MusikTexte 167 – November 2020, 3–4

Das Unkulturwort 2020: „Systemrelevanz“

von Rainer Nonnenmann

Priorität in Krisenzeiten haben Ernährung, Obdach, Gesundheit, Rettung, Ordnung, Müllabfuhr, Information und Verkehr. Die Grundversorgung der Bevölkerung ist zu garantieren. Als nächstes aufrechterhalten werden Finanz-, Handels- und Börsensektor sowie die Rohstoffversorgung und Lieferketten der international vernetzten Wirtschaft. Bildung, Kunst und Kultur im Allgemeinen und Musik im Besonderen gehören dagegen nicht zur „kritischen Infrastruktur“, die es unter allen Umständen zu erhalten gilt. Die im Zuge der Corona-Pandemie verordneten Hygiene- und Abstandsregeln machten mit einem Schlag einen ganzen Berufszweig arbeitslos. Tausende Karrieren, Lebensentwürfe, Selbstverständnisse, Existenzen stehen in Frage. Konzert- und Opernhäuser, Orchester, Ensembles, Chöre, Clubs, Theater, Verlage, Agenturen wurden geschlossen oder in Kurzarbeit und Homeoffices geschickt. Viele der Leidtragenden wurden mit Stipendien versorgt oder erhalten Grundsicherung. Ebenso groß wie die ökonomischen Verluste und Pleiten ist der künstlerische Schaden. Die ministerialen Erlasse, Krisenstäbe und öffentlichen Debatten der letzten Monate haben in schonungsloser Unverblümtheit gezeigt: Für das System sind Kulturschaffende schlichtweg „irrelevant“.

Die Kulturwelt reagierte entsetzt – und behauptete trotzig: „Auch wir sind systemrelevant!“ Denn Kunst und Musik gelten als wichtiger sozialer Kitt für die Gesellschaft, weil sie emotionalen Ausgleich schaffen inmitten der rationalisierten, durchgetakteten, normierten, verwalteten Lebens- und Arbeitswelt. Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, betonte zur Eröffnung des Musikfests Berlin 2020: „Kunst und Musik sind unverzichtbare Seelennahrung und überlebensnotwendig für unsere Demokratie.“ Im Interview mit der „neuen musikzeitung“ (Oktober) erklärte Friedrich-Koh Dolge, stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes der Musikschulen: „Wir sind sogar mehr als systemrelevant! Wir sind eine der Quellen des humanistischen Menschenbildes.“ Und Axel Brüggemann schrieb im Newsletter „Crescendo-KlassikWoche“ am 21. September: „Es muss bei allem Handeln darum gehen, Musik wieder in die Mitte unserer Gesellschaft zu stellen, als identifikatorische Selbstverständlichkeit und als ihre prägende Kunstform.“

Die Panik der Betroffenen war verständlich – und verhalf ihnen immerhin zu millionenschwerer Unterstützung. Aber sind sie wirklich Sozialarbeiter und Seelenmasseure? Ist Musik ein sozialer Hygieneartikel, ähnlich Desinfektionsmitteln und dem zeitweise überängstlich ge­horteten Klopapier? Dient sie tatsächlich der Bildung schö­­ner Seelen à la Goethes „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“? Muss sie unbedingt eine „identifikatorische Selbstverständlichkeit“ sein und ausgerechnet in der „Mitte unserer Gesellschaft“ stehen, wo sich ohnehin schon alle tummeln, weil man dort den größten Konsens erzielt, das meiste Publikum erreicht, die besten Umsätze und Profite generiert? Ist es wirklich sinnvoll, in Bezug auf Kunst von „Umweg-Rentabilität“, „Kultur- und Kreativwirtschaft“ zu sprechen und stolz auf einen Jahresumsatz von rund siebzehn Milliarden Euro zu verweisen, um sich in eine Reihe mit anderen erhaltens- und unterstützenswerten Industrie- und Wirtschaftszweigen zu stellen? Bleiben von der Kultur dann unterm Strich nur ihre kommerziellen Teile, sprich die „Kulturindustrie“?

Bereits vor Corona reklamierten Komponisten immer nachdrücklicher „Relevanz“ für sich und ihre Arbeit, weil sie sich mit aktuellen Zeitfragen auseinandersetzen, den „Finger in die Wunden der Gesellschaft“ legen, der „Pfahl im Fleische des Lügen- und Verblödungszusammenhangs“ sind … Das bedeutungsschwangere Modewort kam in aller Munde, auch bei Veranstaltern, Journalistinnen, Publikum, Funktionären. Dem Bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger geht das noch gewichtigere „systemrelevant“ inzwischen so leicht von den Lippen, dass er damit auch schon Almbauern, Schausteller, Marktleute, Wirtshäuser, Traditionshandwerk und vieles andere belegt. Und da sollten ausgerechnet Kunst und Kultur nicht „systemrelevant“ sein, wo sie doch auch so „viel Lebensfreude produzieren“?

Wer im Internet nach „Relevanz“ sucht, findet unter diesem Stichwort nicht etwa bedeutende Themen und Diskurse von Belang. Stattdessen stößt man zum Beispiel auf „Die Relevanzmacher“. Die Firma wirbt damit, bestimmte Webseiten, Contents, Domain- oder Blognamen bei Suchmaschinen und Social Media möglichst weit oben auf den Trefferlisten von Google, Facebook und Konsorten zu plazieren. Man nennt das „Relevanz steigern“, auf Neudenglisch „Search Engine Optimization“ (SEO). Dabei ist völlig egal, um welchen „Content“ es sich handelt. Die Kunden dieser Dienstleistung sind Unternehmen, Marketingabteilungen, Influencer, Soloselbständige und andere Ich-AGs. „Relevanz“ wird dabei in Schaubildern definiert als die Schnittmenge zwischen den Eigeninteressen (Produkt, Image, Werbung, Verkauf) und den Interessen möglichst vieler anderer (Käufer, Streamer, User, Follower). Es geht um Business, „Importanz“, Reklame, Reichweiten, Zielgruppen, Konsum, Profit.

Das Adjektiv „relevant“ stammt vom lateinischen relevare: in die Höhe heben. Das passt zu den Marktschreiern, steigenden Börsenkursen, optimierten Popularitätsraten, maximalisierten Renditen: immer mehr, immer höher, immer „relevanter“. Doch was um Himmels Willen haben Kunst und Musik mit dieser kapitalistischen Ideologie zu tun?

Schon in seinem Statement „Neue Musik und gesellschaftliche Relevanz“ von 2006 entlarvte Nikolaus Brass: „Die alles entscheidende gesellschaftliche Relevanz, die eine Relevanz, die heute zählt, ist die Kapitalrendite.“ Der jetzige Aufschrei „Auch Musik ist systemrelevant!“ giert nach Zuwendung und lässt sich in die handfeste Forderung übersetzen: „Gebt auch uns Geld!“ Beides ist verständlich und legitim. Wo die Wirtschaft mit hunderten Milliarden gestützt wird, soll auch etwas für Kunst und Kultur abfallen. Doch zugleich hat das Prädikat „systemrelevant“ etwas von einer Bankrotterklärung. Schließlich waren „notleidende Banken“ 2008 mit dieser Begründung vor dem Bankrott gerettet worden. Wer „Systemrelevanz“ beansprucht, ist offenbar auch Teil des Problems eines Systems. Daher Vorsicht: Widersprüche klaffen auf!

Als 2002 der damalige Bundesinnenminister Otto Schily erklärte, „Wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit“, kam das bei Interessenverbänden und Betroffenen gut an, widersprach aber gleichzeitig der prekären finanziellen Situation vieler Musikschulen und der bis heute unveränderten arbeitsrechtlichen Unsicherheit der meisten Instrumentalpädagogen. Und die „7. Heidelberg Music Conference DIGITAL 2020“ fragt nun: „Was jetzt? Auf der Suche nach der Relevanz von morgen“, während völlig unklar ist, was denn die „Relevanz von heute“ wäre angesichts der Tatsache, dass Kunst und Kultur in gesellschaftlichen Debatten schon jetzt kaum noch vorkommen. Selbst die größten Stars des Klassikbetriebs werden jenseits ihrer Bühnenrolle in der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen, weil sie für die „Leitmedien“ – sofern es diese überhaupt noch gibt – unwichtig geworden sind, und wenn doch, haben sie über bloß egozentrische Belanglosigkeiten hinaus meist wenig zu sagen. Und nun erklären sich einige von ihnen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt für „systemrelevant“, an dem ihnen das System ihre Irrelevanz schlagend vor Augen und Ohren führt. Fehlt es hier an kritischem Abgleich zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung?

Ein paar Nachfragen sind nötig: Geht „Systemrelevanz“ auf Kosten der Freiheit von Kunst und Musik, die letztlich – trotz aller zeitweiligen Funktionalisierungen – deren wesentliche Zweck- und Systemlosigkeit bedingt? Schließen sich „Systemrelevanz“ und „Systemkritik“ nicht gegenseitig aus? Dienen Kunst und Musik eher der Verklärung des Systems oder der Aufklärung? Wirken sie eher sedativ oder korrektiv? Will man lebenswichtiges Körperteil im gesellschaftlichen Organismus sein oder lieber wie ein Stethoskop von außen zur Diagnose von dessen Herz und Niere beitragen? Sind „systemrelevante“ Künstler brave Systemstützer oder sehen sie sich eher als „Systemsprenger“, von denen 2019 der gleichnamige ­Kinofilm der Regisseurin Nora Fingscheidt erzählte?

Das Gerede von „Relevanz“ und gar „Systemrelevanz“ ist Symptom eben derjenigen Krankheit, deren Heilung man sich mit diesen billigen Begriffspillen für Kunst und Musik verspricht. Die Worte sind verlockend, modisch und leicht zu haben, schlimmer noch – sie wirken magisch und vernebelnd. Wie Gebets- oder Zauberformeln beschwören sie herbei, was gerade nicht ist, aber sein soll. Es ist das berühmte Pfeifen im Walde, das die um Kunst und Musik anwachsende Stille immer unüberhörbarer macht. Die reale oder auch nur empfundene Marginalisierung – zumal neuer Musik – erhöht den Rechtfertigungsdruck auf deren Akteure, die sich dann schon halb kapitulierend der digital-kapitalistischen „Suchmaschinenoptimierungs-Relevanz“ beugen.

Die Versicherung „Musik ist systemrelevant!“ wirkt gerade deshalb so verunsichernd, weil sie die Angst vor dem schon länger schleichenden Bedeutungsverlust entlarvt. Corona legt dies nur offen. Müssten Fragen nach „Mehrwert“, „Engagement“, „Aussage“, „Haltung“ oder „Re­levanz“ nicht offensiver mit der Unabhängigkeit, Eigenheit, Rätselhaftigkeit, Menschlichkeit und Sinnlichkeit von Musik beantwortet werden? Kann Musik nicht gerade dadurch, dass sie frei von „Systemrelevanzen“ ist, eine in- und extensive ästhetische Welt- und Selbstwahrnehmung ermöglichen, die dann umso mehr etwas mit Leben, Welt und Gesellschaft zu tun hat? Wandelt nicht alle Kunst auf dem schmalen Grat zwischen Verstörung und Versöhnung, zwischen Kritik am System und dem Umstand, selbst Teil des kapitalistischen Systems zu sein und von diesem noch früh genug als „systemrelevant“ vereinnahmt zu werden? Doch obwohl in der Nische der neuen Musik nichts und niemand auch nur ansatzweise die Popularitätswerte von Popstars zu erreichen vermag, macht man sich hier das Reichweiten- und Profitdenken der Business- und Marketingwelt zu eigen. Warum bloß starrt man gebannt auf Quantitäten statt Qualitäten? Als der Stern von Rundfunk und Fernsehen sank, drangen die Verantwortlichen auf Einschaltquoten. Heute geht es nicht minder um Rankings, Klickzahlen, Links, Likes, Follower.

Aus blanker Not wurden während des Lockdowns Audio- und Videomitschnitte im Internet präsentiert und Konzerte in menschenleeren Sälen gespielt, um Musik wenigstens per Internet zugänglich zu machen. Theoretisch konnte man damit ein weltweites Publikum erreichen, persönlich vor Ort jedoch niemanden. Und ungewollt beschleunigten jene tausende von Streams die Entwertung der Musik. Bereits vor Corona zeigten Statistiken, dass in jeder Minute rund vierhundert Stunden Musik und Videos ins Internet hochgeladen werden, täglich rund 576.000 Stunden! Damit wächst die Datenmenge unablässig 24.000 Mal schneller als nonstop verkraftbar ist. In Zeiten der globalen Seuche werden nochmals einige tausend Stunden Musik draufgeschippt. Doch kommt es darauf an? Verschluckt das Internet nicht letztlich alles wie ein schalltoter, resonanzloser Raum? Weil dort alles Getöse und Geflimmer gleich gültig erscheint, wird es dort nicht auch gleichgültig, kosten- und wertlos – eben irrelevant?