MusikTexte 167 – November 2020, 93–94

„Hört noch besser!“

Hochschuldidaktisches zu einer neuen Aufführungspraxis

von Carl Bergstrøm-Nielsen

Was charakterisiert die Aufführungspraxis neuer Musik? Arnold Schönberg paraphrasierend könnte eine denkbare Antwort lauten: „Das Repertoire klingt anders, man spielt aber nach den Noten wie vorher.“ Schönberg hatte nämlich über die Zwölftonkomposition gesagt: „Man folgt der Reihe, komponiert aber im übrigen wie vorher.“

Das stimmt indes nicht ganz – man spielt nicht einfach los wie vorher. Schon der Begriff „Werktreue“ erhält eine neue Dimension, weil Stützen für die Interpretation wie Stilkenntnis und das Vorhandensein früherer Realisationen weitgehend wegfallen. Die geistige Arbeit des Sich-Hineinversetzens erfordert ein gründ­licheres Studium des Werks und seines Kontexts sowie eine selbständigere Leistung der Phantasie. Aber noch entscheidender ist, dass substantiell andere Praktiken hinzukommen: nicht nur erweiterte Instrumentaltechniken, sondern auch Arrangement, Auswahl, Ausarbeiten – und Improvisation.

Die hier besprochenen Publikationen stammen alle aus dem Bereich der Hochschuldidaktik und vermitteln Überlegungen, Methoden und Materialien zu neuen Praktiken. Die erste befasst sich mit Werkinterpretation, die anderen behandeln die didaktische Vermittlung freier Improvisation. Lehrer mit nur begrenzter Erfahrung bekommen kompetente methodische Stützen, und wer bereits engagiert ist, hat Chancen, beflügelt zu werden.

Offene Form

Bei traditioneller Notation kann man direkt aus den Noten eine oft recht genaue Vorstellung davon bekommen, wie es klingen soll, selbst bei schwierigen Stücken. Das Einüben dauert kürzere oder längere Zeit, der Weg zum Ziel ist aber grundsätzlich transparent. Bei „Open Form“-Musik ist diese Transparenz nicht vorhanden, was für den Musiker entweder beängstigend oder inspirierend sein kann. Man muss selber mit dem Material interagieren – sozusagen ins Laboratorium gehen –, um das Werk kennenzulernen. Wobei es, wie Else Olsen Storesund betont, zwar um ein freies Mitwirken geht, keineswegs aber um einen willkürlichen Vorwand für jedwedes Agieren, sondern man soll sich gegenüber der Identität des Werks so treu wie möglich verhalten. Worin aber besteht diese Identität?

Hauptsächlich auf indeterminierter Musik aus dem angelsächsischen Raum basierend, präsentiert die Autorin ein Modell in vier Schritten: Partitur analysieren – Ideenbank erstellen – Ideen ausprobieren und Ausführung trainieren – Ausführung. Zu jedem Hauptschritt werden viele Fragen diskutiert, zum Beispiel: „Was erfahren wir über die Aufgaben des Musikers und die Verantwortung, die übernommen werden muss?“ Weiter: „Enthält die Partitur Aufführungsanweisungen? Wenn ja: Was erfährt man da?“ Und, sehr praxisnah: „Sind die Anweisungen klar und logisch, oder muss man sie individuell interpretieren? Gibt es Dinge, die in den Anweisungen nicht erwähnt sind?“

Wer keine Erfahrung mit dem Repertoire besitzt, wird so zur eigenständigen Analyse aufgefordert, Problemstellungen werden sichtbar, die kreative Reflexion und Entscheidungen erforderlich machen. Im zweiten Schritt wird gefragt: „Was für Möglichkeiten und Begrenzungen ergeben sich aus der Partitur für die Realisierung?“ Vielleicht auch: „Soll ich für diese spezifische Aufführung bestimmte Möglichkeiten und Begrenzungen festlegen?“ Auf diesem Hintergrund kann man sich relevante Übungen zurechtlegen. Der Fokus bewegt sich langsam in Richtung auf die Aufführung, zum Beispiel: „Wird Aufmerksamkeit vom Publikum hier in ungewöhnlicher Weise beansprucht?“ Und, sehr wichtig: „Interaktion – wie die Musiker sich zueinander verhalten.“

Es folgt eine Anthologie von neun „Showcase studies“ mit vollständig wiedergegebenen Stücken. In ihrer extremen Unterschiedlichkeit zeigen sie praktische Anwendungen des Modells: von einer kleinen Zeichnung ohne weitere Erklärung von Cornelius Cardew über das mit einem kurzen Text notierte Stück „Horse Sings from Cloud“ von Pauline Oliveros bis hin zu komplexen Werken wie „December 52“ von Earle Brown und „Edges“ von Christian Wolff. Ebenso vertreten sind Stücke der Autorin und von Bjørn Thomas Melhus.

Zum Schluss werden allgemeine Themen wie Werktreue und Werk­identität erörtert – und, welche Musiker können das Stück spielen? Notation wurde schon am Anfang klassifiziert, wenn auch rudimentär. Immerhin gibt es innerhalb des Modells genügend Anregungen, auch diesen Aspekt als Teil des Ganzen zu untersuchen.

Die Modell-Checkliste kann gut verallgemeinert werden, zum Beispiel zu den Text- und „Plus-Minus“-Stücken von Stockhausen. So ist das nur im Internet verfügbare Buch direkt in der Hochschuldidaktik einsetzbar.

Vermittlung freier Improvisation

Dieses Buch ist aus der Luzerner Musikhochschule hervorgegangen, die in Zusammenarbeit mit der Schwesterorganisation in Basel sowohl Bachelor- wie Masterausbildungen mit Schwerpunkt freie Improvisation anbietet. Nach einer Einleitung gliedert sich das Kompendium in die Hauptteile „Vermittlungsarbeit“ (allgemeine Themen), „Interaktionsaspekte“, „Musikalische Aspekte“ und „Reflexions­aspekte“.

Unter Vermittlungsarbeit diskutieren die Verfasser Lernziele, „Freiheit und ethische Metaphern“ sowie Kriterien für Vermittlungskompetenz. Ästhetik scheint mit den Studenten häufig thematisiert worden zu sein – nicht selten gelangt man zur Grundfrage: „Was ist Musik?“ Als Qualitätskriterium einer Improvisation wird vorgeschlagen, zu betrachten, inwieweit Authentizität, Originalität und Handwerk zusammenwirken – und zwar im Gleichgewicht miteinander. Vor dem Hintergrund praktischer Erfahrung zeigen die Autoren sowohl Merkmale für jede der drei Kategorien als auch mögliche Fallgruben auf.

Als allgemeines Arbeitsprinzip gilt „Spielen – Hören – Diskutieren – Spielen“. Für das Übungsmaterial spielen „Ansagen“ eine dominierende Rolle. Das sind kurze Aufforderungen, Impulse wie zum Beispiel: „Hört auf den Raum!“ Oder: „Versucht die Tendenz eines musikalischen Prozesses zu erkennen und den weiteren Verlauf zu antizipieren!“ „Spielregeln“ sind etwas ausführlicher und kommen sparsamer vor, „Konzepte“ (zum Beispiel von Mathias Spahlinger oder Christian Wolff) werden als Möglichkeit genannt, aber die Autoren warnen eher davor, weil sie – wie Komposi­tionen – zielgerichtet sind und so möglicherweise „irreführend“ für den Improvisationsunterricht.

Nach den Prinzipien und Grundwerkzeugen gelangen wir in den praktischen Unterricht: Wie gestaltet man die erste Stunde? In dem für dieses Buch typischen Ton didaktischer Erfahrung heißt es: „So kann diese erste Improvisation manchmal mit einer Frische überraschen, manchmal aber auch recht orientierungslos geraten.“ Eine Improvisation soll keineswegs gleich vom Lehrer kommentiert werden, sondern kollektiv reflektiert: „Alle sollen etwas zum Gespräch beitragen, sonst wird nachgefragt: Wie war‘s? Was ist passiert? Beschreibt rein musikalisch! Wer erinnert sich an den Anfang? Was kam danach? Was meint ihr dazu? Sind die anderen einer ähnlichen Ansicht?“ Wer ganz Anfänger ist, erinnert sich oft an den Anfang als „harzig“, doch „es führt kein Weg um die erste Erfahrung herum“, obwohl kurz danach schon Spielregeln und Konzepte den Weg möglicherweise erleichtern können. Diese typische Erfahrung habe ich selber mit Studenten über gut dreißig Jahre lang an der Universität Aalborg gemacht, kann aber hinzufügen, dass es auch typisch ist, sich einige Tage nachher etwa so zu äußern: „Am dritten Tag fing ich an, einen Sinn darin zu erblicken.“

Fast enzyklopädisch, knapp hundert Seiten füllend, sind die umfangreichen Sammlungen kommentierter Übungsmaterialien, primär als Ansagen, in den folgenden Kapiteln „Interaktionsaspekte“ und „Musikalische Aspekte“. Innovative Übungen zielen auf Nervenpunkte wie „Erkennen des Materials“, „Erkennen des strategischen Verhaltens der anderen“, „Orientierung: Erinnerung, Erwartung“, „Orientierung in der Gruppe“ und heterogenes/homogenes Agieren. Unter den „Musikalischen Aspekten“ stehen parametrische Übungen im Vordergrund – unter anderem Materialdichte und das Ton-Geräusch-Kon­tinuum. Es ist gewiss keine Übertreibung, dass „der gestalterische Fo­kus“ sich nicht nur gegen Tonhöhen und Motive richten muss, der Ausblick in andere Parameter dagegen „ein weites Gestaltungsfeld“ eröffnet. Im Forschungsbericht (siehe unten) wird bemerkt, dass sich das interaktive Potential dadurch steigert (Seite 32). Unter „Form“ findet man zum Beispiel das Thema „Schlussbildung“ mit drei Seiten Übungen – ein mitunter übersehenes Problem –, unter Stil auch „Umgang mit Idiomen“ und „Stilistische Offenheit“.

Das letzte Kapitel, „Reflexionsaspekte“, befasst sich mit Leitlinien für Diskussionen. Ziel soll die musikalische Qualität sein, „gute Musik“. Individuelle Befindlichkeiten können mitunter stark zum Ausdruck kommen. Man sollte sie nicht ausklammern, aber der Fokus soll auf die gemeinsame Musik wie man darin Probleme lösen kann, gelenkt werden

Natürlich werden die Studenten auch fürs Konzert trainiert. Eine der möglichen bündigen Ansagen hierfür lautet: „Hört gut! Im Falle einer Unsicherheit oder Nervosität: Hört noch besser!“

Forschungsbericht

Diese Arbeit zur Vermittlung freier Improvisation ist ein Vorläufer zum Kompendium, ohne die vielen Übungen, aber mit Überlegungen zur Didaktik. Ergänzend zum Kompendium kommen sechs Dozenten-Berichte darüber hinzu, wie sie die erste Stunde gestalten. Eine im Vergleich zum Kompendium klitzekleine Liste von sechsundzwanzig Ansagen ist auch vorhanden und ebenfalls online abrufbar.

1Zitiert nach Jan Maegaard, „Schönberg hat Adorno nie leiden können“, in: Melos, September-Oktober 1974, 263.

Else Olsen Storesund, Open Form – An
Expanded Performer’s Role. A Handbook. PhD, Bergen University (Norwegen), 2015, https://www.researchcatalogue.net/view/147680/160205

Urban Mäder, Thomas Meyer, Marc Unternährer, Vermittlung freier Improvisation. Ein Kompendium, Hofheim: Wolke, 2019.

Urban Mäder, Christoph Baumann, Thomas Meyer, Freie Improvisation – Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung. Forschungsbericht der Hochschule Luzern – Musik 5, 2013, https://zenodo.org/record/31339/files/2013_5_Maeder-Baumann-Meyer.pdf/