MusikTexte 166 – August 2020, 80

Weltbelauscher, Materialprüfer

Matthias Kaul starb mit einundsiebzig Jahren

von Frank Hilberg

Es gibt Menschen, denen sieht man es an, dass sie etwas Besonderes sind. Matthias Kaul fiel augenscheinlich in diese Kategorie, denn er war schon vom Ansehen her sehr charakteristisch (und sicher keine Schönheit im landläufigen Sinn). Trat man ins Gespräch mit ihm – was außerordentlich leicht war, denn Dünkel und Distanz kannte er nicht –, so setzte sich der erste Eindruck sogleich fest, denn er sprach zwar nicht übermäßig viel, aber alles war von Originalität und Phantasie und bei gleichzeitig untergründigem Humor von einer staunenswerten, eleganten Eloquenz. Ich kann mich nicht erinnern, je eine Plattitüde von ihm gehört zu haben. Und einem so freundlichen Menschen begegnet man ohnehin nur selten. Das Vergnügen, mit ihm zu sprechen, denn das war es immer, hatte ich nicht sehr oft, vielleicht ein halbdutzendmal – doch ein weiteres wird es nun nicht mehr geben, denn er ist am 1. Juli gestorben. Woran, weiß ich nicht (und will es auch nicht wissen). Dass er seit Jahren unter Schmerzen arbeitete, war jedem klar, der über Empathie verfügt – von ihm gehört hat man nichts, keinen Seufzer, keine Klagen. Ritterlich würde ich es nennen, wenn das Wort nicht immer so verdreht gebraucht würde.

Jetzt, wieder über ihn nachdenkend, würde mich interessieren, wie er sich wohl selbst charakterisieren würde. Schlagzeuger, Performer, Komponist, Veranstalter? Bestimmt nicht – er hätte sicher eine eigene, eigens neugeschöpfte Definition gebraucht. Wenn ich mich recht erinnere, hat er sich einmal als „Multi-Mem­branist“ bezeichnet. Das ist von anschaulicher Doppelsinnigkeit, denn nicht nur hat er als Schlagzeuger Zeit seines Lebens Membranen aller Art beklöppelt (oder auch nur zart angeregt), vor allem aber hat er seine körpereigene Membran, sein Trommelfell, allen möglichen und unmöglichen schwingenden Gegenständen genähert: Er belauschte die Welt und kitzelte sie, bis sie zu klingen begann.

Unter seinen Händen wurde jeder Gegenstand zu einem Klangkörper. Wo wir Normalsterbliche etwa nur Flohmarktware erblickten, erkannte Kaul das geheime Leben der Dinge und ihr klang­liches Potential. „Klang-TÜV“ und „Musik aus Haushaltsauflösungen für einen Materialprüfer“, ein Doppelstück, das er bei den Wittener Tagen 2013 darbot, war da in mehrerer Hinsicht signifikant: Seinen weißen Transporter (fast ein Markenzeichen) hatte er in der Wittener Fußgängerzone geparkt und Geräte aller Art auf die Straße gepackt. Menschen kamen, gingen, kamen zurück und staunten über all die Klangsphären, die sich aus dem scheinbaren Gerümpel entfalteten. Jeder konnte ein beliebig Ding zu ihm bringen – und unser Mann vom Klang-TÜV examinierte es auf seine verborgenen, innewohnenden Klangeigenschaften. Gab es dann dem Besitzer zurück, der bereichert von dannen zog (und manch einer kam am nächsten Tag mit etwas noch Verstockterem wieder – mit dem Schalk in den Augen, ob Materialprüfer Kaul auch diesem etwas zu entlocken verstünde).

Selbstverständlich waren es Kinder, die zuerst, instinktiv, auf die Klangspielzeuge ansprangen. Überhaupt konnte man denken, dass er eine Art Rattenfänger von Hameln war (allerdings ohne das gruselige Ende), denn sie strömten magisch angezogen auf ihn zu und haben dann gemeinsam musiziert und experimentiert – einige der Ergebnisse dieser verschiedenen „Kinderkompositionsklassen“, die er gemeinsam mit seiner Frau, der Flötistin Astrid Schme­ling betrieb, sind dann auch als CD erschienen.

Matthias Kaul war kein Mensch der Ferne, der Distanz (wenn man von seinen Afrikareisen absieht). Immer dicht dran mit dem Ohr, am Gegenstand, oft mit zwischengeschalteten „Hörgeräten“, also Stethoskopen, Pappröhren, Spiralfedern oder was auch immer ein scheinbar vertrautes Geräusch im unerwartet merkwürdigen Gewand erscheinen lässt. Damit hat er seinen eigenen Weg der Musique concrète erschlossen, denn zwar erlaubte er sich Loops und Hall, Geschwindigkeitssprünge und andere Bearbeitungsformen von aufgenommenen Klängen, aber keine Synthetik, nichts elektronisch Erzeugtes – auch wenn das kaum zu glauben ist. „Listen and Taste“ zum Beispiel, eine „kulinarische Horchsituation“, die er 2009 als Imbissstand auf einem Parkplatz bei Witten aufbaute, erzeugte (am Ende) nicht nur verzehrbare Snacks, sondern eine Viefalt überraschender Klänge, die sich der geneigte Konsument, durch Horchapparate zugeführt, in den Ohren zergehen lassen konnte. Dass Kaul einmal gefundene Mittel in andere Zusammenhänge und Formen integriert hat, zeigt beispielsweise sein Hörstück „audible edibles“, das er für das Studio Akustische Kunst des WDR zum gleichen Thema anfertigte.

Es ist nun nicht der richtige Anlass und auch nicht der Platz, all die Facetten von Kauls Vita activa zu würdigen, aber ge­denke ich seiner, drängt sich doch diese Fülle der Erinnerungen hervor. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass er seine Jugend mit Rockmusik verbrach­te, dann klassisches Schlagzeug studierte und seitdem auch praktizierte (wie mehrere CDs eindrucksvoll belegen), dass er Gründungsmitglied der Ensem­bles Hinz & Kunst und L’art pour l’art war, und dass er in den vergangenen vier Jahren als künstlerischer Leiter das Festival „Musik 21 Niedersachsen“ prägte.

Aber doch noch ein letztes Beispiel, um sein multidimensionales Denken und auch seine durchaus schalkhafte Seite zu zeigen: Sein Hörstück „Fake Dimensions“ (2013). Nichts ist, was es scheint, wird aber auf faszinierende Weise wieder zu etwas Vertrautem: Der Applaus in einem Konzerthaus verwandelt sich unmerklich, durch Addition von Möwengeschrei, zu einer Meeresbrandung; das genussvolle Kaugeräusch von Kartoffelchips in ein Pferd, das durch Kies galoppiert; Schwei­ne­grunzen und Luftballonfiepen werden zu einem Freejazz-Saxophonsolo. Oder war es umgekehrt?

Mit Matthias Kaul haben wir nicht nur unseren Mann von Stiftung Warentest, Abteilung Klangeigenschaften verloren, sondern viel mehr noch einen Schöpfer faszinierend fremder Klangwelten. Gemacht aus Klängen, die immer schon um uns herum waren – wir hatten sie nur nicht bemerkt –, und die er dann zu seinen eigentümlichen, akustischen Erzählungen fügte. Hör, das Ferne liegt ganz nah … oder: Hör, das Nahe wird so fern? Kaulsche Doppelbödigkeit.