MusikTexte 166 – August 2020, 92

Vom Fremden im Eigenen und vielerlei Wundmalen

Ein Bild- und Dokumentenband erinnert an Isang Yun

von Gerhard R. Koch

Helmut Lachenmann berichtete von einem Gespräch mit einem indischen Musiker, der die eurozentrische Tradition, namentlich Po­lyphonie, harmonische Expansion, dy­na­mische Großform, orches­trale Eloquenz, Vielfalt der Charaktere pries. Gleichwohl attestierte er dem „abendländischen“ Komponieren zwei Defizite: Rhythmik und Eigenleben des Einzeltons seien unterentwickelt. So dominierten Zweier- und Dreier-Metren (vulgo Marsch und Walzer); und unter dem Diktat der temperierten Stimmung habe die fixe Tonhöhe als Bau„stein“ komplexerer Strukturen zur Verarmung der Lineatur geführt. Derlei Polarisierungen sind natürlich keineswegs eins zu eins zu verstehen. Und gerade Lachenmanns Ästhetik lässt sich zuallerletzt mit dem Ideal des „runden“ Klangs verbinden.

Aber ein wenig als „Pfahl im Fleische“ philharmonischer Selbstgefälligkeit hatte der Einwand schon sein produktiv Irritierendes. Zumal die deutsche Musikgeschichtsschreibung quasi vertikal rückläufig operierte: Von Mark Andre zu Rihm, Lachenmann, Stockhausen, Schönberg-Schule, Wagner, Schumann, Beethoven, Mozart ausgehend, landete man zwangsläufig beim „Urvater“ Bach. Die französische Perspektive indes war eher horizontal. Über spanische Einflüsse kam das maurische Element hinzu, der Orient, später Ostasien – Exotismen aller Art, doch nicht nur das. In Paris wirkte nicht zuletzt Olivier Messiaen als Katalysator außereuropäischer Musik. Und in Deutschland war es vor allem der Messiaen-Schüler Stockhausen, der globale Einflüsse integrierte. Auch im Œuvre Kagels stößt man auf „Exotica“ unterschiedlicher Herkunft.

Aber wenn es einen in Deutschland lebenden Musiker gab, der Ostasiatisches mehrfach verkörperte, dann war dies der koreanische Komponist Isang Yun. Nicht nur hat er mit einem gänzlich anderen Bild von Kultur und musikalischem Idiom vertraut gemacht, sondern stand auch exemplarisch für die katastrophischen Auswirkungen der Politik auf das Leben eines bedeutenden Künstlers.

An der Südspitze Koreas, in Tongyong geboren, kam er über Paris nach Westberlin und überraschte mit einem hauptsächlich instrumentalen Komponieren, das durch reiche, „Pinselstrichen“ gleichenden Tonauffächerungen, durch Glissandi, Ornamente und Vibrationen den stabilen Ton frappierend in Frage stellte. Authentisch koreanische Instrumente hat Yun hierbei kaum benutzt, vielmehr deren Spezifika auf den Apparat der West-Avantgarde übertragen. Insofern hätte einer „Karriere“ in den Neue-Musik-Zen­tren nichts im Wege gestanden. Doch die Politik holte ihn aufs Brutalste ein. Als koreanischem Patrioten war ihm zwar an einer möglichen Wiedervereinigung von Nord- und Südkorea gelegen, aber ein militanter Aktivist war er nicht. Trotzdem waren gelegentliche Kontakte mit Pyöngyang für die Süd-Junta Anlass genug, ihn in einer spektakulären Entführung von Berlin nach Seoul zu verschleppen, ihn zum Tode zu verurteilen, dann zu lebenslanger, schließlich auf zehn Jahre begrenzter Haft. Nur aufgrund heftiger Proteste konnte er freikommen.

Derzeit ist der Blick eher auf Nordkorea, seinen Diktator und dessen Clinch mit Donald Trump gerichtet. Die Grausamkeiten des Süd-Regimes, vor allem das Massaker von Kwangju (1980), werden darüber gern verdrängt. Bei Gesprächen in Seoul ließ sich immerhin feststellen, dass die Innigkeit des Wunsches nach Wiedervereinigung begrenzt ist: Die deutsche Lösung wird zwar bewundert; doch den armen nördlichen Bruder will man nicht unbedingt alimentieren.

An der Figur, dem „Fall“ Isang Yun, lässt sich vielerlei exemplifizieren: ästhetisch, mentalitätsmäßig und politisch. Insofern kommt der Prachtband „Leben und Werk im Bild“ genau richtig. Ist er doch Monographie und aufwendige Dokumentation in einem. Walter-Wolfgang Sparrer ist ein vielseitig interessierter und informierter Isang-Yun-Kenner, der durchaus heterogene Materialien zusammengetragen hat: Biographisches, Kulturgeschichtliches, Kompositionstechnisches, Texte von und über Yun, Faksimiles Partiturausschnitte, Fotos verschiedenster Art. Und nicht zuletzt seinerzeit tagesaktuelle Zeitungskommentare zur Entführung.

Manche Details, auch Statements, sind nicht unbekannt. Überraschend hingegen, dass die Isang-Yun-Rezeption auch in Pyöngyang, gemeinhin als hyperspätstalinistische Betonkopf-Kapitale charakterisiert, gefördert wird. In den fünf Kapiteln des Bands erfährt man vielerlei komplex Spannendes, keineswegs nur über Musik. Um einen immanent ästhetischen Diskurs geht es weniger. Und Quergänge zu anderen Künstlern und Konzepten, kulturell multiplen Prozessen hätten womöglich zu erklären geholfen, warum es um Yun ein wenig still geworden ist. Aber das gilt für Kagel oder Berio auch. Umso wichtiger wäre es, epochalen Werken Yuns, etwa „Reak“ für Orchester, häufiger zu begegnen.

Auf jeden Fall ist der Band höchst in­struktiv, als Komponistenporträt wie als kulturhistorisch-politisches Zeitpanorama.

Isang Yun. Leben und Werk im Bild, herausgegeben von Walter-Wolfgang Sparrer, Hofheim: Wolke, 2020.