MusikTexte 166 – August 2020, 89

Perfektes „Social distancing“

Ein „Real Life Computer Game“ von Alexander Schubert im Internet

von Rainer Nonnenmann

Im Anfang war der Raum wüst und leer. Doch dann huschten „Avatare“ umher, sorgten für Licht, schleppten Objekte herbei, nahmen Instrumente, Maschinen, Plattenspieler und Fernseher in Betrieb. Etwas begann zu leuchten, zu tönen, sich zu bewegen. Wie die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte dauerte das Projekt „Genesis“ des Hamburger Komponisten Alexander Schubert volle sieben Schöpfungstage von Montag bis Sonntag jeweils vierundzwanzig Stunden nonstop. Es war die einzige Veranstaltung des fünften Internationalen Musikfests Hamburg, die Ende April trotz Corona unbeschadet über die Bühne gehen konnte, während sämtliche Konzerte in der Elbphilharmonie wie auch sonst überall wegen Kontaktbeschränkungen und Versammlungsverboten ausfallen mussten.

Via Internet konnten sich bis zu vier Spieler gleichzeitig in dieses „Real Life Computer Game“ einschalten. Durch die Virtual-Reality-Brille eines Mitglieds des Hamburger Ensembles Decoder sah dann jeder Spieler eine Stunde lang zu einer von ihm zuvor fest gebuchten Zeit auf dem heimischen Monitor ähnlich dem populären Computerspiel „Minecraft“ die Hände seiner „Spielfigur“ und den dahinter liegenden Raum des stillgelegten Kraftwerks Bille im Hamburger Osten. Mikrophon und VR-Brille der Spielfigur vermittelten, was jener andere dort sah und hörte, während man selbst bequem zu Hause saß. Aktiv „steuern“ konnte man sein Alter Ego über das eigene Computermikrophon mittels verbaler Anweisungen, wohin jener sich bewegen, wohin er sehen, was er machen solle. Die erste Erkundungstour führte zunächst an Plastikfolien vorbei, streifte Scheinwerfer und landete schließlich bei einem Setting mit E-Gitarre, Keyboard und Drums. Nun galt es: „Spiele einen Song auf der Gitarre, greife einen C-Dur-Akkord, schlage die Snare!“ Gesagt, getan, gesehen, gehört. Jeder Befehl veränderte ein bisschen Szene und Klangsituation. Desgleichen taten die „Avatare“ der anderen Spieler, die sich von woher auch immer in das Geschehen einschalteten.

Über eine Menüleiste konnte man aus hunderten Objekten einige Gegenstände für seine persönliche Spielfigur auswählen: Eine Harlekinmütze, ein altes Mikrophon, für das sich jedoch kein Anschluss fand, ein Schwingschleifer, der sich in Betrieb nehmen und surrend über den Boden führen ließ. Hier war ein Fernseher anzustellen, dort eine Schallplatte von Johnny Cash aufzulegen. Ein Balkendiagramm in der oberen rechten Ecke des heimischen Bildschirms informierte über den körperlichen Zustand der Spielfigur, über Durst, Hunger, Müdigkeit, Körpertemperatur. Mittels Twitter-artiger Kurznachrichten konnte sich auch die Figur selbst an den Spieler wenden, um elementare Rückmeldungen zu geben oder Nachfragen zu stellen: „Ja. Nein. Bitte genauere Ansage. Danke. Das geht nicht. Willst du das wirklich?“ Auf dem Weg durch den Raum schwenkten plötzlich Sektflaschen in den wackeligen Videoblick sowie weitere Avatare, deren Spieler sich dann spontan entschieden, ihre Figuren alle zusammen mit Sektgläsern anstoßen, trinken und tanzen zu lassen.

Die sprachbasierte Steuerung der live agierenden Figuren hatte etwas Spiele­risches und die Kombination aus Klängen, Aktionen und Szene etwas von Happening, Installation, Musik, Theater und Musiktheater. Doch trotz allem Aktionismus wirkte das Projekt defizitär. Alles ereignete sich zwar live, aber für das Spieler-Publikum ausschließlich verbal und telemedial vermittelt: in Zeiten von Corona das perfekte „Social distancing“. Man war eben nicht selbst vor Ort im Raum mit den Avataren, in denen man auch nicht wirklich drinsteckte. Hätte man sich tatsächlich im Körper des Anderen befunden, so hätte man einfach gehandelt statt bloß Handlungsanweisungen zu formulieren. Zwar wurde jedes Ein-Personen-Publikum zum Spielleiter des Geschehens in jenem Raum befördert, doch blieb man bei sich zu Hause de facto von der realen Spielfläche ausgeschlossen. Durch das krisselige Videobild der VR-Brille ließ sich die schummrige Situation samt aller Objekte und Geräte zudem gar nicht richtig überschauen, um zu ermessen, was man seinen „Avatar“ alles hätte machen lassen können. Der Anspruch, wie im biblischen ersten Buchs Mose „Genesis“ eine neue Welt zu kreieren, erwies sich unter solchen Umständen selbst für kreationistisch veranlagte Gamer als zu hoch gegriffen. Etwas aus nichts zu schaffen, bleibt bis auf Weiteres noch Göttern vorbehalten.

Gleichermaßen als Mangel wie Stärke erwies sich die Inhaltsleere von Schuberts „Real Life Computer Game“. Weder wurde eine Erzählung vorgegeben noch sonst eine erkennbare Idee, Thematik oder Problematik verhandelt. Augenscheinlich geschah immer nur das, was die Spieler ihren jeweiligen Akteuren vorgaben. Ob das Geschehen insgesamt durch Oberspielleiter Alexander Schubert vielleicht doch medial manipuliert wurde, ließ sich nicht überprüfen, da man als Mitspieler unterschiedslos alles bloß medial vermittelt erlebte. Die Aufmerksamkeit wurde so von der Spielfläche tendenziell auf die Spieler selbst zurückgelenkt. Dabei verband sich der Impuls zur Selbstbeobachtung mit dem Wissen, dass es sich bei der Spielfigur um einen Menschen handelte, in den man sich hineinversetzen und für den man genau überlegen musste, was zu tun oder zu lassen wäre, was man dem Anderen zumuten konnte und was nicht. Die Figur dieses speziellen Games hatte schließlich nicht wie sonst üblich beliebig viele Leben, sondern nur ein einziges. Hinter allem Medienzauber mit VR-Brillen, Mikrophonen, Lautsprechern, Bildschirmen, Tweets und Chats gab es irgendwo doch noch ein echtes „reales Leben“ jenseits von Games, Zooms, Meetings und Streamings. Dieses wurde durch die von der Corona-Pandemie forcierte Digitalisierungswelle allerdings in Quarantäne gesteckt.