MusikTexte 166 – August 2020, 71–79

Der ewige Revolutionär?

Ludwig van Beethoven im gegenwärtigen Komponieren – Teil I: Orchesterwerke

von Rainer Nonnenmann

Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.

Walter Benjamin1

Wie Geschichte insgesamt droht auch historische Musik in dem Maße zu verschwinden, in dem die Gegenwart sich nicht mehr als in ihr gemeint erkennt. Umgekehrt erweist sich manche Musik der Vergangenheit auch nach Jahrhunderten noch als aktuell, wenn sie für die Gegenwart „mit Jetztzeit geladen“ ist, also entweder überzeitlich Gültiges anspricht oder etwas von jener Zukunft visio­när vorwegnahm, die inzwischen Gegenwart geworden ist.2 Beides zusammengedacht heißt, dass die Vergangenheit in dem Maße die Gegenwart zu erhellen vermag, in dem umgekehrt auch die Gegenwart die Vergangenheit beleuchtet. Der eine Zeithorizont ist auf den anderen verwiesen. Als eine Maxime kann daher gelten: Wer neue Musik verstehen will, soll auch alte hören und – wenn möglich – selber spielen; und umgekehrt: Wer von neuer Musik nichts wissen will, versteht auch von der alten nichts, weil er das Innovationspotential verkennt, das diese einst zur neuen Musik ihrer Zeit machte. Denn alt und neu sind relationale Kategorien. Sie verhalten sich zueinander wie kommunizierende Röhren. Wird zwischen Gegenwart und Geschichte die Verbindungsader zerschnitten, weil entweder die Geschichts- oder Gegenwartsvergessenheit dominiert beziehungsweise umgekehrt die ausschließliche Versessenheit auf das eine oder andere, so tendiert die Beschäftigung mit der Vergangenheit zu Musealität und Historismus. Wer historische Phänomene ohne Rücksicht auf die Situation der heute lebenden Menschen betrachtet, dessen Erkenntnisse bleiben bezugslos und statisch. Und wer sich ohne historischen Horizont nur für Gegenwart interessiert, dessen Sicht der aktuellen Situation bleibt entwicklungslos und betriebsblind. Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit, die nicht zugleich auch die historische Bedingtheit des eigenen Standorts reflektieren, tendieren zu einem Bestattungsunternehmen, das Altes und Vergangenes nur alt und vergangen erscheinen lässt, sprachlos und tot.3

Derlei grundsätzliche Überlegungen gelten auch für den Umgang mit Ludwig van Beethoven. Auch hier kommt es auf Standort und Perspektive an. Wie vielerorts in der Welt feiert man im Jahr 2020 den 250. Geburtstag des Komponisten. Unter der Dachmarke „BTHVN2020“ – wie Beethovens flüchtige Unterschrift ohne die klingenden Buchstaben – kam es bereits 2016 zu einem Zusammenschluss von Bundesrepublik Deutschland, Nordrhein-Westfalen, Rhein-Sieg-Kreis und der Bundesstadt Bonn zur gemeinnützigen „Beethoven Jubiläums GmbH“. Die Tochtergesellschaft der Stiftung Beethoven-Haus Bonn sollte mit fast zwanzigköpfigem Mitarbeiterstab und einem Etat von 28,5 Millionen Euro Beethovens runden Geburtstag als „nationales Ereignis mit internationaler Strahlkraft in regionaler Verankerung“ koordinieren, fördern und bewerben.4 Zwischen dem 16. Dezember 2019 – Beethovens vermutetem Geburtstag – und dem 17. Dezember – seinem amtlichen Taufdatum – sollte es 2020 in Deutschland und besonders im Rheinland und Bonn ein Jahr lang Veranstaltungen geben: Konzerte, Ausstellungen, Kunstprojekte, Performances, Installa­­-tio­nen, Performances, Filme, Sendungen, Workshops, Events, Vermittlungsprojekte, Feuerwerke, Rundwege, Diskussionen, Vorträge, Symposien, Mangas, Raps, Sprechchöre, DJ-Remixes und eine Pop-Oper. Auch an Beethovens Lieblingsessen und einen Jubiläumswein von der Mosel hatte man gedacht. Wie und wofür Beet­hoven gefeiert wird, sagt vermutlich mehr über unsere eigene Gegenwart und Gesellschaft aus als über den Jubilar selbst. Dies jedenfalls lehrt ein Blick zurück auf die vergangenen Beethoven-Jubiläen der Jahre 1920, 1927 und 1970, deren zeitgebundene Beethoven-Sichtweisen sich schon damals in einer Fülle an Worten und Bildern manifestierten.

2020 stehen vor allem Werke des meistgespielten Komponisten auf dem Programm. Vereinzelt sind aber auch neue Stücke von zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten geplant, die gegenwärtige Perspek­tiven auf die Musik des berühmten Jubilars eröffnen sollen. Wegen der Corona-Pandemie und des dadurch seit März 2020 zum Erliegen gekommenen öffentlichen Musiklebens fallen die meisten Konzerte aus oder werden ins nächste Jahr verschoben. Dadurch wird vielleicht erstmalig eingelöst, was sich Kritiker von derlei Jubelfeiern immer gewünscht haben: Nämlich zu runden Jubiläen ein Jahr lang eben gerade mal keine Werke der im Routinebetrieb zu Tode gespielten „Klassiker“ Bach, Beethoven, Mozart oder Mahler aufzuführen, um sie einmal ihrer Dauerverehrung und -vermarktung zu entziehen und auf diese Weise zu verhindern, dass sie als selbstverständ­liche Bestandsstücke eines klingenden Museums missverstanden werden.

Grundlegung der modernen Musik

Schon zu Beethovens 200. Geburtstag 1970 hatten namhafte Komponisten neue Werke geschrieben, die sich mit dem Jubilar auseinandersetzten. Auch jenseits runder Jubiläen und bestimmter Kompositionsaufträge verhalten sich zeitgenössische Komponisten zu Beethoven, weil dieser nahezu alle nachfolgenden Komponistengenera­tionen prägte und eine beispiellose Wirkung auf den musikalischen Diskurs des neunzehnten Jahrhunderts und der Moderne hatte. Zudem hatte Beethoven großen Einfluss auf Musikästhetik, Aufführungspraxis und die Entstehung, Methodik und Zielsetzungen des Fachs Musikwissenschaft.5 Will man seine epochale Bedeutung ermessen, kommt man nicht umhin, Kategorien wie Überbietung, Fortschritt und Innovation in Anschlag zu bringen, deren Tragweite sich durchaus mit dem Attribut „revolutionär“ beschreiben lassen. Zum Revolutionär stilisiert wurde Beethoven freilich auch wegen seines nachlässigen Äußeren, rebellischen Betragens und abfälligen Redens über Adelige sowie seiner den Idealen der Französischen Revolution verpflichteten Gedanken. Zugleich war er jedoch dem Wiener Adel bis hoch ins Kaiserhaus eng verbunden, von dem er sich eine Lebensrente bezahlen und Widmungen seiner Werke gebührend honorieren ließ. Hans-Joachim Hinrichsen stellt daher in seiner aktuellen Beethoven-Monographie klar: „Das eigentlich Revolutionäre liegt, wenn man an dieser Charakterisierung Beethovens festhalten will, in seiner Kunst.“6 Und weiter heißt es dort: „In einem ähnlichen Sinne, in dem Kants kritische Hauptschriften nichts Geringeres darstellen als die ,Grundlegung der modernen Philosophie‘, leisten Beethovens reife Werke die Grundlegung der modernen Musik.“7

Beethovens neun Sinfonien, zweiunddreißig Klaviersonaten und sechzehn Streichquartette setzten Maßstäbe für die weitere Gattungs- und Musikgeschichte. Kein anderer Komponist hatte bis dato die überkommenen Formmodelle, Satztechniken, Instrumentations- und Spielweisen so stark strapaziert, erweitert oder gar gesprengt und damit der Musik neue Dimensionen hinsichtlich zeitlicher Quantität und expressiver Qualität erobert. Beethoven begründete so eine seitdem bestehende Tradition des fortgesetzten Bruchs mit derselben, nach der spätere Komponisten die Errungenschaften des „Titanen“ nicht einfach übernehmen können, sondern versuchen müssen, diese ihrerseits zu überbieten. Beethovens Erbe anzutreten heißt folglich, statt der von ihm eingeschlagenen Wege seinerseits „Neue Bahnen“ zu beschreiten, wie sie schon Robert Schumann 1853 mit seinem berühmten gleichnamigen Artikel in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ dem jungen Johannes Brahms aufbürdete. Beethoven prägte nicht umsonst als Lebensmotto den kategorischen Imperativ „plus ultra“, immer weiter! Musikgeschichtlich kann man deswegen zu Recht von einem „Beethoven-Paradigma“ sprechen,8 an dem die Nachwelt nicht vorbeikam: Schumann, Liszt, Wagner, Brahms, Dvořák, Franck, Tschaikowsky, dann Schönberg, Webern, Skrjabin, Ives, schließlich auch die neue Musik nach 1945. Seit dem Beethoven-Jubiläum 1970 entstanden zahllose Kompositionen, die sich mit unterschiedlichen Motiven, Zielsetzungen, Methoden, Techniken und Ergebnissen auf Beethovens Werk und Leben beziehen. Einige dieser Werke eröffnen neue Perspektiven der Interpretation, Analyse und Rezeption seiner Musik, indem sie heutigen Hörerinnen und Hörern entweder deren einstige Neuheit und bleibende Aktualität oder aber die historische Distanz erfahrbar machen, die uns heute von diesem vor 250 Jahren geborenen Komponisten trennt. Denn der Geist des „Revolutionärs“ bleibt nur so lange lebendig, wie ihn die Gegenwart auf sich selbst zu beziehen und eigenständig fortzuschreiben vermag.

Auch Komponisten des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts nehmen so häufig auf Beethoven Bezug wie auf keinen anderen Komponisten. Beethovens Werke werden zitiert, alludiert, arrangiert, appropriiert, assimiliert, konterkariert, dekonstruiert, memoriert, reflektiert … Obwohl an dieser Stelle nur eine kleine Auswahl zeitgenössischer Beethoven-Reflexe behandelt werden kann, soll gleichwohl die Vielfalt der Zugangs- und Umgangsweisen zu dessen Musik exemplarisch erhellt werden. Insofern zielt die vorliegende zweiteilige Recherche, deren erster Teil über neue Orchesterwerke ihre Fortsetzung mit Werken von Elektronik, Klavier- und Ensemblemusik in MusikTexte 167 finden wird, mehr auf panoramaartige Makroskopie als auf erschöpfende Mikroskopie unter der Lupe. Systematisieren lassen sich die besprochenen Relationen zu Beethoven anhand der Aspekte von dessen Leben und Werk, auf die Bezug genommen wird, ferner durch die von zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten dafür gewählten Mittel, Medien und Techniken, sowie durch die dabei verfolgten Perspektiven, Methoden und Fragestellungen. Zu klären wäre also in jedem Einzelfall, was ein neues Stück an Beethoven wodurch und zu welchem Zweck beleuchtet? Wer nimmt wann und wo aus welchem Blickwinkel was von Beethoven unter die Lupe? Und wie gehen die neuen Werke mit den Klischees um, die diesen Komponisten seit zweihundert Jahren zum großen Einsamen, Liebenden, Ertaubenden, Verzweifelten, Heroen, Titanen und natürlich zum „Revolutionär“ stilisierten?

Aktualisieren: Schnebel, Zender, Hoffmann

Systematisch mit der europäischen Musiktradition beschäftigte sich zeit seines Lebens Dieter Schnebel. Der Komponist, Theologe und Musikwissenschaftler zielte im Rahmen seiner Werkreihe „Bearbeitungen“ (1972–1985) darauf, exemplarische Werke der barocken, klassisch-romantischen Tradition und Moderne – namentlich von Bach, Beethoven, Schubert, Wagner und Webern – so zu bearbeiten, dass sich an den im Musikleben teils allzu präsenten, daher gewohnten und als selbstverständlich missverstandenen Werken wieder ihr „inneres Leben“ erfahren lässt.9 Unter neuem Reihentitel „Re-Visionen“ (1986–1989) setzte Schnebel seine „Bearbeitungen“ mit Kompositionen über Musik von Mahler, Verdi, Mozart und Schumann fort. An den Werken der Vergangenheit wollte er „Verkalkungen des Konventionellen“ abschlagen, um dahinter bislang unentdeckte Potentiale aufzudecken und dem gegenwärtigen Publikum neu zu erschließen.10 In seiner „Beethoven-Sinfonie“ für Schlagzeug und Kammerensemble (1985) versuchte er, dies mit der zum Klassik-„Hit“ fetischisierten Fünften. Seine Bearbeitung ihres Kopfsatzes eliminiert in der Exposition sämtliche Tonwiederholungen des berühmten Klopfmotivs, dessen Omnipräsenz die markante rhythmische Prägnanz und kraftvoll vorandrängende Motorik des Satzes ausmacht. Statt unablässig zu pochen, werden die Töne mit der Summe ihrer Achtelrepetitionen ausgehalten. Zu Beginn klopft daher nicht das „Schicksal“ machtvoll an die Pforte, sondern stehen lediglich zwei sequenzierte punktierte Viertel mit jeweils anschließenden Haltetönen im Abstand einer großen beziehungsweise kleinen Terz. Die ruhig gestellte Rhythmik hat den Effekt, dass hinter dem sonst schlagenden und vorandrängenden Gestus von Beethovens Musik die relativ einfache Melodik und konventionelle Harmonik hervortritt. Zudem wendet der verfrüht einsetzende Liegeton b des Horns die initiale große Terz g-es vom originalen c-Moll zur Durparallele Es-Dur.9 10

Statt des wuchtig im Tutti stampfenden Sinfonieorchesters verwendet Schnebel nur ein kleines Kammerensemble mit elf solistisch besetzten Instrumenten. Die berühmte Fortissimo-Eröffnung wirkt dadurch verzwergt und eben jener physischen Kraft und Präsenz beraubt, die archetypisch mit Gewicht, Größe, Schwere, Gewalt und körperlichem Druck verbunden und immer wieder als „schicksalhaft“ rezipiert wurde. Schnebel schrumpft Beethovens heroischen Stil gleichsam auf Postkartenformat. Für Irritationen sorgt auch die eigenartig verunklarte Rhythmik und Metrik. Alle Achtelpulsationen sind eliminiert, doch dafür hat das Fünfachtelmetrum ein Achtel mehr. Der in jedem Takt zusätzlich eingeschobene Achtelwert lässt die Rhythmik, Melodik und Harmonik wahlweise durch Dehnung der jeweils ersten Achtel zur Viertel oder durch Achtelpausen stocken. Dem vorantreibenden Pochen und Schlagen wird so vollends das Drängende, mithin Kämpferische und Schicksalhafte ausgetrieben. Die obligate Rhythmik von jeweils zwei plus drei Achteln im Hauptsatz verkehrt sich im Seitensatz zum Schema drei plus zwei Achteln. Zusätzlich verzichtet Schnebel bei den viertaktigen Phrasen des Seitenthemas auf die Durchgangs- und Vorhaltsnoten der Takte 2 und 4, die stattdessen durch den zu Halbenoten gedehnten Anfangs- beziehungsweise Zielton ersetzt werden. Das lyrische Legato-Seitenthema wirkt dadurch geradezu bukolisch-kitschig, zumal es die Harfe (oder wahlweise Gitarre) mit Arpeggien begleitet.

Eine weitere Irritation bereitet geräuschvolles Papier- oder Plastikknistern und Rascheln, das vor allem in den kurzen Pausen der Tutti-Eröffnung hervortritt und die Piano-Fortspinnung des Klopfmotivs grundiert. Gegen Ende der Exposition wird bei der Rückleitung zum Hauptsatz das Papierrascheln durch Donnerblech ersetzt, das zunächst untergründig im Pianissimo beginnt, um immer wieder bedrohlich ins Forte oder Fortissimo anzuschwellen. In der Durchführung werden die Einsätze des Donnerblechs („wie fernes Grollen“) zusätzlich von großen Steinen flankiert, die in einem Holzkasten rumpeln. Schnebel setzt alle Hebel von Furcht und Schauer in Bewegung, um mit historischen Operneffekten statt illusionistischer Klangmalerei das genaue Gegenteil zu erzielen: ironische Brechung. Beethovens Ringen mit dem Schicksal, dem der Komponist heldenhaft in den Rachen greift, um sich durch Nacht zum Licht empor zu kämpfen, wird gemäß der Methode von Ernst Blochs „Rettung Wagners durch surrealistische Kolpor­tage“ (1929) ins Lächerliche konkretisiert.11 Der von Beethoven entfachte musikalisch-ideelle „Sturm und Drang“ mit all seinen Mystifikationen erscheint plötzlich ganz handfest als Gewitter-Maschinerie der Opernbühne.

Die Wiederholung der Exposition notiert Schnebel aus, weil er das zuvor verfremdete Fünfachtelmetrum nun durch den originalen Vierachtelakt ersetzt und statt der als Liegetöne ausgehaltenen Repetitionen das Klopfmotiv jetzt doch plötzlich pochen lässt, allerdings nur vom Xylophon, während alle anderen Partien die drei Achtel weiterhin als punktierte Viertel aushalten. Das Xylophon schlägt die Achtel während des Tutti-Anfangs ff martel­lato ganz allein und tremoliert dann auch die Liegetöne wie als Übererfüllung der zuvor getrogenen Erwartungen. Dennoch bleibt von der originalen Wucht der Tutti-Schläge kaum mehr als ein metallisches Ticken, das den weiteren kompletten Satz durchzieht und vereinzelt vom Kontrabass mit col legno battuti aufgegriffen wird. Die Motivfortspinnungen spielt das Xylophon „hämmernd – wie Arbeit“ und schließlich zweistimmig mit dem ebenso metallischen Vibraphon. Die klirrenden Repetitionen samt des damit verbundenen Aspekts „Arbeit“ übersteigert Schnebel in der Coda „etwas rascher, aber sehr skandierend“ durch den Einsatz eines Ambosses, spricht eines Werkzeugs ohne exakte Tonhöhe und Tonhöhenvarianz, mit dem schon Wagner im „Rheingold“ den Übergang von der seligen Göttersphäre zur mühevollen Arbeitswelt der Zwerge in Nibelheim markierte. Gleichzeitig wird immer wieder mit den Steinen gerumpelt. Gegen Schluss schlagen dann Xylo- und Vibraphon zusätzlich bei Liegetönen Achtel-Repetitionen oder tremolieren wie die Harfe. Klopfte Schnebels „Beethoven-Sinfonie“ am Anfang zu wenig, pulsiert und tremoliert das Stück nun gegen Ende zu viel und zu monoton mit immer demselben metallischen Klirren. Die Suggestiv- und Wirkungskraft von Beethovens „Schicksals“-Sinfonie wird so ins mechanisch Klappernde ausgenüchtert.

Für Hans Zender lag es als Komponist und Dirigent nahe, die im professionalisierten Musikleben gemeinhin getrennten Bereiche Komponieren und Interpretieren zusammenzuführen, um historische Werke neu zu vergegenwärtigen. Als Dirigent „komponierte“ er Konzertprogramme, indem er beispielsweise Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ in eine Aufführung von Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ inte­grierte oder Lieder von Anton Webern in Bachs „Johannes-Passion“ einfügte. Ganz ähnlich hatte Michael Gielen bereits 1978 Schönbergs Kantate in das Chorfinale von Beethovens neunter Sinfonie integriert. Als Komponist prägte Zender erstmalig in Zusammenhang mit seiner Bearbeitung von „Schuberts Winterreise“ (1992) den Begriff „komponierte Interpretation“. Er machte sich damit eine Idee des Dirigenten und Musikwissenschaftlers Peter Gülke zu eigen, der schon 1966 gefordert hatte, die klassischen Meisterwerke müssten periodisch neu komponiert werden, um sie vor der im Routinebetrieb des Musiklebens drohenden Neutralisierung und Musealisierung zu bewahren und ihre Sprachlichkeit auf dem jeweils neuesten Stand der Entwicklungen der Gegenwartsmusik zu halten.12

Neben Schuberts „Winterreise“ unterzog Zender später auch Schumanns C-Dur-„Fantasie“ und Beethovens „Dia­belli-Variationen“ einer „komponierten Interpreta­tion“. Er nutzte dabei den Deutungsspielraum zwischen dem überlieferten Notentext und dessen intendierter Wirkung, die sich entweder im Sinne historisch informierter Auffüh­rungspraxis rekonstruieren oder mit aktualisierten Mitteln dem heutigen Publikum neu erfahrbar machen lässt. Zender wählte die zweite Option, indem er den üblichen Interpretationsrahmen durch Instrumentation, Bearbeitung und passagenweise Neukomposition erweiterte. Zu Anfang seiner „33 Veränderungen über 33 Veränderungen – eine ,komponierte Interpretation‘ von Beethovens Diabelli-Variationen“ für Ensemble (2011) erklingt Antonio Diabellis Walzer zunächst ohne Eingriffe in die tonale und rhythmische Struktur. Das Thema wird lediglich von den Streichern anstelle des Klaviers gespielt. Später kommen Holzbläser hinzu, schließlich Tuba, Schlagzeug und am Ende neu eingefügte Dissonanzen. Die charakteristische Instrumentationsfolge beschwört verschiedene epochentypische Stile, vom klassischen Divertimento über romantische Sinfonik bis zur Moderne mit extremen Registern, grellen Spaltklängen und geräuschhaften Spielpraktiken. Die wechselnden Orchesterfarben vollziehen so eine sukzessive Annäherung von der Beethoven-Zeit des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts an Zenders Gegenwart im Jahr 2011.

Beethoven verwandelte in seiner ersten Variation die tändelnde Walzervorlage prompt zu einem pompösen Marsch „Alla Marcia maestoso“ im Zweihalbetakt. Vom beschwingten Thema bleiben allenfalls noch die Auftaktbewegung samt abfallender Quarte und das harmonische Skelett übrig. Der abrupte Wechsel von Metrum, Charakter und Dynamik erteilt dagegen Diabellis gefälligem Walzer eine demonstrative Absage. Zenders Variation dieser ersten Variation verschärft den Kontrast, indem unvermutet Blechbläser und Schlagzeug ff einsetzen. Zudem wird das Thema in verschiedenen Instrumentengruppen unterschiedlich rhythmisiert und mit versetzten Akzenten auf verschiedenen Zählzeiten sowie gegeneinander laufendem Sechsviertel- und Vierviertelmetrum gleichzeitig gespielt. Es kommt zu dissonanten Überlagerungen und polymetrischen Verwacklungen, die Beet­hovens Marsch ebenso aus dem Tritt geraten lassen, wie dieser einst Diabellis Walzer weggewischt hatte. Schließlich wendet Zender die Musik ins Geräuschhafte, indem er tonhöhenspezifische Instrumente der Reihe nach aussetzen und immer mehr tonhöhenunspezifische Schlaginstrumente einsetzen lässt. Gegen Ende verliert diese Variation der Variation alle tonalen, melodischen und rhythmisch-metrischen Bindekräfte. Die Linien zerfallen zu Einzelimpulsen, die schließlich gänzlich vertröpfeln. Zender demontiert Beethovens auftrumpfenden Marsch mit den Mitteln der neuen Musik ebenso radikal, wie einst Beethoven den Walzer Diabellis demontierte.

Variationen sind immer „Musik über Musik“. Beethoven aber gestaltete seine Variation 22 „Allegro molto alla ,Notte e giorno faticar‘ di Mozart“ ausdrücklich als Metamusik. Die auftaktige Tonumspielung samt volltaktigem Quartfall von Diabellis Walzer wendet er zum Thema der Arie des Leporello „Keine Ruh bei Tag und Nacht“ der Anfangsszene „Introduzione“ des ersten Akts von Mozarts Oper „Don Giovanni“. Beethoven eignet sich also nicht einfach Diabellis Thema an, sondern entfernt sich zugleich von diesem, indem er es kurzerhand durch die Musik eines dritten Komponisten ersetzt. Zender bereitet den Einsatz von Mozarts Thema durch eine lange Fläche tonloser Geräusche und Wirbel vor, so dass das plötzlich in klassischer Instrumentation einsetzende Lepo­rello-Thema umso überraschender wirkt. Entscheidend ist aber nicht der Einsatz von Mozarts tändelnder Musik selbst, sondern der Umstand, dass Beethoven in seinem Variationszyklus plötzlich Musik aus einem gänzlich anderen Kontext aufgreift. Zender verstärkt deswegen Beethovens Montageverfahren, indem er in Analogie zur dortigen harmonikalen und dynamischen Gestaltung die von Beethoven adaptierte Musik Mozarts aus heiterem Himmel von einem ff-Einbruch der düsteren Sphäre des Komturs aus dem Finale von Mozarts Oper mit Blechbläsern und Pauken überfahren lässt. Urplötzlich erklingen ein verminderter Akkord als Doppeldominante, ein Dominantseptakkord und schließlich die d-Moll-Tonika.

Zender stört also Mozart mit Mozart, ganz so wie es dieser bereits selbst mit seinen Tafelmusiken im Finale des zweiten Akts „Don Giovanni“ getan hatte, als er neben populären Opern der Zeit auch die Arie „Non più andrai, farfallone amoroso“ aus seiner eigenen Oper „Figaros Hochzeit“ zitierte und dies auf der Bühne durch Leporello auch ausdrücklich kommentieren ließ: „Wie heißt doch die alte Oper?“, „Die Musik kommt mir äußerst bekannt vor!“ Ebenso klingt in Beethovens Varia­tion 20 und 33 das Thema der „Arietta“ aus seiner letzten Klaviersonate an. Wie Mozart komponierte also auch Beethoven Musik mit fremder und eigener Musik. Ebenso sind Zenders „33 Veränderungen über 33 Veränderungen“ nicht bloß eine beliebige Instrumentation von Beethovens berühmtem Variationszyklus, sondern eine erneute metamusikalische Fortsetzung von dessen zentralen kompositorischen Prinzipen mit Mitteln der neuen Musik.

Vollkommen eigenständig und doch in den ersten Takten als Kontrafaktur auf Beethoven bezogen ist „passage/paysage“ für großes Orchester (1989/90) von Mathias Spahlinger. So wie Beethoven seine „Eroica“ mit zwei Es-Dur-Tuttiakkorden eröffnet, aus deren harmonischer Vertikale sich dann auch die melodische Horizontale entfaltet, entwickelt Spahlinger aus denselben zwei Tutti-Akkorden die treibende Kraft seines gesamten Stücks. Allerdings lässt er den initialen Tutti-Schlägen vereinzelte Einsätze leicht vor- und nachklappern, um zu signalisieren, dass ein von mehreren Musikern gespielter Einsatz niemals hundertprozentig exakt synchron erfolgt, sondern es bei genauer Beobachtung immer minimale Abweichungen gibt, die jedoch üblicherweise im Sinne der rhythmisch-metrischen Tonalität zurechtgehört werden. Und so wie Spahlinger die Synchronizität der Tutti-Akkorde auseinanderfallen lässt, um das Publikum hören zu lassen, was wirklich klingt, spaltet er im weiteren Verlauf auch die gleichschwebend temperierten Tonhöhen in Mikrointervalle auf, weil zwei verschiedene Instrumentalisten niemals exakt die gleiche Frequenz hervorbringen, sondern minimale Schwebungen unvermeidlich sind, die im Sinne des tonalen Kategoriensystems ebenfalls zurecht gehört beziehungsweise sogar als Belebung und Bereicherung des Klangs erlebt werden.

Robin Hoffmann beginnt sein „Schorf“ für großes Orchester (2007/2008) mit dem ff-Unisono-C der Streicher, gefolgt von einem f-Moll-Tuttischlag wie in Beethovens „Coriolan“-Ouvertüre, deren Anfang die Koordinaten des tonalen Systems exemplarisch markiert: Einer einzigen gemeinsamen Tonhöhe folgt ein Tutti-Schlag zu einem gemeinsamen Zeitpunkt. Bei Beethoven wird das Uni­sono zweimal wiederholt und jeweils mit einem weiteren Tuttischlag – verschärft zu verminderten Akkorden – quittiert. Das Streicher-Unisono ist eigentlich ein Allerweltsmaterial, das von jedem x-beliebigen Komponisten stammen könnte. Doch mit seiner Instrumentation, Lage, Dynamik und Energetik entfaltet es eine spezifische Pathetik, die unverkennbar Beethoven ist. Hoffmann lässt die Tutti-Schläge gleich zu Beginn zeitlich und tonal zersplittern, ähnlich der Es-Dur-Eröffnung von Spahlingers „passage/paysage“. Die zersprengte Klanglandschaft wird schnell pulverisiert. Das Erscheinungsbild bestimmen verzitterte Akkordeinsätze, leicht glissandierende Saltandi, Battuti und Pizzikati der konsequent divisi spielenden Streicher. Hinzu kommen Blas- und Schlaggeräusche, tonloses Fingerklappern auf dem Korpus von Streich- und Blechblasinstrumenten, sowie aneinander geschlagene Feldsteine und in einen Eimer geschüttete Kiesel. Hoffmann sucht keine falsche Nähe zu Beethovens alter Musik, sondern lenkt lediglich mit genuinen Mitteln der neuen Musik den Blick zurück auf das, was auch schon Beethovens Ouvertüre ausmacht. Denn auch dort zerfällt die zu Anfang demonstrierte größtmögliche Einheit von Klang und Zeit sofort zu unruhigen Synkopen, Überbindungen, plötzlichen Generalpausen, Dynamik-, Tonart- und Charakterwechseln, bis die Ouvertüre erst ganz am Ende wieder in drei Unisono-Pizzikati pp des Grundtons mündet.

Hoffmann verdichtet die dissoziierten Elemente immer wieder zu regelmäßigen Achtelpulsationen, deren anfänglich schwache Tonhöhenfärbung immer deutlicher hervortreten, bis inmitten der polyrhythmischen Texturen kurz das bewegte Hauptthema von Beethovens Ouvertüre anklingt. Auch Einklänge, synchrone Tutti-Schläge und Rhythmen werden immer wieder beschworen, um dann umso deutlicher zu zerfallen. In Hoffmanns Orchester will nichts mehr gemäß der tonalen Gesetzmäßigkeiten von Ton- und Zeitraum zusammenpassen. Der Verlauf mündet schließlich in die rauschende Aufnahme einer Probe von Beethovens „Coriolan“ des NBC Symphony Orchestra unter Leitung von Arturo Toscanini aus dem Jahr 1946. Nach einer Wiederkehr der Tutti-Schläge ab Takt 279 unterbricht der italienische Stardirigent das Orchester, um eben jene Dramatik sowie genaue Rhythmik, Intonation und Phrasierung zu fordern, die Hoffmanns live spielendes Orchester längst bewusst demontiert und im weiteren Verlauf durch hör- und sichtbares Aneinanderreiben von Fingernägeln ersetzt hat. Nach Toscaninis Wutausbruch duckt sich allerdings auch Hoffmanns Orchester für einen Moment mit besonders leisen, zarten, verletzlichen Klängen wie verlegen zur Seite, um dann erneut umso tumultöser gegen das tonale Kategoriensystem zu revoltieren, das der autoritäre Pultstar bei der Orchesterprobe durchzusetzen versucht. Schließlich endet die Komposition mit ebenso versetztem Fingerschnippen, wie sie mit verwackelten Tutti-Schlägen begann.13

Historisieren: Widmann, Torke, Adams, Lang, Poppe

Die durch Beethoven maßgeblich geprägten ästhetischen Gebote von Erneuerung, Übersteigerung und Experiment behielten ihre Gültigkeit selbst noch für die serielle Nachkriegsavantgarde, die möglichst radikal mit sämtlichen überlieferten Formen von Musik zu brechen suchte. Erst im Lauf der Sechziger- und Siebzigerjahre bahnten sich dann wieder mehr Komponisten individuelle Wege zu Techniken und Ausdrucksweisen von Renaissance, Barock, Klassik und Romantik. Vorreiter dieser Entwicklung waren Bernd Alois Zimmermann, Berio, Ligeti, Kurtág, Kagel, Schnebel, Baur, Killmayer, Schnittke und andere.14 Der Stilpluralismus ihrer Werke begründete die musikalische Postmoderne der nächstjüngeren westdeutschen Generation von Wolfgang Rihm, Hans-Jürgen von Bose, Wolfgang Schweinitz oder Reinhard Febel, die wegen ihres expressiven, teils neotonalen Subjektivismus fälschlicherweise mit dem Schlagwort „Neue Einfachheit“ etikettiert wurden. Die Verfügbarkeit von Errungenschaften der musikalischen Vergangenheit wurde in den Siebzigerjahren als Befreiung von avantgardistischer Fortschrittslogik und dogmatischem Purismus erlebt, führte zuweilen aber auch zu mehr konzertpädagogisch als künstlerisch motivierter „Vermittlungsmusik“. Anlässlich runder Jubiläen von gefeierten „Klassikern“ wie Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Wagner oder Mahler wurden eigens neue Werke in Auftrag gegeben, mit denen zeitgenössische Komponisten Brücken zwischen alter und neuer Musik schlagen und alternative Zugänge zum kanonisierten Repertoire eröffnen sollten, um das Publikum mit leicht begreifbaren Bezügen zu vertrauten Werken behutsam eben da „abzuholen“, wo es ästhetisch „zu Hause“ ist. Viele relational auf bestimmte Komponisten oder Werke bezogene Hommagen, Prologe, Präludien, Memoriale, Epitaphe, Vor-, Nach- und Zwischenspiele, Spiegelungen, Reflektionen, Übermalungen, Dekompositionen … erwiesen sich allerdings weder als wirklich neu noch öffneten sie neue Zugänge zur Tradi­tion – häufig wurde die Eigenart der historischen Bezugspunkte ebenso verfehlt wie die Musik der Gegenwart. Auch merkantile Interessen spielen eine Rolle beim Versuch von Musikverlagen, neue Werke an die weltweit beliebten Repertoirewerke Beethovens anzudocken, in der Hoffnung, die neuen Stücke würden dadurch ebenfalls häufiger gespielt.

Jörg Widmann komponierte „Con brio“ für Orchester (2008) für ein Konzert im Rahmen einer zyklischen Gesamtaufführung aller neun Beethoven-Sinfonien durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von dessen damaligem Chefdirigenten Mariss Jansons, der bei jedem dieser Beethoven-Konzerte auch ein zeitgenössisches Werk zur Uraufführung bringen wollte. Widmanns Stück bezieht sich auf Beethovens siebte und achte Sinfonie. Der Werktitel ist der Charakterangabe des Finalsatzes „Allegro con brio“ der Siebten und des Kopfsatzes „Allegro vivace con brio“ der Achten entlehnt. Beide Sinfonien opus 92 und opus 93 verbindet neben ihrer engen Entstehungsfolge vor allem das Dominantverhältnis ihrer Tonarten A- und E-Dur sowie rhythmische Obses­sion, tänzerische Motorik und ekstatische Raserei. Widmann wirbelt daraus einzelne Elemente durcheinander: typische Instrumentationsgesten, Fanfaren, Tutti-Akkorde, Sechsachtelmotive, Läufe und Pulsationen. In mehreren Verdichtungswellen gewinnen die versprengten tonalen Trümmer immer deutlicher an Gestalt, bis sie endlich als konkrete Zitate identifizierbar werden.

Die Ecken und Kanten von Beethovens Personalstil betont Widmann mit abrupten Kontrasten von Tempo, Dynamik sowie Tonhöhen und Geräuschklängen. Eine neue Hörperspektive eröffnet er damit jedoch nicht. Stattdessen bestätigt seine collageartige Adaption eher den Gemeinplatz, Beethovens Werke seien stürmisch, temporeich, repetitiv, mitreißend und manisch auf bestimmte Kernmotive fixiert. „Con brio“ bietet scherzhaft-launige Alibi-Neue-Musik für gewöhnliche Repertoirekonzerte mit Beethovens Meisterwerken, die lediglich mit einem schwungvoll-unterhaltsamen Sidekick garniert werden. Durch verkürzte Einsatzfolgen entfaltet das Stück gleichwohl eine starke Sogwirkung. Nachdem es sich in mehreren Wellen Beethoven genähert hat, zieht es sich gegen Schluss wieder devot zurück, um ganz im Sinn einer Ouvertüre die Bühne für die nachfolgenden Aufführungen der beiden Sinfonien zu räumen. Sinnvoller wäre es vermutlich, unabhängig von Beethoven ein dem heutigen Erwartungshorizont gemäßes Innovations- und Irritationspotential zu entfalten, so wie sich einst auch Beethovens Werke vor dem Erwartungshorizont ihrer Zeit als außergewöhnliche neue Musik abhoben.15

Michael Torke verwendet in „Ash“ für Kammerorchester (1988) ein ebenso elementares wie für das gesamte Stück zentrales Auftaktmotiv ähnlich dem Klopfmotiv von Beethovens „Schicksalssinfonie“. Es handelt sich um zwei auftaktige Sechzehnteltonwiederholungen und ein volltaktiges Achtel derselben Tonhöhe. Ohne Tonwechsel noch elementarer als Beethovens Keimzelle durchzieht dieses Motiv – zu unablässigen Pulsationen verkettet – das gesamte Stück in einer Mischung aus klassischem Stil, neobarockem Konzertieren und repetitiver Minimalmusik. Die Spielanweisung „Aggressive, strong, with conviction“ beschwört unverkennbar Beethovens Pathetik. Während des kompletten Stücks unverändert bleiben – abgesehen von wenigen Wechseln zur Dominante und Durparallele – die Tonika f-Moll sowie der Viervierteltakt und das Tempo Viertel = 88. Der entsprechend schnelle Achtelpuls wirkt animierend und erhöht – wie Beet­hovens Gestus des unerbittlichen Weiterdrängens – bei Spielern und Publikum unwillkürlich Herzschlag und Atemfrequenz. Der US-amerikanische Komponist nutzt das extrem reduzierte Material für umso variantenreichere Durchführungen. Die drei Impulse des Kernmotivs erscheinen auch in umgekehrter Reihenfolge als Achtel und zwei Sechzehnteln sowie wahlweise metrisch versetzt, synkopiert, übergebunden, intervallisch gespreizt, zu Sechzehntel- oder Achtelketten fortgesponnen und fortwährend neu kombiniert. Das Resultat ist eine ständig springende, zuckende, mal kokett tändelnde, mal wuchtig stampfende Musik, deren rhythmische Raffinesse das obligate Vierviertelmetrum über weite Strecken komplett überformt.

Die Instrumentation folgt Beethovens Sinfonik mit massiven Tuttischlägen, vorandrängenden Blechbläser-Crescendi und leuchtenden Holzbläsern. Sämtliche Stimmen sind verdoppelt, was den Klang eindringlich steigert. Im Mittelteil des dreiteiligen Stücks übernehmen konzertierende Gruppen einzelne Passagen, insbesondere Streicher und Holzbläser mit zopfiger Melodik und Kontrapunktik, als handle es sich um eine Kreuzung aus Beethovenscher Sinfonik und barockem Concerto grosso. Der Zugriff auf Beethovens Instrumentation, Ausdruckstopoi, Durchführungstechnik und tonale Harmonik bleibt konventionell, klischeehaft, retrospektiv. Statt die Tradition neu zum Glühen zu bringen, präsentiert Torkes „Ash“ lediglich deren ausgebrannte Asche, als handle es sich um eine bewusste Verkehrung des von Gustav Mahler überlieferten Ausspruchs: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“ Die permanent auf Sprung, Schlag, Drehung und Attacke eingestellte Musik verbreitet mit ihrer Aufgekratztheit unweigerlich etwas von der Manie einer unter Drogen und Over-Entertainment stehenden Partygesellschaft, hinter deren überlautem Ecstasy-Rausch zugleich der Abgrund von Depression und rasendem Stillstand gähnt. „Ash“ ist lustvoll, grell, agil, aber zugleich kaum auszuhalten, wie ein automatischer Spasmus, mit dem man mithalten muss. In eben dieser Ambivalenz – Classic Goes Pop – liegt die kulturdiagnostische Qualität des Stücks.

Uraufgeführt wurde Torkes „Ash“ 1989 vom St. Paul Chamber Orchestra unter Leitung von John Adams, der selber zwei auf Beethoven bezogene Stücke komponierte. Während Adams in seinem zweiten Streichquartett (2015) kleine Motivkerne, Kadenzwendungen und Harmonien aus Beethovens letzten beiden Klaviersonaten nutzt, verarbeitet er in „Absolute Jest“ für Streichquartett und Orchester (2011) Material aus den Scherzi von Beethovens Sinfonien und späten Streichquartetten. So wie dort die kontrapunktische Durchführung von Drei- und Viertonkonstellationen strukturelle Einheit in kombinatorischer Vielheit stiftet, unterzieht auch Adams das Material stets anderen Repetitionen, Instrumentationen und Dialogen zwischen Soloquartett und Tutti. Für eine besondere Schärfung des Klangs sorgen die elektronische Verstärkung des obligat konzertierenden Streichquartetts sowie Reibungen mit der mitteltönigen Stimmung von Harfe und Klavier. Das Ergebnis ist ein fast durchweg temporeicher, agiler, energetischer, teils bombastisch aufgedonnerter Minimalismus. Durchpulst wird „Absolute Jest“ im ersten Teil vom punktierten Sechsachtelrhythmus wie im Kopfsatz „Vivace“ von Beethovens siebter Sinfonie. Und wie im Scherzo der neunten Sinfonie tritt die Pauke solistisch gegen Streichquartett und Tutti versetzt mit diesem Daktylus hervor, während die Hörner an anderer Stelle den Rhythmus mit dem Oktavfall des Scherzos der Neunten verbinden.

Das Thema der „Großen Fuge“ bestimmt den Abschnitt „Moderato e tranquillo“. Durch hinzutretende Bläsertriller eskaliert das Zitat zum grell-makabren Totentanz, furios, wild und überdreht wie der Höllenritt von Beethovens Quartettsatz. Über weite Strecken omnipräsent ist die aus vier Achteln bestehende Auftaktfigur des „Vivace“ des F-Dur-Quartetts opus 135. Schon bei Beethoven wird dieses „Pattern“ im Trio-Teil von zweiter Geige, Bratsche und Cello gleichsam minimalistisch unablässig achtundvierzig Takte lang unisono ff als Osti­nato-Fundament repetiert und stufenweise sequenziert. Die erste Violine schwingt sich darüber mit Tonleitern bis in die dreigestrichene Oktave hinauf, wo sich ihre Melodie in extremen Sprüngen bis zu Doppeloktaven förmlich selbst zu zerreißen scheint. Oberstimme und Untersatz konfrontieren also extreme Verengung des Tonraums mit dessen ebenso extremer Erweiterung.

Die Trio-Passage aus Beethovens Scherzo erscheint als tonidentisches Zitat in Adams’ „Presto“-Abschnitt ab Takte 441 sowie erneut ab Takt 670 und 858. Das solistisch beginnende und durchweg ff spielende Streichquartett gerät dabei jedoch durch immer mehr hinzutretende Orchesterstimmen in Bedrängnis, bis es durch das große auskomponierte Orchester-Crescendo förmlich unter die Räder gerät. Adams greift Beethovens obsessiv beibehaltene Rhythmen und manisch kreisende fixe Melodien auf, um sie noch exzessiver rotieren zu lassen. Aufgrund desselben metrischen Grundmusters lassen sich die Scherzi aus Beethovens Sinfonien und Quartetten – so prägnant sie für sich genommen jeweils sind – nach Belieben auseinander entwickeln und miteinander verbinden. Für Beethovens Scherzi charakteristisch sind auch rhythmische Abweichungen und metrische Ambivalenzen wie Hemiolen, Synkopierungen, Überbindungen und Aufspaltungen größerer Perioden in immer kleinere Phrasen. Adams greift diese variativen Freiheiten auf, um sie zu wildem Zucken, Toben, Ticken und Stampfen zu steigern. Mit fünfundzwanzig Minuten Dauer tendiert sein 1081 Takte umfassender „Scherz“ oder „Witz“ jedoch zu überdrehtem Leerlauf, in dem sich die stärksten Momente den Beethoven-Zitaten verdanken, die jedoch keine neue Lesart erfahren.

Zu repetitivem Minimalismus tendiert auch Bernhard Lang. Seine „Monadologie XXXIV … loops for Ludvik“ für Klavier und Orchester (2018) komponierte er mittels Akkord- und Motivmaterial aus Beethovens drittem Klavierkonzert. Schon in den Nummern I und II seiner „Mona­do­logien“-Serie hatte Lang Motive aus Beethovens siebter Sinfonie beziehungsweise der „Hammerklaviersonate“ durch Computer-Algorithmen verarbeitet. Nun de- und rekomponiert er Bruchstücke aus Beethovens c-Moll-Konzert nach altbewährtem Verfahren. Außerdem überlagert er die tonale Motivik und Harmonik stellenweise zu mikrotonalen Texturen, indem ein Orchesterklavier einen Viertelton tiefer gestimmt ist. Jeder der drei Sätze basiert auf einem Element eines der drei Konzertsätze, das durch „Granulatoren“ und „zellulären Automaten“ wie eine „Stammzelle“ neue Gewebe ausbildet.16

Enno Poppes Violinkonzert „Schnur“ wurde vom Beet­hovenfest Bonn in Auftrag gegeben und 2019 von Carolin Widmann uraufgeführt. Das Stück bezieht sich auf die vielen Triller und thematischen Einsätze der Pauken in Beethovens Violinkonzert. Dieses eigenwillige D-Dur-Konzert beginnt markant mit fünf Paukenschlägen, die anschließend über Streicher, Hörner und Fagotte ins komplette Orchester und schließlich zur Sologeige wandern. Beethoven nimmt so eine faszinierende Umdeutung des Orchesterapparats vor, als würde er auf dem gesamten Instrumentarium Pauke spielen. Poppes Konzert beginnt dagegen direkt mit der Sologeige, die ein­zelne Töne sanft schwanken, trillern, vibrieren und glissandieren lässt. In die zunehmend belebte Partie schleichen sich dann kaum merklich die Stimmführer der Streicher und schließlich das restliche Orchester. Die anfangs mikrotonalen Vibrati, Triller und Glissandi werden im weiteren Verlauf augmentiert, beschleunigt sowie immer impulsiver, bis sie ganze Oktaven umfassen und in vir­tuose Schlingerpartien ausarten. Zugleich reduziert sich das Geschehen zwischenzeitlich immer wieder auf Duos von Sologeige und Schlagzeug, insbesondere Pauken. Als Beethoven-Zitat erscheinen ab Takt 135 fünf regelmäßige Paukenschläge, die das Soloinstrument mit nachschlagenden Sechzehntel-Ketten umspielt. Im letzten Abschnitt schrauben sich mehrere Energieschübe immer weiter in die Höhe, bis es nicht mehr weitergeht und die Sologeige ganz allein mit hauchdünnen Strichen und einem auskomponierten Triller d5-c5 direkt am Steg das pfeifende Ende von „Schnur“ erreicht: auf dem Boden von Beethovens Violinkonzert und zugleich einen Schritt daneben.

1Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (1940), in: Gesammelte Schriften, Band I, 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, 695.

2Ebenda, 701.

3Vergleiche Rainer Nonnenmann, Kommunizierende Röhren. Zum Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, in: 250 piano pieces for Beethoven, Band 4, herausgegeben von Susanne Kessel, London: Editions Musica Ferrum, 2018, 17.

4https://www.bthvn2020.de/ueber-bthvn2020/

5Hans-Joachim Hinrichsen, Ludwig van Beethoven: Musik für eine neue Zeit, Kassel/Berlin: Bärenreiter/Metzler, 2019, 317.

6Ebenda, 8.

7Ebenda, 9.

8Lydia Goehr, The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music, Oxford: Clarendon Press, 1992, 205 und folgende Seiten.

9 Dieter Schnebel/Hans Rudolf Zeller, Werkverzeichnis, in: Musik-Konzepte 16, edition text + kritik, 1980, 130.

10Dieter Schnebel, Einführungstext zu „Re-Visionen“, in: Begleittext zur Wergo-CD, Schott: Mainz, 1998, 2. .

11Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit (1935), Gesamtausgabe Band 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, 379.

12 Peter Gülke, Die Verjährung der Meisterwerke. Überlegun­gen zu einer Theorie der musikalischen Interpretation, in: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 1/1966, 10.

13In der Nachfolge von Dieter Schnebels „nostalgie. Solo für einen Dirigenten“ (1962) steht Hoffmanns Hör- und Sehstück „Metrische Variationen über Coriolan“ (2018).

14Vergleiche Jörn Peter Hiekel, „Jenseits von Pathos und Bana­­lität. Beethoven-Reflexe in der Neuen Musik“, in: Zwischen Bearbeitung und Recycling, herausgegeben von Dieter Torkewitz, Wien: Praesens, 2016, 67–80.

15Vergleiche Rainer Nonnenmann, „Winterreisen“ – Kompo­nierte Wege von und zu Franz Schuberts Liederzyklus aus zwei Jahrhunderten, Teil II: Neukompositionen, Wilhelms­haven: Heinrichshofen, 2006, 402 und folgende Seiten.

16 Bernhard Lang, Werkkommentar zu „Monadologie XXXIV“, auf http://members.chello.at/bernhard.lang/