MusikTexte 166 – August 2020, 90–91

Ein Utopia voller Widersprüche

Walter Zimmermann im Gespräch mit Richard Toop

von Max Nyffeler

Diese zwischen 2002 und 2008 entstandenen Gespräche enthalten die Lebens- und Schaffensbilanz eines von unermüdlicher Neugier getriebenen Komponisten und Einzelgängers, der seinen Weg stets abseits der ausgetretenen Pfade des Zeitgeists gesucht hat. Zugleich bieten sie, über den autobiographischen Aspekt hinaus, einen spannenden Einblick in die um 1970 einsetzende Phase der Postmoderne. Erinnerung an das Zeitgeschehen und Reflexion zum eigenen Werk vereinigen sich zu einem informativen, manchmal auch überquellenden Erzählstrom, in verständnisfördernde Bahnen gelenkt durch Richard Toop. Der 2017 verstorbene australische Musikwissenschaftler und Stockhausen-Mitarbeiter, der wie Zimmermann in den frühen Siebzigerjahren in der Kölner Musikszene auftauchte, ist der ideale Gesprächspartner. So entspinnt sich ein lebhafter Dialog, in dem Toop gleichwertig mitdiskutieren und wenn nötig auch mal ergänzend eingreifen kann. Ebenso viel Glück hatte Zimmermann mit dem Herausgeber Walter-Wolfgang Sparrer, der nach Toops Tod die editorische Arbeit mit Umsicht zu Ende geführt hat. Von praktischem Nutzen sind die zahlreichen Fußnoten. Sie rücken das erzählte Detail in einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang und liefern ausführliche Hintergrundinformationen zu Personen und Ereignissen.

Das Faszinierende und zugleich produktiv Irritierende an diesen Gesprächen ist die Tatsache, dass die Beobachtungen aus einem dezidiert persönlichen Blickwinkel erfolgen, wodurch objektive Zeitdiagnose und subjektive Sicht zusammenfließen. Mit pointierten Meinungen über die Kollegen – Kolleginnen gab es damals noch kaum – hält Zimmermann nicht zurück, und die Tabus der institutio­nalisierten Avantgarde attackiert er erfrischend respektlos. Manches klingt nach Lästermaul, manches ist in seiner saloppen Art zutreffender als jede pseudoobjektive Analyse, etwa wenn er Adorno einen Großbürger mit „marxistischem Kittel“ nennt und maliziös daran erinnert, dass dieser noch 1934 eine Männerchor-Vertonung mit Texten von Baldur von Schirach lobte, der damals bereits Reichsjugendführer war. Zimmermanns Fazit: „So koscher ist der Mann auch nicht.“ Über das Kölner Neue-Musik-Establishment der Zeit um 1970 sagt er: „Palm überall, Kontarsky überall, Caskel überall“ und schreibt Kontarsky, bei dem er Unterricht nehmen wollte, eine zerstörerische Ausstrahlung zu – die Verletzlichkeit des damals Zwanzigjährigen bleibt gegenwärtig. Kagel und seiner „Kantri­miu­sik“ wirft er – an verschiedenen Stellen im Buch – gleich dreimal Zynismus vor; solche Wiederholungen hätten sich allerdings vermeiden lassen.

Zimmermann ist Künstler und kein Historiker, und wenn er frisch von der Leber weg redet, fallen manche Erinnerungen unscharf aus. Die missverständlichen Äußerungen über seinen Lehrer Werner Heider hat er deshalb nachträglich berichtigt (MT 165, 53), und zu einer vorwitzigen Bemerkung über Ferneyhough, die angeblich als Indiskretion gegen seinen Willen in die MusikTexte geriet und für dicke Luft zwischen den beiden sorgte, stellt sich beim Nachschlagen (MT 36, Seite 37) heraus, dass er sie nicht gerade mal auf einen Bierdeckel geschrieben, sondern als mit Ort, Datum und Namen versehene Antwort auf eine Umfrage an die Redaktion eingesandt hatte.

Auch wenn die eine oder andere Äußerung in der rhizomhaft wuchernden Erzählung nach szenetypischer Kolportage und Kantinengeplauder klingt: Wie Zimmermann die schwierige Suche nach einem gangbaren Weg im arbiträren Werte­system der Postmoderne beschreibt, verrät ein bemerkenswertes Maß an Selbstreflexion. Er erwähnt seine „Angst, irgendetwas ex nihilo zu komponieren“, und begründet seine Vorliebe für formalisierte Strukturen mit dem Misstrauen gegen „Selbstausdruck“ und Hypertrophie des Ich. Als entscheidend für die Herausbildung seines kompositorischen Bewusstseins erscheinen die Siebzigerjahre. Vom institutionell verhärteten Postserialismus hat er sich da schon abgelöst, obgleich in seinem Hang zur Systematisierung des kompositorischen Materials, auch in seinem pingelig durchnummerierten Werkverzeichnis, etwas davon nachwirkt. Ausführlich zur Sprache kommen die Begegnungen mit den führenden Köpfen der amerikanischen Avantgarde, die in seinem als Reprint wiederaufgelegten Interviewband „Desert Plants“ ihren Niederschlag gefunden haben, die Bekanntschaft mit der unaufgeregten Prosa von Peter Handke, mit der Lyrik Hölderlins und den Schriften der französischen Nouveaux Philosophes. Die Referenzdichte der Namen ist groß und kann sich im Eifer des Gesprächs noch steigern. Dann geht es im Schnellgalopp von der Musik der Pygmäen über Jacob Obrecht, Gamelan, Guillaume de Machaut und Alban Berg bis zu Noam Chomsky und den eigenen „Ländler Topographien“.

Die Spur dieser Schnelldenkerpraxis führt zurück in die Schulzeit des klassisch-humanistisch gebildeten, bücherver­schlin­­genden Bäckersohns aus der fränkischen Provinz, der in den späten Sechzi­ger­jah­ren aufbrach, die weite Welt zu erwandern. „Viel frug’ ich, forschte bei allen“: Wie Wag­ners umtriebiger Loge, der das In­te­r­essengeflecht der mythologischen Figuren mit dem Scharfblick eines Advokaten registriert, so hat auch Zimmermann die Biotope der neuen Musik weitläufig erforscht und weiß einiges über die entsprechenden Netzwerke und Stammesfehden zu berichten. Abgrenzungen hat er immer vermieden und sich mit Lust in avantgarde­fremde Gebiete begeben. In Amsterdam kam er mit dem damals noch jungen Fach Musikethnologie in Berührung, in Utrecht lernte er am Institut für Sonologie den vielseitigen Otto Ernst Laske kennen, der einen starken Einfluss auf ihn ausübte. Solche Einflüsse sog er wie ein Schwamm auf, die daraus hervorgegangenen Kompositionen bezeichnet er als „Filtrat“.

Über die geistige Auseinandersetzung mit dem Anderen hinaus zeigt sich bei Zimmermann eine Tendenz, seine künstlerischen Konzepte in die organisatorische Praxis umzusetzen. Initiativen wie das Beginner Studio oder das letztlich abgebrochene Projekt eines musiktherapeutischen Aktionszentrums „Im Stavenhof“ in Köln erwiesen sich als institutionelle Keimzellen mit nachhaltiger Ausstrahlung unter Gleichgesinnten; sie verstanden sich als randständig und oppositionell, dies aber nicht im Sinn einer „musica negativa“, sondern als konstruktive Alternative. Darin artikuliert sich ein grundsätzliches Ja zur Welt mit Meister Eckhart, Feldman und dem zen-buddhistischen Cage als ideellen Paten, das ihn auch auf Distanz zum nostalgischen Revoluzzertum der Nach-Achtundsechziger hält. Mit den „offiziellen“ Musikinstitu­tionen pflegte er eine durchaus symbiotische Beziehung; sie führten seine Werke auf, und umgekehrt wirkte er mit Ideen auf sie ein. So reklamiert er den Begriff „Neue Einfachheit“, der den Konzerten des WDR im Januar 1977 als Motto diente, für sich; er habe ihn, sagt er, dem damaligen Redakteur Wolfgang Becker-Carsten in einem Gespräch vorgeschlagen.

Mehrfach – und gerade auch in seiner Kritik an Kagels „Kantrimiusik“ – kommt Zimmermann auf die Begriffe „Landschaft“ und „Territorium“ zu sprechen. Sie sind für ihn kein Synonym für dumpfe Rückständigkeit, sondern positiv besetzt. Die Landschaft und das Wandern in ihr: Diese Vorstellung ist für ihn offensichtlich ein zentrales künstlerisches Konzept, wenn nicht ein Archetypus. Das prägt seit den späten Siebzigerjahren zahlreiche Werke, nicht nur die im Zyklus „Lokale Musik“ zusammengefassten. In „Sternwanderung“ (1982–1984), „Wüstenwanderung“ (1986) und im gescheiterten Musiktheater „Über die Dörfer“ (1986) nach Handke setzt sich diese Idee einer durch geistige Wanderung zu erschließenden Landschaft fort. Auch die Oper „Die Blinden“ nach Maeterlinck (1984) spielt auf einem solchen Territorium.

Zimmermanns Landschaften sind keine empirischen Größen, sondern geistige Konstrukte der komplizierteren Art und in ihrer musikalischen Erscheinung vielfach gebrochen. Ein Utopia voller Widersprüche, ein „Hinterland“, angesiedelt irgendwo zwischen fränkischer Heimat, fernen Kulturen und harschen Begriffen wie Deterritorialisierung (Deleuze) und Ephemeralization (Cage). Vielleicht ist es der Ort, nach dem Zimmermann auf seinen rastlosen Streifzügen durch die Länder und Kulturen immer gesucht hat.

Ursache und Vorwitz. Walter Zimmermann im Gespräch mit Richard Toop, herausgegeben von Walter-Wolfgang Sparrer, Hofheim: Wolke, 2019.