MusikTexte 165 – Mai 2020, 91–92

Schluss mit der gehaltsästhetischen Beliebigkeit!

Das Stuttgarter Festival Eclat mit Malte Giesens neuem Musiktheater „Frame“

von Rainer Nonnenmann

Nicht zum ersten Mal platzte das Festival aus allen Nähten. Die vierzigste Ausgabe von Eclat – gegründet 1980 als „Tage für Neue Musik Stuttgart“ – bot an fünf Tagen sechzehn Veranstaltungen mit fünfundvierzig Stücken, davon sechsundzwanzig Uraufführungen. Nahezu unvermeidich mussten dabei manche Pausen verkürzt und spätabendliche Konzerte bis tief in die Nacht verschoben werden. Im Nachmittagskonzert der Curious Cham­ber Players trat die künstlerische Leiterin Christine Fischer mit der Bitte vor das Publikum, man möge sich in der Konzertpause nur rasch beim gratis bereitgestellten Wasser bedienen und möglichst rasch zurückkommen, damit durch die Überlänge des ersten Konzerts nicht gleich der ganze Abend „geschrottet“ werde.

Die Fülle und Diversität dieses Festivals ist in der Tat beeindruckend und erschlagend zugleich. Der Rezensent fühlt sich als Stopfgans und zugleich am Verhungern, sollte er seine Vesperbox vergessen haben. Dem Publikumszuspruch tut dies indes keinen Abbruch, im Gegenteil. Die Stuttgarter strömen reichlich in die verschiedenen Säle des Theaterhauses, um möglichst geballt Neues, Überraschendes, Außergewöhnliches zu erfahren.

Klar dominiert wird das Programm von den Mitte Dreißig- bis Mitte Fünfzigjährigen in einem breiten stilistischen Spek­trum, darunter diesmal zwölf Komponistinnen und ein paar hierzulande noch wenig bekannte Musiker. Neben dem herkömmlichen Konzertformat gab es auch andere Präsentationsweisen wie Performance, Musiktheater, Raumklangkonzepte und Schulprojekte.

Die 2003 von Malin Bång und Rei ­Munakata ins Leben gerufenen schwedischen Curious Chamber Players spielten sechs in Besetzung, Machart und Ästhetik zum Verwechseln ähnliche Stücke mit Megaphonen, Papier, Verpackungsmaterial, Styropor und prasselnden Sojabohnenkernen. Die farbenfroh-sinnlichen Folgen von Knistern, Rasseln, Hauchen, Wimmern, Fingern und Frickeln gingen über geschmäcklerischen Sonorismus jedoch nicht hinaus und ließen auch keine autobiographischen Motive erkennen, wie sie der programmatische Komposi­tions­auftrag „changing moments in life“ eigentlich verlangt hätte. Das Ensemble Modern vollführte mit Ashley Fures Raumklangperformance „Together Games“ ein prätentiöses Pseudo-Ritual mit meditativem Atmen, Flüstern und Singen. Körperlich immersiv wirkte dagegen Maximilian Marcolls Performance „A C H K“, in der die Klangsignale zweier pausenlos bespielter E-Gitarren durch ein Zeitraster zerhackt auf zwei wuchtige Wände aus Gitarrenverstärkern übertragen wurden, so dass flackernde Interferenzmuster und packende Drones entstanden.

Wie indifferent sich Form, Technik und Inhalt verhalten können, zeigte die erste Nummer „Répétitions“ für drei Analog­synthesizer und Vocoderstimmen aus Bernhard Langs neuer Werkreihe „Cheap Opera # 1“. Rassistische Äußerungen rechter Politiker wurden hier – wie üblich bei Lang – geloopt, um das rasselnde Wortblech noch aggressiver scheppern zu lassen, während der Komponist dasselbe Verfahren in anderen Werken für Hommagen verehrter Klassiker nutzt.

Freiheit bis zur Willkür durchweht die Musik von Sergej Newski. Der 1972 in Moskau geborene Komponist wurde bei Eclat mit vier Kammermusikwerken por­trätiert, weil zeitgleich die Oper Stuttgart seine „Secondhand-Zeit“ aufführte, eine in Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ eingeflochtene neue Szenenfolge. „Track #3“ von 2015 ist ein gutes Beispiel für Newskis Bekenntnis: „Ich akzeptiere die wenig schmeichelhafte Tatsache, dass meine Ästhetik die Summe meiner biografischen Zufälle und mein Schreiben lediglich die Summe meiner verschiedenen Arten des Aberglaubens ist.“ Verschiedene Stilelemente prallen unvermittelt aufeinander: Ein Vokaltrio fällt plötzlich ins Falsett und greift zu trötenden Kazoos, während ein Gitarrist coole Riffs anstimmt. Das kann und soll auch nicht zusammenpassen.

Unter Leitung von Michael Wendeberg spielte das SWR Symphonieorchester Ashley Fures „Bound to the Bow“, eine dunkle Klanglandschaft mit wenigen Lichtstrahlen. Die 1982 geborene US-Amerikanerin erhielt dafür den Stuttgarter Kompositionspreis 2019. In „Die Rose der Winde“ ließ der spanische Komponist Fabià Santcovsky in schwarmartigen Prozessen einzelne instru­mentale Tropfen zu mitreißenden Klangfluten anschwellen. In dramaturgisch gelungenem Wechsel mit dem SWR Vokalensemble spielte Akkordeonist Teodoro Anzellotti die Uraufführung von Anna Korsuns zerbrechlichem Solo „Hauchdünn“ mit sirrenden Spitzentönen. Marina Khorkovas „Not me“ behandelte die dreiunddreißig Stimmen wie einen einzigen atmenden Organismus. Und Samir Odeh-Tamimis „Timna“ ließ vier um das Publikum verteilte Chöre gleichmäßig pulsierende Silben eines Phantasie-Altarabisch zu orgiastischen Höhepunkten steigern.

In Zeynep Gedizlioğlus „Nacht“ hatte das Ensemble Modern fast durchgehend zu flüstern. Von brutalen Tutti-Schlägen durchkreuzt vermittelte das Stimmengewirr den verzweifelten Wunsch, etwas sagen zu wollen, es aber nicht offen mitteilen zu dürfen oder zu können. Auch der einzige verständliche Satz „anstrengend ist es, und dennoch, immer weiter, immer weiter“ zeugte von einem Durchhaltewillen, der an die gegenwärtigen politischen Repressionen in der Türkei denken ließ. Hervortreten ließ die 1977 in Izmir geborene Komponistin ausschließlich instrumentale Soli, wahlweise zart, wütend, gefühl- oder kraftvoll, deren Gestus ungleich beredter wirkte als alles unterdrückte Wispern.

Andreas Eduardo Frank – zweiter Preisträger des Stuttgarter Kompositionspreises – verband in „intruder integer“ das Arditti Quartet mit Sebastian Ber­weck an drei verschiedenen Analogsynthesizern zu einer eher beziehungslosen Parallelaktion. Eng ins Quartett inte­grierte dagegen Sven-Ingo Koch den Bassklarinettisten Gereth Davis in „Amichais Trost“. Neben wiederkehrenden B-Dur-Dreiklängen zog sich ein achteltöniges Viertonmotiv – Vielheit aus Einheit generierend – durch alle wahlweise polyphonen, homophonen, repetitiven und kantablen Formteile. Ein paradoxes Material-Form-Verhältnis generierten die Ostinato-Modelle von Silvia Borzellis „after-image“, die wie im Hamsterrad auf der Stelle traten und dennoch prozessuale Entwicklungen hervortrieben.

Eine Entdeckung war das Deutschland-Debüt des ausgezeichneten Ensemble C Barré aus Marseille unter Leitung von Sébastien Boin. Die achtköpfige Gruppe verfügt neben üblichen Instrumenten über Akkordeon, Mandoline, Theorbe, Gitarren und Cimbalom. In Birke Bertelsmeiers „sunnūntag“ grundierten geriebene Weingläser dunkel raunende Gesänge der Neuen Vocalsolisten wie bei einer kul­tischen Handlung. An Programmmusik erinnerten auch ­Mikel Urquizas launige „Songs of Spam“ über Trump-Tweets, Phishing- und Werbe-Mails, deren dritter von vier Sätzen plötzlich als schwungvolle Canzone mit Schlagerqualitäten erschien. Anna Korsun beschränkte ihr „Vertigo“ schließlich auf leise Glissandi der Sopranistinnen in wechselseitiger Durchdringung mit ähnlich gleitenden Linien von Klarinette, E-Gitarre, Singender Säge und Theremin, so dass eine sirenenhaft einlullende Mischung aus Warnsignal und Lockruf entstand.

Malte Giesens „Frame“

Die Musiker betreten die Bühne, wie sie es bei Konzerten gewohnt sind. Da dies den Erwartungen an ein Musiktheater aber nicht entspricht, meldet sich der Komponist aus dem Off. Er verlangt einen anderen Auftritt, „ein bisschen gespenstisch“ mit schattenhaften Gestalten, düsterer Beleuchtung, Nebelwerfer und schaurigen Klängen. Doch auch diese Variante findet keinen Gefallen. Das Stück muss noch ein drittes Mal beginnen, nun als grelles Showcase mit groovigen Diskoeffekten und Starallüren. Stück und Aufführung werden so von vornherein als Möglichkeitsfelder gekennzeichnet, in de­­nen sich Komponist und Interpreten nach Belieben bewegen, ohne sich für eine bestimmte Lösung oder Stilistik entscheiden zu müssen. Die postmoderne Verfügbarkeit von Materialien, Techniken und Genres hat sich im Digitalzeitalter potenziert: Alles ist möglich, nichts ist nötig. Malte Giesens „Frame“ bringt das Dilemma des Anything goes auf den Punkt. Die Uraufführung dieses Musiktheaterwerks erwies sich bei Eclat als eine der bemerkenswertesten Produktionen, nicht, weil es besonders gelungen gewesen wäre, sondern weil es paradigmatisch die Rahmenbedingungen und Pro­bleme der Generation der Digital Natives thematisiert.

Der 1988 in Tübingen geborene, in Stuttgart und Berlin ausgebildete Komponist stellte dem Ganzen den Prolog eines Schauspielers voran, der in der Rolle des Komponisten darüber räsoniert, dass Musiktheater immer über sich selbst nachdenke und also selbstreflexiv sei, weshalb das Stück mit der sonoren Stimme eines Schauspielers beginnen solle, der „wie Gott“ so tut, als sei er der Komponist. Ankündigung und Aufführung des Sprech­texts fielen so in Echtzeit zusammen. Selbstreferentiell ist auch die Option, das Stück als Operette zu gestalten, mit den Neuen Vocalsolisten in verteilten Rollen als Komponist Malte Giesen, als Regisseur Thomas Fiedler und unter Perücke als Festivalleiterin Christine Fischer mit rot wallendem Intendantinnenschal. Das Libretto besteht im Folgenden aus real gewechselten Emails der Akteure, die sich über das Konzept des Stücks und Förderanträge austauschen und deren schwierige Terminfindung sich im Durcheinander eines quirligen Terzetts verliert. „Frame“ gehört zur Gattung sich selbst moderierender Stücke, wie man sie schon von Johannes Kreidler, Trond Reinholdtsen, Simon Steen-Andersen und Alexander Schubert kennt oder noch weiter zurückliegend aus dem absurden Theater, Max Frischs „Biographie: Ein Spiel“ (1967), Dieter Schnebels „Glossolalie 1961“ oder Ludwig Tiecks frühromantischer Komödie „Der gestiefelte Kater“ (1797).

Verbal kommentiert werden auch die Klänge des Stuttgarter Ensembles ascolta. Der Komponist verlangt „spröde Klänge, so ziemlich knäckebrotig“, dann will er es laut und metallisch „so richtig auf die Fresse“. Derart lakonisch annonciert wird alles zum Klischee. Ironisch distanzierend bis banalisierend wirkt auch die immer wieder geäußerte Behauptung „this is art“. Thema von „Frame“ sind genau solche Rahmensetzungen mittels Worten, Sujets, Szenen, Bildern und Medien, die beeinflussen, ob etwas überhaupt wahrgenommen wird, und wie man es rezipiert. Einen speziellen Rahmen setzt auch Giesens verbalisierter Wunsch, die Vocalsolisten unter Wasser singen zu lassen. Wenig später sieht man sie im Video tatsächlich in Slow Motion durch ein Schwimmbecken tauchen und dabei singen, was in Unterwasseraufnahmen nur leises Fiepen vernehmen und aus den Mündern große blubbernde Luftblasen erblicken lässt. Bei einem anschließenden Telefongespräch teilt der Komponist dem Regisseur mit, dass er diese „Wassermusik“ doch nicht für passend halte, weshalb sie gestrichen werde, was dann aber offenkundig nicht geschah.

Diese und andere performative Dissonanzen kennzeichnen das vermeintlich authentische „Making of“ als bewusst inszenierten Bestandteil eben desjenigen Stücks, dessen Aufführung das Publikum gerade beiwohnt. Videos zeigen die Mitwirkenden bei sich zu Hause, beim Üben, Kaffeetrinken, Rumsitzen, auf dem Weg zur Arbeit und schließlich während einer Probe zu „Frame“, wovon Audio- und Video-Schnipsel montiert, repetiert und zu schnellem Buffern gebracht werden. Das wirkt anfangs witzig und überraschend, auf Dauer jedoch ermüdend, weil alle Vorbereitungen zum Stück zu dessen eigentlichem Inhalt werden. Diese Selbstreferentialität verbürgt aber noch keine Selbstreflexivität. Der betriebsame Verweiszusammenhang ist eher affirmativ, weil er immer nur meint, was gerade ohnehin geschieht, statt dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten, der die internalisierten Dispositive des eigenen Sehens, Hörens, Fühlens und Denkens erhellen würde. Zu sehen sind Handys, Selfies, Monitore, Video-Feedbacks und Computerbildschirme mit Soundprogrammen und Uploads auf YouTube. Der Hörbetrachter wird over-entertained und nicht auf sich selbst als den eigentlichen Gegenstand der Betrachtung gelenkt. Die eingesetzten Medien reproduzieren bloß, was auf der Bühne passiert, statt neue Ein- oder Ausblicke zu eröffnen. „Frame“ verpuppt sich damit zu eben jener Filterblase, die es eigentlich zu durchstechen gilt. Die vermeintliche Metaebene des Stücks ist in Wirklichkeit gar keine, weil sie nicht neu kontextualisiert, sondern nur das Musiktheater benennt, dessen Bestandteil sie selber ist.

Obwohl in der Umsetzung gescheitert, ist Malte Giesens Ansatz der Idee nach vielversprechend. Den gängigen Vorwurf, die neue Musik befasse sich selbstreferentiell nur mit sich, wendet er ins Positive, indem er alle ineinander verschachtelten Rahmungen nur das Stück selbst und dessen Entstehungsgeschichte zeigen lässt, statt irgendein Thema, Problem, Anliegen oder Narrativ zu verhandeln. Alle Rahmen demonstrieren letztlich nichts anderes als Inhaltsleere. Giesen opponiert damit dem gehaltsästhetischen Trend vieler Komponistinnen und Komponisten seiner Generation. Denn an Inhalten herrscht kein Mangel, sondern Überfluss. „Content“ lässt sich beliebig up- und downloaden, streamen, kopieren, sampeln, remixen. Inhalte werden inflationär entwertet und austauschbar. Das macht auch viele Stücke, die gesellschaftlich relevante Themen aufgreifen möchten, letztlich irrelevant. Kunst vermittelt nicht primär Inhalte, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die vermittelnden Medien, Präsentationsweisen und Formen selbst, also auf die Mechanismen der Herstellung, Auswahl und Verteilung von Inhalten, die darüber entscheiden, was und wie etwas rezipiert wird. Eben dieses „Framing“ will „Frame“ erfahrbar machen. Giesen ist hellsichtig genug, die gegenwärtige modische Fixierung auf gesellschaftlich relevante Inhalte als den eigentlichen blinden Fleck unserer durchmedialisierten Lebenswelt zu diagnostizieren, aber (noch?) nicht Arzt genug, diesen Grauen Star auch zu stechen.