und Musikforscher Lykourgos Angelopoulos, der als Solosänger – der „Psaltis“ der byzantinischen Kirchenmusik – auch bei den Uraufführungen von Terzakis’ „Nomoi“ (1974, revidiert 1993) und „Liturgia profana“ (1976/1977) mitwirkte.

Kompositorisch ausgebildet wurde Terzakis zunächst von 1957 bis 1964 an der Musikhochschule seiner Heimatstadt Athen bei Yannis A. Papaioannou. In der Nachfolge von Nikos Skalkottas – der unter anderem bei Schönberg in Berlin studiert hatte und als erster griechischer Komponist atonale Musik schrieb – unterrichtete auch Papaioannou seine Schüler in Zwölftontechnik und Serialismus. Wie der sieben Jahre jüngere Kommilitone Georges Aperghis, der 1963 nach Paris übersiedelte, trug sich Terzakis mit dem Gedanken, ebenfalls nach Paris zu gehen, um dort bei Olivier Messiaen zu studieren. Papaioannou redete ihm dies jedoch aus, da man als Nicht-Franzose in Frankreich nichts werden könne und die Zeiten, da Paris noch das Tor zur Musikwelt gewesen war, vorbei seien.6 Auf Anraten des Lehrer ging Terzakis daher 1965 nach Köln, das damals einen weltweiten Ruf als Zentrum der neuen Musik genoss. An der Musikhochschule studierte er bis 1970 bei Bernd Alois Zimmermann sowie ein Semester Elektronische Musik bei Herbert Eimert beziehungsweise bei dessen damaligen Assistenten. Von Zimmermann hatte Terzakis zuvor nur aus einem griechischen Bericht über die Kölner Uraufführung von dessen Oper „Die Soldaten“ 1965 gelesen.

Zimmermann hat mir zunächst die serielle Technik beigebracht. Ich musste auf Millimeterpapier schreiben. Mein Gott, das war so mühsam. Aber ich wagte natürlich nicht zu sagen, „Herr Professor, das ist nichts für mich“, denn nach diesem System hatte er die „Soldaten“ komponiert. Dann besorgte mir Zimmermann ein Stipendium für die Ferienkurse in Darmstadt. Und als ich dort weilte, bekam ich aus seinem Urlaub in Dänemark einen Brief von ihm, den ich noch habe. Da schreibt er: „Seien Sie sehr kritisch. Die Leute dort behaupten, die Wahrheit erfunden zu haben. Also nicht alles kritiklos akzeptieren.“ Das war eine sehr wichtige Hilfe für mich. So sehr mich alle diese Tendenzen interessierten – auch was danach kam, Aleatorik, Polnische Schule, Penderecki, und so weiter –, so spürte ich doch, dass Arbeit in dieser Richtung, wie bei anderen auch, nur auf Kopien hinauslaufen würde. Auf der anderen Seite wusste ich, dass eine ganz strenge Dogmatik herrschte: „Entweder schreibst du so, wie wir wollen, oder du hast keine Chance.“ Da hat mir Zimmermann geholfen, und nach seinem Tod Wilfried Brennecke, der Redakteur für Kammermusik am WDR, dem ich enorm viel zu verdanken habe. Was mir bei allen diesen Tendenzen bei aller Bewunderung nicht passte, war das strenge Verbot der Melodie. Das gibt es heute immer noch. Aber der liebe Gott hat mich zu einem Melodiker gemacht.

„Katawassia“

Nach ersten atonalen und seriellen Stücken – darunter das Zimmermann gewidmete „Septett“ für sieben Flöten (1965/1966) – komponierte Terzakis noch während des Studiums sein erstes „griechisches“ Stück: „Ikos“ für achtstimmigen gemischten Chor (1968). Die Aufführung der lediglich drei Minuten dauernden Komposition beim IGNM-Musikfest in Basel 1970 wurde gut aufgenommen. Zum Durchbruch für Terzakis wurde jedoch wenig später „Katawassia“ für Vokalsextett (1971/1972), nicht zuletzt dank der Uraufführung bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik 1974 durch das auf neue sowie – dank des Einflusses von Alfred Deller – alte Musik spezia­lisierte Collegium Vocale Köln, das dieses Stück anschließend mit auf Welttournee nahm und auf einer WDR-Schallplatte herausbrachte. Den Auftrag zur Komposition hatte Wilfried Brennecke erteilt, der Terzakis über Jahrzehnte maßgeblich förderte. Gewidmet hat der Komponist sein Stück „in memoriam Bernd Alois Zimmermann“, dessen stilistische Offenheit und Toleranz Terzakis – wie er später immer wieder betonte – bei der Suche nach seiner eigenen Musik ermutigt habe.

Wie im griechisch-orthodoxen Kirchengesang gibt es in „Katawassia“ Wechsel von solistischen Vorsängern und Tutti-Passagen, bordununterlegte Melodien, vierteltönig geschärfte Psalmodien und Passagen „senza misura“. Zudem sind sämtliche Partien ohne Vibrato zu singen und – was sogar eigens gewünscht ist – auch chorisch aufführbar. Das Vokalsextett beziehungsweise sechsstimmige Chorwerk gehört zu den ersten religiösen Kompositionen von Terzakis, die der byzantischen Liturgie entsprechend konsequent auf Instrumente verzichten. „Katawassia“ wurde 1974 zusammen mit „Ikos“ in der Reihe „musica sacra nova“ bei Bärenreiter verlegt und im Vorwort von Terzakis mit einem Kommentar versehen, den er in Varianten später vielen seiner Partituren voranstellte: „Beide Werke sind in einer aus der byzantischen Musik von mir entwickelten Technik komponiert. Bei diesem Kompositionsprinzip handelt es sich nicht um eine Nachahmung dieser Musik. Ich verwende vielmehr technische Elemente als Ausgangspunkt für eine neue Klangwelt, die hauptsächlich mit einem noch unausgeschöpften Intervall-Material und einem neuen Form- und Zeitgefühl gestaltet ist.“ Terzakis verteidigt seine Kompositionen damit vorsorglich gegen den Vorwurf, es handle sich um restaurative Neo-Byzantinik. Doch obwohl er keine Stilkopie intendiert, erweisen sich die aus der byzantinischen Musik entlehnte Intervallik, Stimmführung und ornamentale Melodik für seine Stücke als so prägend, dass sie weniger den Eindruck einer „neuen Klangwelt“ erwecken als vielmehr die Erinnerung an eine sehr alte. Parallelen zur Neo-Gregorianik von Arvo Pärt drängen sich auf.

Am Anfang von „Katawassia“ singen die Vokalisten der Reihe nach von der tiefsten bis zur höchsten Stimme kurze Soli. Der Tonraum der Partien wird dabei von Einsatz zu Einsatz um jeweils einen Ganzton verengt. Der Bariton beginnt im Ambitus von einer kleinen Septime, der Umfang des Tenors beträgt einen Tritonus, der des Alt schließlich nur noch eine große Terz plus Viertelton. Der äußerlichen Verengung korrespondiert dafür eine umso größere Varianz der Tonhöhenabstufung im Inneren. Die Solopassage des Tenors umfasst (ausgenommen das cis) sämtliche Vierteltöne zwischen c und fis, also insgesamt dreizehn verschiedene Tonhöhen statt der lediglich sieben chromatischen Tonschritte innerhalb des Tritonus. Hinzu kommen Umspielungen, Glissandi, ausnotierte Triller, Vor- und Doppelschläge sowie wechselnde Vokale und die Konsonanten „k“ und „ch“. Im weiteren Verlauf des Stücks werden komplette Verse aus der byzantinischen Liturgie rezitiert, im Wechsel mit Lineamenten, die sich heterophon überlagern und endlich in homophone Schlussakkorde münden. Im Gegensatz zu „Katawassia“ sind die meisten anderen Vokalwerke von Terzakis nicht konfessionell gebunden, also keine Kirchenmusik im engeren Sinn. Neben Texten aus der Totenliturgie des Berg Athos, dem Alten und Neuen Testament und den Apokryphen vertonte Terzakis auch christliche Mystiker wie Jacob Böhme und San Juan de la Cruz sowie Stellen aus dem Ägyptischen Totenbuch und antike Texte von Heraklit, Aischylos und Sappho.

„Ethos B’“

Terzakis erfuhr wegen seines konsequent melischen Komponierens auch Kritik und Ablehnung. Umgekehrt behauptete er den eigenen Standpunkt gegen Anfechtungen auch durch scharfe Polemik gegen die neue Musik. So vertrat er die Auffassung, dass atonale, dodekaphone und serielle Musik allesamt total künstliche, abstrakte Konstrukte seien, die keinen „natürlichen Boden“ hätten, während das Ohr doch tonale Bezugspunkte brauche und naturgegeben die Auflösung einer Distanz erwarte.7 In ähnlicher Weise hatten schon in den Zehner- und Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts reaktionäre Kräfte die Wiener Schule attackiert, als man Kategorien von Kunst und Natur verwechselte und die historische Wandelbarkeit des Konsonanz- und Dissonanzempfindens unterschlug. Laut Terzakis ist die abendländische Musik mit der widernatürlichen Abkehr vom Primat der Melodie „ihren Weg total isoliert vom Rest der Welt“ gegangen, während sich sonst in allen anderen Kulturkreisen das Melos als authentische musikalische Ausdrucksform erhalten habe. Speziell für ihn als griechischer Komponist sei daher die jahrtausendealte, gleichsam natürlich gewachsene und daher auch alterslos gültige Tradition der griechischen Musik von der Antike über das mittelalterliche Byzanz bis zur Gegenwart so etwas wie „seine Muttersprache“.8

„Ethos B’“ für Altstimme (oder Bariton) und zwei Melodieinstrumente (1972) legte Terzakis erstmalig ein klar vordisponiertes Tonmaterial zugrunde. Alternativ zu (Hirten)Flöte und Violoncello können auch Oboe und Fagott, Trompete und Posaune oder sonstige Instrumentalduos gewählt werden. Zu Anfang spielt die Flöte der Reihe nach sechs teils aufeinander aufbauende Tetrachorde mit jeweils verschiedenen Tonhöhen und Intervallfolgen. Tetrachorde gab es schon in der griechischen Antike sowie in der byzantinischen Musik und im griechischen Volkslied. Doch statt altüberlieferter Te­trachorde verwendet Terzakis eigene Viertonfolgen, die neben dem traditionellen Rahmenintervall der Quarte auch einen Ambitus von übermäßiger oder verminderter Quarte haben.9 Das cha­rak­­teristische Intervall der übermäßigen Sekunde befindet sich in der ersten und vierten Skala zwischen zweitem und drittem Ton beziehungsweise drittem und viertem Ton sowie in der letzten Skala, deren symmetrische Abfolge von kleiner Sekunde, über­mäßiger Sekunde und erneut kleiner Sekunde dem altbyzantinischen chromatischen Tetrachord des zweiten plagalen echos entspricht.

Die anfangs exponierten Tetrachorde bestimmen im weiteren Verlauf jeweils abschnittsweise den tonalen Rahmen der Melodiestimmen. Innerhalb des Ambitus kommen freilich noch Mikrotöne hinzu. Terzakis verwendet die drei Stimmen meist versetzt, indem er eine Partie den Schlusston der anderen als Anfangston aufgreifen lässt. Harmonik spielt folglich keine Rolle. Die melodischen Linien sollen einziger Ausdrucksträger sein. Die Altistin färbt ihre Vokalisen nach Belieben mit verschiedenen Vokalen, indem sie ad libitum langsam von einem Vokal zum anderen übergeht. Der Verzicht auf eine Textvorlage erklärt sich auch durch den Werk­titel „Ethos“, der sich auf die antike Musiktheorie bezieht. Schon Platon erwähnt in seinem Buch „Politeia“ (Der Staat) verschiedene Modi, deren jeweils eigenes „Ethos“ ein spezifisches Pathos entfaltet, das beim Hörer empathisch Geist, Gemüt, Stimmung, Seele, Gefühl und Willen beeinflusst.10

Ethos lässt sich schwer übersetzen. Ethos ist Moral, eine gewisse Art des Komponierens, Musik mit einem gewissen Charakter. Laut Platon ist der diatonische Modus männlich, geeignet für Soldaten, der chromatische Modus ist für Weiber und laut Platon auch krankhaft. Platon ist nicht mit jedem Ethos einverstanden. Aber das ist Ethos. Und damit arbeiteten die großen Dichter, Aischylos, Sophokles, Euripides, die auch die Musik komponierten. Je nach dem Charakter eines Chorgesangs wählten sie einen Ethos: diatonisch, chromatisch. Und chromatisch ist nicht mit dem zeitgenössischen Begriff zu verwechseln. Gemeint ist nicht c, cis, d, dis, e, f und so weiter, sondern der Tetrachord, der in der Mitte eine übermäßige Sekunde hat.

Der Buchstabe „B’“ im Titel bezeichnet die Chronologie des Stücks in einer Serie mit „Ethos A’“ (1972), „Ethos Gamma I“ (1976), „Ethos Gamma II“ (1976/1977) und „Proimion in Ethos C’“ (1979). Zentrale Idee der gesamten Werkreihe ist es, eine Melodie ausschließlich durch sich selbst wirken zu lassen, ohne Harmonik und semantische Aufladung durch Wörter. Terzakis entfaltet die Linien meist solistisch und unabhängig von Takt und Me­trum. Nur stellenweise überlagern sich mehrere Stimmen, indem eine länger auf einem Ton verweilt, den eine andere dann melodisch umkreist. Zuweilen bilden die Partien auch Heterophonien, bei denen sie ihre Selbständigkeit nicht zugunsten einer übergeordneten Kontrapunktik oder Harmonik aufgeben, sondern sich in eigengesetzlicher Fortspinnung wechselseitig umranken. Wenn dabei zwei Stimmen demselben Bezugston nahekommen, entstehen mikrotonale Aufrauhungen und Belebungen. Das Klangresultat ähnelt dann der mikrointervallisch fluktuierenden Einton-Musik von Giacinto Scelsi, die Terzakis bereits Ende der Sechzigerjahre in Griechenland kennenlernte, als Jani Christou den italienischen Komponisten dorthin eingeladen hatte.11

Kritik und Gegenkritik

Wie andere Komponisten seiner Generation suchte Ter­zakis Ende der Sechzigerjahre den Bruch mit der Nachkriegsavantgarde. Seine Kritik an „der neuen Musik“ ließ allerdings unklar, gegen welche der zahllosen Richtungen, Sparten, Untersparten und Privatästhetiken sie sich richtete. Besonders provozierte Terzakis mit der These, die Möglichkeiten des horizontalen, also melodischen Komponierens seien umfassender und vielversprechender als die des vertikalen Komponierens, da Harmonik, Klang­farbe, Polyphonie, Tonalität, Atonalität und überhaupt die gesamte westliche Avantgarde in eine „Sackgasse“12 geraten seien. Kritik übte Terzakis auch an der „anachronistischen Einseitigkeit“ und dem ignoranten „Westeurozentrismus“ der neuen Musik,13 die keine anderen Tonsysteme und Musikkulturen wahrnehme. Er benannte damit zweifellos ein Desiderat, das auch gegenwärtig wieder den Diskurs prägt, etwa bei den Darmstädter Fe­rienkursen für Neue Musik 2018 unter dem Begriff „Defragmentation“. Zugleich ignorierte Terzakis aber, dass es bereits im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert ein Interesse an arabischer Musik und der Folklore des Balkan gab. Schon Mussorgsky, Borodin, Rimski-Korsakow, Obuchow, Albéniz, de Falla, Janáček, Bartók und Kódaly übernahmen Elemente aus volkstümlichen Liedern, Gesängen und Tänzen in die eigene Musik, passten diese allerdings zumeist dem temperierten System an. Eine spezielle griechische Nationalschule auszubilden, versuchten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Georgios Lampelet, Manolis Kalomiris und später Mikis Theodorakis, auch wenn sie westlichen Gattungen, Formmodellen und Tonarten verhaftet blieben.

Seit den Sechzigerjahren interessierten sich auch etliche Komponisten in Terzakis’ Kölner Umfeld für nicht-europäische Musik, etwa Stockhausen, Kagel, Globokar, Eötvös sowie die ehemaligen Kommilitonen aus Zimmermanns Kompositionsklasse Johannes Fritsch, Silvio Foretic´, Heinz Martin Lonquich, York Höller, Bojidar Dimov und Manfred Niehaus. Zu nennen wären ferner Komponisten wie Scelsi, Messiaen, Grisey, Eloy, Walter Zimmermann und Ligeti, für den sich Terzakis nach eigener Auskunft damals neben Xenakis am meisten interessiert hat.14 Laut Georg Kröll – Schüler Zimmermanns von 1957 bis 1962 – lag die Beschäftigung mit nicht-europäischen Musikkulturen und Gregorianik damals in Köln geradezu „in der Luft“,15 nicht zuletzt dank des 1976 als Abteilungsleiter und Redakteur im WDR wirkenden Jan Reichow, der 1971 mit einer musikwissenschaftlichen Dissertation über arabische Musik promoviert worden war und von 1976–2003 das „WDR Weltmusikfestival“ veranstaltete. Die bereits 1960 von Clytus Gottwald gegründete Schola Cantorum Stuttgart widmete sich dagegen bezeichnenderweise zunächst der Musik des Mittelalters, bevor sie sich mit Uraufführungen zeitgenössischer Vokalmusik hervortat.

Terzakis kritisierte ferner die „ästhetische Dogmatik“ und das „stilistische Diktat“, das damals in Köln ge­herrscht habe.16 Tatsächlich war nach dem Zweiten Weltkrieg bei Kulturschaffenden in Deutschland eine antitraditionalistische Grundstimmung verbreitet. Statt an Klassik, Romantik oder deutsche Volkslieder anzuknüpfen, welche die nationalsozialistische Rassenideologie vereinnahmt hatte, zielte die junge Nachkriegsavantgarde auf einen möglichst radikalen Bruch mit der von Diktatur, Holocaust und Krieg belasteten Vergangenheit. Die Si­tuation in Griechenland war freilich anders. Dort bot die orthodoxe Kirche einen kulturellen und politischen Anknüpfungs- und Identifikationspunkt. Denn jahrhundertelang waren die griechischen Klöster Orte des Widerstands und der Selbstbehauptung gegen Osmanen, Engländer, Italiener, Deutsche, Kommunisten und Obristen. Terzakis sah daher in der altbyzantinischen Gesangskunst eine sowohl authentische – weil keinen flüchtigen Moden unterworfene – als auch patriotische und für das eigene Komponieren entwicklungsfähige Dimension. Die westliche Avantgarde lehnte indes melodische Gestalteinheiten von Tonhöhen und Dauern folgerichtig ab, weil die ganze Welt ja ohnehin schon voll an Melodien ist, so dass es möglichst andere Musik zu komponieren gilt. Vor dem Hintergrund dieser konträren Sichtweisen musste die von Terzakis aus der Tradition heraus begründete „Mikromelodik“ nachgerade zwangsläufig als konservativ oder gar rückschrittlich erscheinen.

Dennoch liegt Terzakis falsch, wenn er die Musik der Sechziger- und Siebzigerjahre als dogmatisch oder gar diktatorisch brandmarkt, waren doch gerade diese Jahrzehnte von verschiedensten materialen, technischen und stilistischen Aufbrüchen geprägt, auch in Köln. Terzakis’ Lehrer Zimmermann interessierte sich für Jazz, mittelalterliche Gregorianik, isorhythmische Motteten, Renaissance und Barock. In seinen Analyseseminaren besprach er unter anderem Frescobaldi, Bach-Choräle, Beethovens Klaviersonate opus 3 und Debussys „Jeux“. Gleichzeitig entwickelte in Köln Mauricio Kagel sein „instrumentales Theater“ und Karlheinz Stockhausen widmete sich mobiler und offener Form, graphischer Notation, situativem Happening, Weltmusik, intuitiver Musik und in „Stimmung“ (1968) neotonalem Obertongesang. Für Pluralität stehen auch ehemalige Studenten von Zimmermanns Kompositionsklasse: York Höller beschäftigte sich mit informellen Methoden und ab Anfang der Siebzigerjahre mit Gregorianik und arabischem Maquam, um auf diesem Wege zum Komponierens mit Klang- und Zeitgestalten zu gelangen. Der zu Stockhausen gewechselte Johannes Fritsch produzierte radiophone Werke, improvisierte und interessierte sich für asiatische Musik. Klarenz Barlow zielte auf streng formalisierte Abläufe und algorithmisches Komponieren. Auch ältere ehemalige Zim­mermann-Schüler belebten die Kölner Musikszene: Manfred Niehaus arbeitete mit Jazz- und Improvisationsmusikern, schrieb Bühnenmusiken und Fernsehopern; Heinz Martin Lonquich arbeitete als Korrepetitor am Theater sowie als Liedbegleiter, Kirchenmusiker und Komponist neuer geistlicher Lieder; Peter Michael Braun strebte nach einer neuen Harmonik; und Georg Kröll profilierte sich als Pianist, Kammermusiker und Komponist in diesen Sparten. Einige der Genannten schlossen sich 1969 zur „Gruppe 8“ zusammen, die indes nur wenige gemeinsame Projekte realisierte und nur bis 1972 bestand, weil die ästhetischen Differenzen der Beteiligten einfach zu groß waren.

Der historische Kontext zeigt auch, dass Terzakis nicht der einzige war, der damals eine Wiederbelebung des Melodischen versuchte. Neudefinitionen von Melos finden sich auch in Stockhausens „Hymnen“ (1966/1967), „Mantra“ (1970) und den zwölf Melodien der Sternzeichen „Tierkreis“ (1974/1975), ferner in Ligetis „Melo­dien“ (1971) sowie bei Olivier Messiaen, Arvo Pärt, Pēteris Vasks, Sofia Gubaidulina, Claude Vivier und vielen anderen. Selbstverständlich entstanden Melodien auch die ganze Zeit über in Popmusik und Opern, sowie bei Vertretern einer moderaten Moderne, der Minimal Music, der politisch engagierten Achtundsechziger-Studentenrevolte in der Nachfolge von Hanns Eislers Kampfmusiken und der sogenannten „Neuen Einfachheit“ seit Mitte der Siebzigerjahre. Eine Abgrenzung vom seriellen Punktualismus der Nachkriegsavantgarde war damals längst nicht mehr nötig. Im speziellen Fall von Terzakis und seiner Auseinandersetzung mit dem angeblich „größten Tabu der neuen Musik, der Melodie, die aus außereuropäischen, noch nicht erschöpften Quellen schöpft“,17 war es daher umso wichtiger, die angeblich tabubrechende Neuheit des „mikromelodischen“ Ansatzes zu betonen, weil es galt, die Rückbesinnung auf byzantinische Psalmo­dien, orthodoxe Kirchen- und griechische Volksmusik gegen Vorwürfe zu schützen, es handle sich um restaurativen Traditionalismus oder griechische Nationalromantik.

„Tropi“

Das knapp zehnminütige Orchesterwerk „Tropi“ (1975) beginnt wie eine byzantinische Kantilation, allerdings nicht gesungen, sondern von allen Streichern unisono gespielt. Im Vorwort zur Partitur erklärt Terzakis: „Dieses Stück basiert auf der Denkweise der byzantinischen Musik, d.h. dass die Ausführung der Intervallfortschreitungen nicht auf dem abendländischen System der wohltemperieren Stimmung zu erfolgen hat.“ Verlangt werden Vierteltöne und Dritteltöne, die durch auf- und abwärts gerichtete Pfeile gekennzeichnet sind. Obwohl das Stück konventionell besetzt ist und auf erweiterte Spieltechniken verzichtet, stellte es die Interpreten der Uraufführung 1978 – das Radio-Symphonie-Orchester des Senders Freies Berlin unter Leitung von Peter Eötvös – vor große Herausforderungen. Wie dieser Mitschnitt dokumentieren auch andere frühe Einspielungen von Terzakis’ Werken die Schwierigkeiten, welche die ungewohnte Intervallik und Melodieführung den im temperierten System geschulten Interpreten bereiteten. Beim Unisono-Beginn von „Tropi“ sind Ungenauigkeiten des Zusammenspiels geradezu vorprogrammiert. Intonatorische und rhythmische Schwankungen sind hier jedoch kein Mangel, sondern ausdrücklich erlaubt und sogar erwünscht, da sie der einstimmigen Melodie Beweglichkeit, Spontaneität und expressive Wärme verleihen, also letztlich das, was die Lebendigkeit und „Seele“ dieser Musik ausmacht. Der menschliche Faktor von Instrumental- und Vokalmusik war es auch, der das anfängliches Interesse von Terzakis an elektronischer Musik dämpfte, so dass er nach 1972 – ausgenommen die Tonbandzuspielungen zu „Träume“ für Mezzosopran (1982/1983) – kein einziges Werk mehr mit Elektronik realisierte.18

Über dem Pedalton D der Kontrabässe entfalten sämt­liche Streicher unisono eine quasi dorische Psalmodie mit mikrotonalen Umspielungs- und Wechselfiguren, kleinen Glissandi, Vor- und Doppelschlägen. Geigen und Bratschen spielen durchweg auf der G-Saite, um den Klang stärker strahlen zu lassen und anstelle von harten Saitenwechseln alle Übergänge möglichst flexibel zu gestalten. Überbindungen rhythmischer Werte innerhalb des ohnehin nicht akzentmetrisch gedachten Viervierteltakts lassen die Melodie im sehr ruhigen Tempo Viertel = 48 gleichsam orientalisch frei über die Taktgrenzen fließen. Analog zu den byzantinischen Kirchentönen findet sich zwischen der dritten und vierten Tonstufe des hexachordischen Tonraums (namentlich zwischen g und vierteltönig erniedrigtem f beziehungsweise vierteltönig erhöhtem e das für die byzantinische Musik charakteristische Intervall der übermäßigen Sekunde. Die erste Phrase endet mit der Wiederkehr des Grundtons d in Takt 5. Die deutlich längere zweite Phrase wird stärker binnengegliedert, rhythmisch belebt und dynamisch gesteigert. Sie unterschreitet zunächst den Grundton, um den Hexachord-Rahmen dann auch nach oben zu überschreiten und über den Tonwechseln der Bässe zu G und A auch eine Subdominant- und Dominantspannung aufzubauen. Anschließend sinkt die Melodie zum repetierten dis der Takte 19–21 wieder ab. Der Bogen wird damit geschlossen und zugleich einen Halbton höher für den weiteren Verlauf geöffnet.

Das Schönheitsideal der orientalen Musik sind eben diese schwebenden Töne. Wenn ich diesen ersten Teil von „Tropi“ elektronisch gemacht hätte, ganz exakt, dann wäre er tot, das würde nicht funktionieren: Perfekt, aber tot. Ich habe damals Eötvös für die Uraufführung gesagt: „Pass auf, mach dir nicht die Mühe, das Unisono und die Mikrointervalle genau zu intonieren. Lass die Streicher spielen, denn winzige Differenzen sind nicht nur erlaubt, sondern erwünscht.“ Und das hat Eötvös dann wunderbar dirigiert, sowohl in Berlin als auch bei der Aufnahme in Baden-Baden. Und jetzt werde ich Ihnen ein Geheimnis verraten: Diesen ersten Unisono-Teil habe ich nachträglich komponiert. Denn als das Stück fertig war, fehlte mir irgendwas als Anfang. Dann habe ich diesen Teil nachträglich komponiert, und ich glaube, es funktioniert!

Der Titel „Tropi“ spielt auf den griechischen „tropos“ an, der Wendung oder Weise bedeutet. Die mittelalterliche Musiklehre begriff unter „Tropus“ die Kirchentöne sowie rhetorische Sinnfiguren, Gesänge oder Gesangsarten. Die byzantinische Hymnologie versteht unter Troparion einen je nach Textinhalt, Stellung im Offizium und melodischem Typus unterschiedlichen einstrophigen Gesang. In der Musikwissenschaft meint Tropus das seit dem neunten Jahrhundert in der christlichen Liturgie gebräuchliche Verfahren, einen bereits existierenden melismatischen Gesang nachträglich mit einem neuen Text zu unterlegen beziehungsweise umgekehrt bereits existierende Musik dem tropierenden Text nachträglich anzupassen. Da sich solche Tropierungen im Laufe der Jahrhunderte zu ausladenden Stücken verselbständigten, die den eigentlichen Messtext bis zur Unkenntlichkeit über­lagerten, wurde die Praxis schließlich durch das Triden­tiner Konzil 1563 aus allen liturgischen Gesängen verbannt.

Terzakis verfährt in seinem Orchesterwerk insofern tropierend, als er aus den alten byzantinischen Modi eigene melodische Lineamente formt und das ursprünglich textbasierte vokale Melos auf wortlose Instrumentalmusik überträgt. Er säkularisiert also gewissermaßen den byzantinischen Kirchengesang zu instrumentaler Orchestermusik für den Konzertsaal. Gleichwohl bleibt die spirituelle Herkunft der Anfangskantilene aus orthodoxen Kirchengesängen unverkennbar. Melodik und Rhythmik ließen sich theoretisch mit Silben und Wortakzenten eines liturgischen Texts unterlegen. Im weiteren Verlauf kommt es dagegen zu einem Paradigmenwechsel: Das bisher gültige Prinzip melodischer Rhythmus- und Tonhöhenvarianz ersetzen die Schlagzeuger ab Takt 22 durch das gerade Gegenteil, die schnelle rhythmuslose Repetition ein und desselben Tons. Wie Haupt- und Seitenthema bei einer klassischen Durchführung werden die Gegensätze dann verarbeitet. Einzelne Instrumente legen melodische Linien über die Repetitionen, während der starre Puls die rhythmische Varianz der Melodiestimmen übernimmt.

Im Zuge der sukzessiven Annäherung von melodisch-rhythmischer Varianz und starrer Einton-Repetition verengen sich die melodischen Linien auf immer weniger Tonhöhen (ab Seite 12) und werden umgekehrt die Einton-Pulsationen immer stärker rhythmisiert (etwa im Marimbaphon, Seite 17). Violinen I und Bratschen (Seite 16–17) spielen schließlich nur noch zwei Tonhöhen rhythmisch stark differenziert hin und her pendelnd. Diese Reduktion führt im gesamten Orchester zu kurzen fanfarenartigen Fortissimo-Vorschlägen vor langen Liegetönen. Gleichzeitig beleben sich Metrum und Rhythmus ab Seite 19 zu einem Siebenachteltakt mit obligatem Schlagmuster 3 + 2 + 2 der Congas im Tempo Viertel = 138. Dass hier beschwingte Folklore anklingt, unterstreicht nicht zuletzt der Umstand, dass Terzakis üblicherweise keine metrischen Muster benutzt. Die anti­thetische Reibung von Melos und Puls kulminiert in einer als „aggressiv“ charakterisierten „Improvisation“ der Schlagzeuger (Seite 24), die zirka vierzig Sekunden lang völlig frei, wild und lautstark Tom-Toms, Congas, Pauken, Gongs und Almglocken traktieren. Flankiert wird dieser Ausbruch von Hörnern und Trompeten mit den bereits bekannten übermäßigen Sekund-Fanfaren des-e. Anschließend verebben unterschiedlich rhythmisierte Einton-Repetitionen, in denen erneut das für die byzantinische Musik charakteristische Intervall der übermäßigen Sekunde anklingt.

Die späten Jahre

Dimitri Terzakis lehrte seit 1968 Musiktheorie an der Pädagogischen Hochschule Köln, bis 1990 an der Robert-Schu­mann-Hochschule in Düsseldorf, anschließend an der Musikhochschule Bern und von 1994 bis 2003 an der Musikhochschule Leipzig. Heute lebt Terzakis abwechselnd in Leipzig und im griechischen Nafplio. Seinen um 1970 herausgebildeten Personalstil setzt er bis heute fort. Alle seine Stücke folgen der gleichen streng horizontalen Entwicklung melodischer Linien auf Grundlage bestimmter Modi. Bei verschiedener Besetzung haben letztlich alle Kompositionen eine ähnliche Faktur. Statt der Gefahr stilistischer Verfestigung mit einer Erweiterung seines Ansatzes zu begegnen – sei es durch Harmonik, Polyphonie, neue Klang- und Spieltechniken –, konzen­trierte sich Terzakis in den Neunzigerjahren ausgerechnet noch konsequenter auf monophone Musik. Unbegleitete Solopassagen hatte er schon immer komponiert. Doch nun schrieb er komplette Werke für jeweils eine einzelne melodische Vokal- oder Instrumentalstimme.

Hauptwerke dieser Phase sind der für Siegfried Palm geschaffene „Dialog der Seele mit ihrem Schatten“ für Violoncello (1991) sowie der dreiteilige Zyklus „Lieder ohne Worte“ für Sopran solo (1994–1996). In der westlichen Kunstmusik ist dieser mehrteilige Vokalzyklus ohne Text und Begleitung ungewöhnlich. Eine Neuerung in Terzakis’ jüngerem Schaffen sind Kompositionen für Tasteninstrumente, namentlich für Klavier und Orgel, die er in seiner Arbeit mit Mikrointervallen und gleitenden Tonwechseln lange gemieden hatte. Nun suchte er ausgerechnet auch für diese temperierten Akkordinstrumente einstimmige Linien zu schreiben. Resultate dieses experimentellen Widerspruchs sind der vierzehn Stücke umfassende Klavierzyklus „Pensées“ (1997–1999) und „Die Farben des Ozeans“ für Orgel (1994). In letzterem sind zwei sich überlagernde melodische Linien nahezu durchgängig auf zwei Manualen zu spielen, da sich die Stimmen stellenweise sehr nahekommen und sich sogar auf denselben Tonhöhen treffen.

Die Vertikale, die in der westeuropäischen Musik eine Rolle gespielt hat bis zum Cluster, reduziere ich in meinen späteren Werken immer mehr, damit die Linien frei fliegen können wie Vögel im Himmel. Die Harmonik zieht sie in die Tiefe. Ich greife auf die jungfräuliche Zeit des Zusammenklangs zurück, sprich auf Quinten und Quarten. Dreiklänge werden Sie bei mir nicht finden. Wichtig ist die Wurzel der Melodik. Wagners Melodik stammt aus der Harmonik, aus den höchst originellen harmonischen Verbindungen des „Tristan“. Umgekehrt steht bei Verdi die Melodik alleine, während die Harmonik eine sekundäre Rolle spielt und ohne originelle Verbindungen einfach die Melodik unterstützt. Und ich? Ich bin ein Südländer und empfinde die Melodik als einen freien Vogel, ohne Schwergewichte an den Füßen. Das ist einfach eine Mentalitätsfrage.

Terzakis’ jüngste Werke zeigen auch klassizistische Züge: wiederkehrende Motive, reprisenartige Formbildungen, fugierte Passagen, akzentmetrische Pulsationen, klare Aufteilungen von Melodie- und Begleitstimmen. Die rhythmische Varianz mancher Linien beschränkt sich auf bloße Wechsel und Ambivalenzen von Duolen und Triolen, etwa in der „Sonate infernale“ für Violine und Klavier (2008/2009). Neben Ansätzen motivisch-thematischen Komponierens zeigt sich dort auch eine Nähe zu musikantischer Spiellust und Motorik in der Art der Neuen Sachlichkeit der Zwanzigerjahre. Die Liederzyklen wirken mit ihrem expressiven Pathos dagegen – auch wenn der Komponist dies ausdrücklich nicht intendierte – neoromantisch, etwa die „Gedichte des Sturms und der Öde“ für Sopran und Saxophonquartett nach Lyrik von Emily Brontë (2016) und der Liederzyklus „Ostwind“ nach Gedichten von Alexander Puschkin für Ge­sang und Klavier (2016).

Die Singstimme passt sich dem chromatisch-diatonischen System des Klaviers an und verzichtet auf gleitende Mikrointervalle. Für „orientalisches“ Kolorit sorgen lediglich noch übermäßige Sekunden. Obwohl Dreiklänge fast nicht vorkommen, vermitteln konsonante Terzen, Sexten, Quarten und Quinten sowie eine akzentmetrisch domestizierte Rhythmik dennoch einen neotonalen Charakter. An ausgewählten Stellen dienen auch Dur- und Moll-Dreiklänge als textausdeutende Mittel.

Im Rückblick auf Terzakis’ umfangreiches Schaffen lässt sich bilanzieren, dass der griechische Komponist mit seiner Rückbesinnung auf die altbyzantinische Monodie gegenüber einer auf Materialfortschritt und integrale Konstruktivität fokussierten Moderne einst kulturell öffnend wirkte. Fünfzig Jahre lang ohne nennenswerte Veränderungen fortgesetzt erweist sich seine konsequente Einstimmigkeit jedoch als stilistische Beschränkung, die die Musik künstlich daran hindert, sich aus der Horizontalen in die dritte Dimension zu erweitern. Indem Terzakis in seinen jüngsten Werken schließlich nicht mehr nur auf altbyzantinische Gesänge zurückgreift, sondern auch an die im internationalen Konzertleben dominierenden Traditionen von Klassik und Romantik anknüpft, geht sein einstmals eingeschlagener Pfad einer anderen Moderne verloren.

1Vergleiche Dimitri Terzakis; Auf der Suche nach neuem Tonhöhenmaterial, in: Melos, Mai 1971, 190–193.

2Sämtliche kursiv gesetzten Zitate von Terzakis stammen
aus einem Gespräch vom 9. September 2018 in Köln.

3Dimitri Terzakis, siehe Fußnote 1, 191.

4Zur Biographie vergleiche Wilfried Brennecke, „Laudatio auf Dimitri Terzakis“, Köln: Dohr, 2003.

5Ioannis Papachristopoulos; Das kompositorische Schaffen von Dimitri Terzakis. Stilkritische Untersuchungen und Werkcharakteristik ( = Signale aus Köln. Beiträge zur Musik der Zeit, Band 17), Wien: Der Apfel, 2011, 21.

6Terzakis im Gespräch, siehe Fußnote 2.

7Vergleiche Ioannis Papachristopoulos, siehe Fußnote 5, 29.

8Ebenda, 35.

9Ebenda, 91 und folgende Seiten.

10Vergleiche Giorgio Agamben, Die vortrefflichste Musik. Musik und Politik, in: Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main: Fischer, 2018, 169–170.

11Dimitri Terzakis im Gespräch, siehe Fußnote 2.

12„Auf dem Weg zur Monophonie: Der Komponist Dimitri Terzakis“, in: Musik und Kirche 6/1998, 409. Vergleiche auch Hans G. Schürmann, „Man braucht nur den nächsten Ton zu finden“, Gespräch mit Dimitri Terzakis (1995), in: NMZ 6/1995, 43.

13 Dimitri Terzakis: Wohin führt westeurozentrisches Musikdenken?, in: Programmbuch der Donaueschinger Musik­tage, 16.–18. Oktober 1992, 31.

14 Dimitri Terzakis im Gespräch, siehe Fußnote 2.

15Georg Kröll im Gespäch am 14. September 2018 in Köln.

16„Jenseits der Dogmen. Kolja Lessing im Gespräch mit
Dimitri Terzakis“, in: Beiheft zur CD Dimitri Terzakis:
Visionen, Mainz: Wergo, 2016, 3.

17Terzakis, siehe Fußnote 13, 17.

18Vergleiche Ioannis Papachristopoulos, siehe Fußnote 5, 59.