MusikTexte 166 – August 2020, 93

Beckmesser’s Choice

Ausgewählte Scheiben neuer Musik

von Max Nyffeler

Huldigung an Hildegard

Die CDs der Weimarer Cellistin Christina Meißner zeichnen sich durch eine originelle, oft thematisch gebundene Werkauswahl aus. 2008 standen Bach, Elliott Carter und Artur Schnabel neben Arrangements von mittelalterlichen Troubadourgesängen. Und auch ihre neueste, in einem Kirchenraum aufgenommene CD-Produktion blickt nun auf das zwölfte Jahrhundert zurück. Unter dem Titel „Ispariz“ („Geist“) vereinigt sie sechs Kompositionen, die sich alle in irgendeiner Weise auf Hildegard beziehen und mit Originalmelodien der komponierenden Heiligen abwechseln. Wobei das Wort „original“ mit Vorsicht zu genießen ist; die Wissenschaft ist geteilter Meinung über die Echtheit vieler ihr zugeschriebener Stücke. Aber sei’s drum. Wie die Cellistin mit diesen Vorlagen umgeht, verrät eine große Souveränität in der Gestaltung der Linie. Sie führt einen lebendigen Dialog mit dem Raum. Konzentriert horcht sie den Klängen nach, die sich schwebend, im ruhigen Rhythmus des Atems, im Raum ausbreiten. Eine meditative, entspannte Atmosphäre prägt auch die Interpretation der neuen Stücke. Sie stammen von Sofia Gubaidulina, Esaias Järnegard, Martin Rane Bauck, Joseph Andrew Lake und Lisa Streich. Letztere ist gleich mit zwei Werken vertreten. Sie und die Cellistin sind offensichtlich Geistesverwandte, denn die Stücke der drei Männer kamen auf Streichs Empfehlung in dieses Doppelalbum.

ISPARIZ – eine Vision, Christina Meißner, Violoncello, Altenburg: Querstand, 2020.

Lateinamerikanische Wunden

Der 2017 verstorbene Coriún Aharonián, Sohn armenischer Flüchtlinge in Uruguay, beschäftigte sich zeitlebens mit der Frage der kulturellen Identität Lateinamerikas, die aus dem Kontext der kulturellen und wirtschaftlichen Hegemonie des Nordens nicht herauszulösen ist. In diesem Spannungsfeld sind seine Kompositionen angesiedelt. Unter der Oberfläche europäischer Instrumentalfarben und minimalistischer Satzstrukturen rumoren die Geister der indigenen Volkskulturen und brechen immer wieder explosionsartig hervor. Etwas Lauerndes, ein unheilvoller Ton wohnt diesen repetitiven, mit kalter Präzision gesetzten Oberflächenstrukturen inne. Doch die starren Klänge können miteinander kollidieren, plötzlich schrille Signale das Hören aufschrecken. In den repetitiven Mustern machen sich Anklänge an Popularmusik bemerkbar, manchmal kantig zugespitzt, manchmal in freundlich-tonalem Tonfall. In „Los cadadíaz“ (Alltäglichkeiten) verhärtet sich das musikalische Geschehen zur maschinellen Tonrepetition, überlagert von den grotesken Einsprengseln eines geschabten Rhythmusinstruments offensichtlich indigener Herkunft. „Canción“ besteht aus einer Motivcollage von politischen Liedern, unverkennbar auch von Hanns Eisler – ein Echo von Aharoniáns Verbindungen zur deutschen Linken. Die kleiner besetzten Stücke wurden vom Freiburger Ensemble Aventure sorgfältig einstudiert, das von bruitistischen Schlägen dominierte Orchesterstück „Mestizo“, das die CD beschließt, vom SWR-Sinfonieorchester unter Zoltán Peskó.

Coriún Aharonián, Una carta, Ensemble Aventure, Mainz: Wergo, 2019.

Unerfüllbare Sehnsucht

„Farāghi“, die Abwesenheit einer geliebten Person oder Sache und die unerfüllbare Sehnsucht nach ihr sei ein verbreitetes Motiv in der Volkskultur, schreibt die iranische Komponistin Fozié Majd im Booklet zur CD, die zwei ihrer Kammermusikwerke für Streicher und zwei weitere des um eine Generation jüngeren Amir Mahyar Tafreshipour enthält. Mit Hinweis auf den mittelalterlichen Poeten Jalaluddin Rumi kommt sie auch auf die mystische Dimension dieser Empfindung zu sprechen. Die in Berlin geborene, in Frankreich, Großbritannien und im Iran vor der Machtergreifung der Mullahs ausgebildete Komponistin hat lange Volksmusikforschung betrieben, woraus sich wohl die charakteristische Kleinmotivik und die Mikrointervalle erklären lassen. Das Geige-Cello-Duo „Farāghi“ setzt das Sehnsuchtsempfinden in lang gehaltene, empfindsame Klänge und erregte Dialoge zweier dissonant ineinander verhakter Stimmen um. Das Streichquartett „Dreamland“ mit seinen expressiven, warm tim­brierten Klangschichtungen erzeugt eine schwebende Harmonik, in der Konsonanz und Dissonanz auf faszinierende Weise ineinanderfließen; die äußere Entwicklungslosigkeit wird durch Bewegung im Inneren ersetzt. Auch Tafreshipour, der unter anderem bei Christopher Fox in London studiert hat und sich in England auch als Opernkomponist einen Namen gemacht hat, öffnet mit seinen Klängen Innenräume, baut aber zugleich eine starke Spannung auf. Das Violinsolo „Pendar“ fesselt durch ein atemberaubend weites Ausdrucksspektrum, und die souveräne Gestaltung der Linie verrät eine intime Kenntnis der instrumentalen Möglichkeiten. Im Streichquartett „Broken Times“ wird die expressive Linienführung auf die vier Instrumente ausgeweitet und zeitlich wirkungsvoll gedehnt. Eine CD mit bemerkenswerten Zeugnissen einer Musik im Spannungsfeld zwischen nie ganz abgebrochenem Kontakt zur diktatorisch regierten Heimat und einem Leben in der Fremde.

In absentia – Music for Strings, Métier Records, 2019 (divineartrecords.com).

Fernperspektiven, mitteltönig

Eignen sich nichttemperierte Skalen, ob persisch oder europäisch, besonders gut zum Ausdruck von Gefühlen wie Sehnsucht? Die mit „Figuren der Sehnsucht“ betitelte CD des Akkordeonisten Hans Maier scheint dies zu bestätigen. Sein Instrument ist mitteltönig gestimmt. Diese im Frühbarock verbreitete Stimmung benutzt reine große Terzen, die „milder“ klingen als die zu großen des temperierten Systems, was dem Klang eine eigentümliche Weichheit verleiht. Nikolaus Brass hat für Maier zwei Stücke komponiert, die dieser nun zwischen Werke des frühen Orgelmeisters Girolamo Frescobaldi, seines Schülers Johann Jakob Froberger sowie von Bachs Zeitgenossen Domenico Zipoli eingebettet hat, was ein schön komponiertes Ganzes ergibt – im klanglichen Klima der mitteltönigen Stimmung rücken sich Alt und Neu erstaunlich nah. In den „Harmonies I–IV“, komponiert 2014 und 2018, ertastet Brass schrittweise die ungewohnte Klanglichkeit, erst mit sorgfältig ausgehörten akkordischen Strukturen, dann auch zunehmend im linearen Bereich bis hin zu virtuosen Spielfiguren. Im jüngsten Werk, den 2019 uraufgeführten „Figuren der Sehnsucht“, bewegt er sich ganz natürlich auf dem neuen harmonischen Terrain und lässt seiner Phantasie freien Lauf. Durch die sensible Art, wie er das Instrument zum Sprechen bringt, und durch die überraschenden Wechsel von Klangfarben und Harmonik artikuliert sich tatsächlich so etwas wie Sehnsucht nach einer unbekannten Ferne.

Figuren der Sehnsucht, Hans Maier, Akkordeon, München: Neos, 2020.