MusikTexte 168 – Februar 2021, 55–61

Schatten von „richtiger“ Musik?

Heinz Holligers „Atembogen“ für Orchester (1974/1975)

von Michael Kunkel

„Schatten von ‚richtiger‘ Musik“:1 Mit dieser Formulierung charakterisiert Heinz Holliger sein Orchesterstück mit dem Titel „Atembogen“. Damit ist zunächst ein relativ einfacher Sachverhalt benannt: Zu einem gewissen Teil besteht diese Orchestermusik nämlich nicht aus Originalmaterial, sondern aus anderer, schon existierender Musik. Doch jene Musik erscheint nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt, sondern als „Schatten“, also irgendwie nicht ganz vollwertig. Zudem wird jene Musik, wenn auch in Anführungszeichen, als „richtige Musik“ bezeichnet. Es gibt also offenbar ein Verständnis verschiedener Formen von Musik: Jener „richtigen“ Musik – wobei die Anführungszeichen darauf hinweisen, das damit vielleicht irgendetwas nicht ganz stimmen mag (ist sie wirklich die „richtige“ Musik?) –, und dieser Musik, die nunmehr aus „Schatten“ besteht. Warum diese Unterscheidung? Warum nicht einfach „Musik“?

Die Notwendigkeit verschiedener „Musiken“ gibt es historisch vor allem dann, wenn sich eine „neue Musik“ von einer „alten Musik“ abheben möchte; wie in einem bekannten Zitat von Heinz-Klaus Metzger:

Heute ist nur solche Musik, die keine Musik mehr ist, noch Musik, während Musik, die noch Musik ist, keine Musik mehr ist.2

Dies lässt sich als Aufruf verstehen, irgendwie „übliche“ Musik aus bestimmten Gründen konsequent zu negieren. In ihrer aporetischen Zuspitzung zelebriert sich Metzgers paradoxe Redefigur freilich selber und hat als eine Art Koan der Neuen Musik eine gewisse Karriere gemacht. Wie kann man sich eine Musik, die keine Musik mehr ist, vorstellen? Bringen Holligers „Schatten“ die Möglichkeit, solche Musik zu machen? Das sind meine Leitfragen zur Diskussion von „Atembogen“. Vorher werfe ich einen kurzen Blick auf Holligers Situation um 1970, Metzgers „Heute“, anhand von zwei Beispielen: Dem zweiten Satz „Adagio“ aus Alessandro Marcellos Oboenkonzert in d-Moll (1717), das Holliger damals häufig spielte, und Holligers Komposition „Cardiophonie“ für einen Bläser und drei Magnetophone (1971), die er zu dieser Zeit ebenfalls gerne aufführte. Man könnte sich jeweils fragen: Ist es Musik, die keine Musik mehr ist? Oder ist es Musik, die noch Musik ist (und ergo keine Musik mehr ist)?

Alessandro Marcello, Oboenkonzert, zweiter Satz, Anfang
Heinz Holliger,„Cardiophonie“, Ausschnitt
© Schott Music International, Mainz

Natürlich scheinen Marcellos „Adagio“ und Holligers „Cardiophonie“ wenig vereinbar. Das „Adagio“ ist kompatibel mit einer bestimmten Art von Mainstream-Klassik (obwohl es Barock ist), Holligers Spiel ist auf diversen Kompilationen veröffentlicht und nicht selten auf sogenannten Klassiksendern zu hören. In „Cardiophonie“ wird einiges unternommen, um den schönen Schein der Klassikfassade zu stören in einer Aktion, in der die Körperfunktionen des Spielenden, sonst sittsam verdeckt, monströs übergrößert sind: Herzschlag und Atem des Spielers werden technisch reproduziert und solange vervielfacht, bis er auf der Bühne zusammenbricht.3

Heinz Holliger während einer Performance von „Cardiophonie“
Muziči Biennale Zagreb 1971

„Die Musik zerstört sich selbst unter meinen Händen“, schreibt Holliger am 7. Mai 1970 in einem Brief an Nelly Sachs,4 während er als gefeierter Klassikstar weltweit tourt und auch entsprechend vermarktet wird. In Skizzen zu Stücken wie „Cardiophonie“ sind manchmal Notate zu Solokadenzen für barocke Oboenkonzerte zu finden. Einerseits Liebling des Mainstream-Musikbetriebs – auf einem Plattencover auch mal als „König der Oboe“ tituliert –, andererseits eine Art Neue-Musik-Punk: Wie passt das zusammen? Zunächst ist die Koexistenz dieser beiden Rollen (bis heute) ohne weiteres möglich, da die Marktsegmente Klassik und Neue Musik weitgehend entkoppelt sind. Zwar bemüht Holliger sich immer wieder, Verbindungen herzustellen, seine „Schokoladenseite“ mit seiner anderen, ungefälligeren Identität zusammenzubringen. Das ist nicht ganz ohne Konfliktpotential: Holliger erzählte einmal, dass er spüre, wie Leute, die ihm als Interpret zujubelten, ihn im nächsten Moment, nämlich wenn seine eigenen Kompositionen erklingen, am liebsten erdolchen würden.5

Allerdings scheint dieser „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“-Effekt nicht intendiert. Denn für Holliger gibt es die Auffassung einer Trennung der Musiksphären offenbar nicht. Gerade angesichts des kommerziellen Verschleißes eines bestimmten Repertoires der sogenannten Klassik sieht er eine Herausforderung genau darin, die historischen Werke gegen ihre oberflächliche Beliebtheit zu verteidigen, ihren möglicherweise unbequemen Gehalt wieder freizusetzen. Dieses Verhalten entspricht dem aufklärerisch-missionarischen Auftrag der Neuen Musik. Die Idiosynkrasie bezieht sich offenbar nicht auf die musikalische Substanz, sondern eher auf bestimmte Rezeptionsformen. 1975 erklärte Holliger:

I can’t see any difference between modern or classical music. And I think both are a language, a material of communication between composer or performer and audience. I don’t think that this aspect of communication is destroyed in modern music. I think the most important point is that most of the audience, who refuses modern music, refuses to accept the message which modern music wants to give them. They try to live in a safe world and won’t be disturbed by very ‘negative’ messages, but which are the aspect of our time, of our problems.6

Die „message“ der Neuen Musik richtet sich damit offenbar gegen den „schönen Schein“, die „heile Welt“ der Klassikindustrie, oder, mit Heinz-Klaus Metzger, gleich gegen das Bestehende, die herrschenden Verhältnisse schlechthin:

Offenbar ist das Ungenügen an den derzeit zur Verfügung stehenden oder unter den gegenwärtigen Bedingungen produzierbaren Klängen, die wohl fürs Bestehende überhaupt und für den Dienst an ihm stehen, der Grund der Allergie, die das fortgeschrittene kompositorische Bewußtsein gegen real Erklingendes entwickelt. Der Klang ist ipso facto so konterrevolutionär geworden wie die Realität selbst, der er zugehört: wie die herrschenden Verhältnisse, die sich gegen die Möglichkeit ihrer Veränderung, somit gegen ihre eigene Potentialität verhärten. Das verweist Musik, die nicht politisch finster sein will, gegenwärtig nach Utopia.7


Auf(takt) nach Utopia?

Heinz Holliger, „Atembogen“, Anfang
© Schott Music International, Mainz

„Atembogen“ ist ein interessantes Beispiel für eine Musik quasi mit Allergie gegen real Erklingendes, nach Utopia verweisend. In diesen Kontext ist das Konzept der „Schatten-Musik“ zu verorten, das auch als Abschluss oder Konsequenz der „Punk-Phase“ gelten kann:

„Atembogen“ schrieb ich nach einer äußerst zerstörerischen Phase meiner Musik, in der Stücke wie „Cardiophonie“ und „Kreis“ entstanden waren. Hier hole ich Musik wieder quasi aus dem Nichts heraus, es sind Schatten von „richtiger“ Musik.8

Entsprechend steht am Anfang des Werks (siehe Notenbeispiel rechts) als klangliches „Nichts“ die stumme Aktion eines viersekündigen Auftakts, der in der Partitur minutiös mitgeteilt wird: Die Geste des Dirigenten wie auch das „lautlose Einatmen“ der Bläser und der „langsame Aufstrich“ ohne Saitenberührung seitens der Streicher sind explizit ausnotiert. Solches vorab „gemeinsame Atmen“ könnte als selbstverständlicher Teil der gepflegten Orchesterpraxis gelten. Fast ein Markenzeichen von Holliger-Stücken ist der auskomponierte, enorm klangvolle, expressive Auftakt,9 der nun wie in eine Stille getaucht scheint.

Trotzdem ist diese lautlose Geste optisch nach wie vor präsent und kann eventuell als Versprechen einer großen orchestralen Klanggeste verstanden werden – ein Tuttiklang erscheint dann zwar auch, aber laut Partitur nur „auf einem Atem/Bogenstrich so langsam und leise wie möglich, legatissimo. Sehr weich einsetzen. Schattenhafter, brüchiger Klang, dicht an der Hörbarkeitsgrenze.“ Was am Beginn dieser Musik passiert, ist das Aushauchen eines äußerst schwach, mit sehr wenig Energie artikulierten Klangkomplexes, wobei der „letzte Atem stossweise, zitternd herausgepresst“ wird („wie in Atemnot“), bis das Ende des Atems tatsächlich, also physisch erreicht ist und die Musik gleich am Anfang wieder stehenbleibt.

Für ein großes Orchesterwerk ist ein solcher Beginn natürlich eine gewisse Hypothek. Dieser Auftakt ist offenbar eine Inversion der extrovertierten Stücke à la „Cardiophonie“, die immer mehr Kraft sammeln, um in der maximalen energetischen Verausgabung zu enden. Die Erschöpfung nach diesen Stücken ist der „Atembogen“-Figur zu Beginn deutlich anzumerken. Das Schattenhafte ist als Charakter sozusagen empirisch geerdet, da gerade die Bläser gegen Atem-Ende kaum mehr als Klangreste hervorbringen können. Zudem haben wir es hier mit Klangresten von Musik zu tun, die es schon gibt. Der Beginn zu „Atembogen“ ist der Klangschatten eines älteren Holliger-Stücks, „Dona nobis pa­cem“ für gemischten Chor a cappella von 1968/69.

Heinz Holliger, „Dona nobis pacem“, Seite 1 und 11
© Schott Music International, Mainz
Am Anfang wird darin die titelgebende Fürbitte zwölfstimmig herausgeschrien. Gewiss spiegelt sich in dieser fast sarkastischen ­Figur die Protesthaltung der Endsechziger. Holligers „protestierende“ Sänger werden allerdings bald mundtot gemacht: Der extrem weite Klang- und Vokalraum verengt sich rasch, bis sich die Münder auf dem Laut „m“ ganz verschließen und nur noch einen Ton, ein vierteltönig erhöhtes eingestrichenes c, leise intonieren. Diese Verstummungsfigur kommt am Beginn von „Atembogen“ gleich mehrfach wieder: Einmal als Schatten eines Zitats insofern, als der einstmals starke Beginn in viel geringerer Intensität wiedergegeben wird; zudem wird der Vokalambitus von „Dona nobis pacem“ in „Atembogen“ beibehalten, so dass die imposanten Möglichkeiten orchestralen Beginnens nicht ausgeschöpft werden, sondern durch die Beschränkungen des menschlichen Stimm­umfangs gefiltert erschei­nen;10 und so avanciert das auskomponierte Verschließen der Münder von „Dona nobis pacem“ zum ästhetischen Imperativ einer Musik, in der es wesentlich um das Verhindern von „richtiger“ Musik geht. In „Atembogen“ wird von Beginn an klar, dass es nicht allein um den musikalischen Charakter eines irgendwie „Schattenhaften“ geht; Musikmachen bedeutet nunmehr, vorhandene „star­­ke“ musikalische Texte abzuschwächen, zu dämpfen, in gewisser Weise zu zensieren – wobei, so meine These, gerade dieses Zensurverfahren den verwendeten Texten bereits innewohnt, wodurch sich die para­doxe Situation ergibt, dass die Texte gerade in ihrer Auslöschung eigentlich „richtig“ zum Sprechen gebracht werden. Vielleicht könnte man sagen: Dadurch, dass bestimmte existierende Musiken in „Atembogen“ zu Klangschatten werden, kommen jene eigentlich erst „richtig“ zu sich selbst. Hinzukommt, dass das „Atem­bogen“-Orchester auch eine Art Schattenorchester ist: Die „staren“ Orchesterstimmen wie Schlagzeug,11 Trompeten, Posaunen und Tuba sind ausgespart, und mit den Oboen hat Holliger sich gewissermaßen auch selber wegrationalisiert. Diese Maßnahme wie jene einer numerischen Gleichverteilung der Streicher – es gibt jeweils sechs erste und zweite Geigen, Bratschen, Violoncelli und Kontrabässe – sorgen per se schon für eine gewisse Begünstigung von schattenhaften Klängen.

D(h)ommages

„Atembogen“ steckt voller Selbstzitate, oder Selbstzensuren. Werke, die vorkommen, sind „Der Magische Tänzer“ (1963/65), „Siebengesang“ (1966/67), „Dona nobis pacem“, „Pneuma“ (1970), „Cardiophonie“, „Lied“ (1971) – Holligers Frühwerk wird bis zum Umschlagpunkt des Streichquartetts (1973), in dem erstmals nach den explosiven Stücken der „Cardiophonie“-Zeit eine Art Umkehrschub einsetzt, rekapituliert. Die Bezugnahmen sind, dem dissoziativen Imperativ dieser Musik entsprechend, naturgemäß selten wörtlich. Es ist aufschlussreich, die Abweichungen en détail zu studieren. So endet die Engführung des Beginns von „Atembogen“ anders als in „Dona nobis pacem“ nicht im mikrotonal alterierten c 1, sondern im Klang a-h-c 1-d 1-es 1-e 1.

Diese Töne sind bekannt: Sie sind aus den Buchstaben des Namens Sacher abgeleitet und erscheinen in zahllosen, vom Basler Mäzen impulsierten Musiken, liegen ihnen mithin als Strukturformel zugrunde. Es-A-C-H-E-D: Das ist geradezu ein Güte­sie­gel für erfolg­reiches musi­ka­lisches Schaf­fen, unlösbar verbunden mit Henze, Britten, Boulez und vielen anderen über­mächtigen Namen aus dem Olymp der neueren Musikgeschichte. Was hat es zu bedeuten, dass die Musik gerade ausgerechnet auf diesen großen Tönen gleich zu Anfang verröchelt?

Auch „Atembogen“ geht auf einen Sacher-Auftrag zurück, ist entsprechend „Maja und Paul Sacher gewidmet“. Freundlicherweise hat Holliger viele Bezugnahmen auf eigene und fremde Musik, auch auf diese Sacher-Töne, in einem annotierten Exemplar der Partitur markiert, so dass es dem Betrachter möglich ist, diese leicht nachzuvollziehen.12 Die Formel Es-A-C-H-E-D ist sozusagen der Inbegriff des musikgeschichtlich „starken Texts“ oder der „richtigen“ Musik. Diese Eigenschaft wird in „Atembogen“ freilich nur teilweise bestätigt, so etwa ab Takt 38 in einem freien Primkanon der Bläser, der auf den bekannten Tonhöhen Ligetis Erfolgsstück „Lontano“ (1967) evoziert (wobei auch hier Störaktionen eingeschaltet sind). Diese Stelle ist ein in „Atembogen“ seltenes Beispiel dafür, dass den Sacher-Tönen die Funktion harmonischer Artikulation zukommen kann, dass sich mit ihrer Hilfe ein Klangbild aufbauen und fast stabilisieren lässt.

Heinz Holliger, „Atembogen“, Skizze
Archiv der Paul Sacher Stiftung, Basel

Auch in den Skizzen ist zu sehen, dass die sechs Buchstaben technisch offenbar ganz nach den Tugenden der erfolgreichen Neuen Musik behandelt werden; sie sind der Gegenstand von Permutationen, Kalkulationen und Transformationen, die an die glorreichen Zeiten der Neuen Musik erinnern; auch in der Partitur ist das Sacher-Mal scheinbar omnipräsent (durch seine potentielle Allintervallik hat es ohnedies etwas Absolutistisches: Mit etwas gutem Willen können sehr viele Intervallfolgen irgendwie auf diese Formel bezogen werden). Doch angesichts der zumal performativen Dissoziationspraxis dieser Musik – all dem Verebben, Röcheln, dem tonlosen Spiel, oder auch den wenigen Entladungen – dringt diese Arbeit natürlich nicht immer „richtig“ durch. Die triumphale Formel erleidet eine gewisse Versehrung.

Was geschieht Sacher hier? Beißt Holliger in die großzügig spendable Hand, die auch ihn füttert? Eine These lautet: Im Akt der Dissoziation werden die dissoziierten Texte zur Sprache gebracht. Ist das auch in Bezug auf Sacher der Fall? Zitiert oder zensiert werden drei besonders bekannte Auftragswerke: Béla Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“, Arthur Honeggers zweite Sinfonie und Igor Strawinskys „A Sermon, a Narrative and a Prayer“. Der Beginn des zweiten Satzes „Adagio mesto“ von Honeggers zweiter Sinfonie wird in Takt 65–66 von zwei Bassklarinetten und einer Kontrabassklarinette ziemlich akkurat zitiert, nur ohne Mundstück und mit „Trompetenansatz auf ‚Birne‘“, dazu spielen fünf Flöten einatmend mit „etwas Speichelgeräusch“.

Arthur Honegger, zweite Sinfonie, zweiter Satz
Heinz Holliger, „Atembogen“
© Schott Music International, Mainz

Selbstverständlich ließe sich diese Zitierweise als respektlose Verballhornung wertvollen Kulturguts auffassen. Kann man das auskomponierte quasi reale Seufzen der Bläser aber nicht auch als eine Art kreatürliche Rückübersetzung jener bekannten Figur wahrnehmen, die als „Sospirando“ in Honeggers zweiter Sinfonie Anwendung findet? Denn diese Figur imitiert ja in Tonhöhen das Körpergeräusch einer emotionalen Entäußerung, so dass diese im Kontext eines „richtigen“ Tonsatzes handhabbar wird. „Schatten“ und „richtige“ Musik wären dann in ihrem Affektgehalt verbunden. Etwas Ähnliches geschieht mit Strawinskys Musik: Wieder praktizieren ab Takt 154 die Flöten im permanenten Einatmen eine Art Dauerschluchzen (als dessen Ursprung in der annotierten Partitur Holligers „Lied“ für Flöte von 1971 ausgewiesen ist), während in den Hörnern Bruchstücke aus Strawinskys „Prayer“ kontrapunktisch neu zusammengesetzt sind – Gegenstand dieses Gebets ist der nahende Märtyrertod des heiligen Stephanus.

Überhaupt sind die Trauer und das Klagen zentrale Affekte in einer Musik, die zu nicht unbeträchtlichem Teil aus Klangsterben besteht. Wie Holligers „Pneuma“, „Tonscherben“ (1985), „Ostinato funebre“ (1991) oder „(S)irató“ (1992/93) ist auch „Atembogen“ eine instru-
mentale Trauermusik.13

In Bezug auf Honegger und Strawinsky wird das verwendete Textmaterial jedenfalls nicht eigentlich negiert, sondern in neuer Form realisiert, quasi in Körperklänge „rückübersetzt“. Auch hier gibt es autobiographische Bezugspunkte: In seiner Kindheit waren Honeggers Werke für Holliger der Inbegriff für „moderne“ Musik,14 als Solo-Oboist der Basler Orchestergesellschaft war er zudem 1962 bei der Uraufführung von Strawinskys „A Sermon, a Narrative and a Prayer“ unter Sachers Leitung beteiligt.15 Mitnichten handelt es sich also um neutrales Textmate­rial. Das trifft natürlich besonders auf Bartóks „Musik“ zu: Gerade die Errungenschaft einer kohärenten „Bogenform“, die trotzdem eine Vielzahl von unterschiedlichen Charakteren zulässt, ist nicht nur maß- und titelgebend für „Atembogen“, sondern allgemein ein zentrales Leitkonzept für Holligers Musikdenken. Der Anfang der berühmten Fächerfuge ist besonders tief in der Stille versunken: Erst wenn die Coda des Stücks verklungen ist, beginnt der Dirigent das Taktschema ihrer ersten vier Takte zu schlagen, als eines der stillsten Zitate der Musikgeschichte.16

Béla Bartók, „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“
Heinz Holliger, „Atembogen“, Schluss
© Schott Music International, Mainz

Aus Sachers Förderpraxis resultiert ein Kernrepertoire zumal der klassizistischen Moderne. Ähnlich wie bei sonstiger Klassik gibt es auch hier die Tendenz, die konsumable Oberfläche solchen Repertoires abzuschöpfen, wobei gerade dem Siegel Sacher eine wichtige marketingtechnische Funktion zukommt. So werden etwa in der Konzertreihe „Sachers musikalische Wunderkammer“ des Sinfonieorchesters Basel Werke der musikalischen Moderne, die auf Aufträge von Sacher zurückgehen, als exzentrische Raritäten feilgeboten. Was dem Massengeschmack als eigentlich ungenießbar erachtet wird, soll durch seine Verortung im Gruselkabinett des Musikbetriebs mundgerecht gemacht werden. Die Strategie von „Atembogen“ ist eine andere: Im Akt der Dissoziation wird scheinbar bekannte Musik neu zur Sprache gebracht, neue Annäherung und Auseinandersetzung dadurch ermöglicht. Nicht ganz auszuschließen freilich ist, dass dereinst auch „Atembogen“ als verschrobene Trouvaille auf dem Spielplan serviert wird.

„Das Schwinden ist ihr Leben“: Atemwende

Im Hintergrund von „Atembogen“ sind nicht nur Musiken. Einen wichtigen Kontext stellen auch literarische Texte dar. „Das Schwinden ist ihr Leben“:17 Robert Walser meint in diesem bekannten Satz das Schwinden der musikalischen Töne. Obschon Walser erst später explizit ins Zentrum von Holligers Musik rückt, ist dessen melancholische Liebeserklärung an die Musik in „Atembogen“ bereits perfekt umgesetzt. Samuel Becketts zwanzigsekündiges Play „Breath“ (1969) – es besteht wesentlich aus einem Einatmen und einem Ausatmen – bezeichnet Holliger als „das längste je von Menschen geschaffene Bühnenwerk“,18 die Beckett-Atemzüge dabei als Lebensbegrenzungssignale interpretierend. Auch dieses Konzept ist in „Atembogen“ wiederzufinden. Bald nach dem Orchesterwerk entstehen dann auch Holligers Beckett-Musiken „Come and Go“ (1976/77) und „Not I“ (1978/80).

Die ästhetische Nähe von „Atembogen“ zu Holligers Lieblingsautoren Walser und Beckett ist gewiss plausibel. Gibt es auch handfestere Hinweise? Das Skizzenstudium verrät, dass der Titel „Atembogen“ erst relativ spät ins Spiel kommt.19 Der Arbeitstitel lautete offenbar über längere Zeit „Spuren“. Weitere Titelideen waren „Zensur“, „Klang­ränder“, „Randklänge“, „Auslöschung“, „Fernklang“, „Filter“, „Gegenklang“, „Endung“, „Schattengrenze“ und „Klanggitter“. Manche dieser Titel können fast als Paraphrasen auf die Lyrik eines Autors gelesen werden, der für Holliger besonders wichtig ist: Paul Celan. Zumal „Klanggitter“ rekurriert deutlich auf den Gedichtzyklus „Sprach­gitter“ von 1959. Und auch von Celans „Atemwende“ (1967) zu Holligers „Atembogen“ ist es kein allzu weiter Weg. Was hat diese Nähe zu Celan zu bedeuten?

Laut Clytus Gottwald habe Holliger von Celan gelernt, dass Dichtung oder Musik nicht nur Konstruktion sei, sondern Zerstörung und Umwertung von bestehenden diskursiven Zusammenhängen der Sprache.20 Holligers einzige direkte Celan-Musik „Psalm“ (1971) bezeichnet Gottwald als „Lobgesang mit durchschnittener Kehle“.21 Celans Text wird in dieser Komposition für gemischten Chor a cappella, das Verfahren von „Atembogen“ antizipierend, kraft drastischer Dissoziation seines Lautmate­rials realisiert. Phänomenologisch markiert „Atembogen“ in Holligers Schaffen eine „Atemwende“: Auf die brutal veräußerlichten Gesten folgt die übermäßige Verinner­lichung und Überdämpfung.

Doch für Celan heißt „Atem“ auch „Richtung und Schicksal“.22 Celans Forderung nach einer „Atemwende“ zielt auf ein Gedicht, das unter dem „Neigungswinkel seines Daseins […] spricht“23 und in dem „alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen“, und zwar: unter dem „Akut des Heutigen“.24 Celans „aktualisierte Sprache“ führe zur starken „Neigung zum Verstummen“,25 die das heutige Gedicht erfasst habe. Wäre das mit der „message“ der Neuen Musik zusammenzubringen, wonach der Klang selber „konterrevolu­tionär“ geworden sei „wie die Realität selbst“? Was laut Metzger die Musik insgesamt nach „Utopia“ verwiese? Die Tendenz zum Verstummen hatte – „schicksalhaft“? – in den Siebzigerjahren beileibe nicht nur Holligers Musik erfasst: Neben Beckett und Hölderlin wurde insbesondere Celan zur Leitfigur einer Neuen Musik, die sich im Schwinden artikuliert und dabei gerade nicht als eskapistisch versteht.26

„Atembogen“-Performer

„Schwinden“, „Verstummung“, „Neigung“, „Dissozia­tion“, „Dämpfung“, „Schatten“, „Auslöschung“, „Zensur“ und so weiter: Die Begriffe, die ich bisher verwende, um „Atembogen“ zu beschreiben, sind eigentlich negativ konnotiert. Spätestens seit der Beckett/Hölderlin/Celan-Welle der Siebzigerjahre haben sie Hochkonjunktur. Man hat sich daran gewöhnt, dass sie in der Neuen Musik etwas moralisch Positives bedeuten sollen. Entsprechend verbittert war Heinz-Klaus Metzger, als er am Ende seines Lebens „Negativitätsverlust“ im zeitgenössischen Musikschaffen beklagte.27 Denn die Negativität soll einen auch ästhetischen Zuwachs bringen. Und vielleicht ist wirklich erstaunlich, welcher Klangreichtum dem Nicht-mehr-Klingen-Können in „Atembogen“ abgewonnen wird.

Die „Schönheit“ oder der „Klangreichtum“ von „Atembogen“ entsteht nicht von allein, sondern braucht Ausführende, „Performer“ – und zwar umso mehr, als die Partitur nicht allein das Klangresultat chiffriert oder wiedergibt, sondern eher als Aktionspartitur die zu seiner Hervorbringung notwendigen Handlungen beschreibt. Sehr oft handelt „Atembogen“ dabei selber vom performativen Hervorbringen, wie in den folgenden Beispielen kurz angedeutet sein soll:

Eine der seltsamsten Stellen der Partitur ist, wenn sich in Takt 96 zwei Celli selbstständig machen, um „ohne Dirigent“ „agitato “ völlig unabhängig vom übrigen Geschehen ein Duo zu vollführen. Abgesehen vom obligaten pianissimo possibile wirkt dieses Duo im Kontext des Werks ungewohnt gesund und voller Spielfreude. Ein Blick in die Skizzen belegt, dass es sich offenbar auch um eine Art „Schreibperformance“ handelt: Dieses Cello-Duo ist in rhapsodischem Schwung unter die bereits erwähnten Tonhöhenableitungen aus dem Namen Sacher (a-h-c1-d 1-es 1-e 1) notiert. Es mündet in das Zitat der kleinen Cello-Solokadenz aus dem vierten Satz von Bartóks „Musik“, übertönt („zensiert“?) von gleichzeitigen hyperaktiven Bläser-Aktionen (vor allem der Hörner).

Heinz Holliger, „Atembogen“
© Schott Music International, Mainz

Ansonsten vollzieht sich in „Atembogen“ nicht unbedingt eine Emanzipation der Orchestermusiker. Im Gegenteil: Über weite Strecken werden die Instrumentengruppen fast registerartig und als Klangmassen geführt, um etwas zu erzeugen, das Holliger „Monotimbrie“28 nennt; diese dient zum einen dazu, einheitliche Klangmassen zu kombinieren und dadurch klangliche Misch­wesen zu erzeugen; zum anderen kann der Dirigent auf dem Orchester spielen, fast wie auf einem Instrument: die Uraufführung von „Atembogen“ durch das Basler Kammerorchester am 6. Juni 1975 fand mit Holliger am Pult statt und kann als Vorgeschmack auf seine Dirigentenkarriere angesehen werden, die er ab 1976 durch Zuspruch von Sacher startete. Fast durchweg ist es vor allem eine Aktionspartitur für den frischgebackenen Dirigenten: Die Solo-Performances am Anfang und am Schluss wurden schon erwähnt; um die vielfach gebrochene Bogenform zu realisieren, sind die Orchestermusiker permanent in besonderem Maße auf die Gestik des Dirigenten angewiesen: Dieser setzt nicht nur als treuer Anwalt eines Texts eine gegebene Zeitstruktur genau um, sondern muss den zeitlichen Verlauf über weite Strecken frei und verantwortlich gestalten und approximative Angaben konkretisieren: Wann genau kommen die Einsätze? Wie lange dauert diese Pause oder jener senza misura-Teil? Das alles entscheidet und signalisiert der Dirigent. Er ist die starke Figur innerhalb dieses Musikgefüges, der in Koordination unterschiedlicher simultan verlaufender Zeitschichten beträchtliche Virtuosität beweisen mag (manchmal dirigiert er verschiedene Tempi mit beiden Händen und gibt dazu noch Einsätze); dass er dann den Bartók-Beginn lange nach dem Verstummen aller einfach beharrlich weiterschlägt, ist nicht ohne Ironie.29

Es gibt nicht immer ein Happy End. Oder vielleicht doch? Ist der brüchige Grund von „Atembogen“ nicht auch eine stabile Grundlage für die Werke, die danach kamen, insbesondere für den groß angelegten „Scardanelli-Zyklus“ (1975–1991), der den internationalen Ruhm des Komponisten Holliger endgültig festigte? So gesehen stünde diese Schattenmusik quasi als die genau „richtige“ Musik im Zeichen einer Konsolidierung nach der unsicheren Phase der „Cardiophonie“-Stücke. Und auch für Peter Gülke sind die Endklänge von „Atembogen“ eine richtige Goldgrube. In seinem beeindruckenden Hörprotokoll kommt er zu dem Schluss: „[...] so lehrt dich das fast Unhörbare in ,Atembogen‘ das Hören neu und weist dich in den Grund, den Goldgrund des Schweigens, in den alle Musik eigentlich eingetragen sein, aus dem sie aufsteigen will, und den sie doch zugleich erst erschafft.“30

Schriftfassung eines Vortrags, den der Autor im Rahmen des Projekts „Fokus Holliger“ am 16. Dezember 2019 in der Hochschule für Musik Basel gehalten hat.

1„Er hatte die Stärke, sich beraten zu lassen“, Heinz Holliger im Gespräch mit Michael Kunkel, 31. Januar 2006, in: Paul Sacher zum 100. Geburtstag, Basel 2006, 36–45, hier 40.

2Heinz-Klaus Metzger, „Instrumentales Theater“ [1970], in: ­Dieter Schnebel, herausgegeben von Stefan Fricke, Saarbrücken: Pfau, 2000 ( = fragmen, Heft 34), 30–33, hier 33.

3Vergleiche dazu Michael Kunkel, „… dire cela, sans savoir quoi …“. Samuel Beckett in der Musik von György Kurtág und Heinz Holliger, Saarbrücken: Pfau, 2008, 196–217.

4Briefwechsel Heinz Holliger – Nelly Sachs, Königliche ­Bibliothek Stockholm.

5Michael Kunkel, Gespräch mit Heinz Holliger, in: Programmbuch Wien Modern 2002, Saarbrücken: Pfau, 2002, 113–118, hier 118.

6Text zur LP „Heinz Holliger (oboe)“, Swiss Broadcasting Corporation, 1975.

7Heinz-Klaus Metzger, siehe Fußnote 2.

8Heinz Holliger, siehe Fußnote 1, 40.

9Vergleiche „Der magische Tänzer“ (1963/65), „Elis. Drei Nachtstücke“ für Klavier (1961, revidiert 1966), „Come and Go“ (1976/77), „(S)irató. Monodie“ für großes Orchester (1992/93), „Voi(x)es métalliques (Zinngeschrei)“ für unsichtbaren Schlagzeuger (1994/2000), „unbelaubte Gedanken“ zu Hölderlins „Tinian“ für Kontrabass solo (2002). Wirkt hier der Beginn von Schumanns „Manfred-Ouvertüre“ nach?

10György Ligeti geht zu Beginn von Atmosphères“ (1961) ähnlich vor.

11Auch hier ist eine Parallele zu Ligetis schlagzeuglosem Orchesterstück „Atmosphères“.

12Diese annotierte Partitur wird im Archiv der Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung Paul Sacher, aufbewahrt.

13Dadurch, dass es in „Atembogen“ manchmal zu heftigen orchestralen Entladungen kommt, ist zudem eine gewisse affektive Ambivalenz zwischen Trauer und Wut markiert, wie sie auch das spätere Orchesterwerk „(S)irató“ charakterisiert.

14Vergleiche Heinz Holliger, Fußnote 8, 40.

15Ebenda.

16Auch hier kann eine „positive“ Parallele zu den stillen und durchgeschlagenen Schlusstakten von Ligetis „Atmosphères“ festgestellt werden. In der vom Komponisten geleiteten Basler Aufführung vom 18. Dezember 2019 mit dem Orchester der Hochschule für Musik Basel beginnt Holliger allerdings, bereits deutlich vor dem gänzlichen Ausklingen der Coda Takte zu schlagen und hört zusammen mit dem Orchester auf; vergleiche die Aufnahme auf YouTube.

17Robert Walser, Sämtliche Werke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, Band. 13, 243.

18Heinz Holliger, META – TEMA – ATEM, in: Heinz Holliger – Komponist, Oboist, Dirigent, herausgegeben von Annette Landau, Gümligen: Zytglogge, 1996, 63–64, hier 63.

19Vergleiche die Skizzen zu „Atembogen“ im Archiv der Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung Heinz Holliger.

20Vergleiche Clytus Gottwald, „Laudatio auf Heinz Holliger. Zur Verleihung des Ernst-von-Siemens-Preises 1991“, in: Derselbe, „Hallelujah“ und die Theorie des kommunikativen Handelns, Stuttgart: Klett-Cotta, 1998, 148–157, hier 151.

21Ebenda.

22Paul Celan, „Der Meridian. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises“, in: Derselbe, Gesammelte Werke, ­Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 187–202, hier 188.

23Ebenda, 197.

24Ebenda, 190.

25Ebenda, 197.

26Paradigmatisch hierfür ist natürlich Luigi Nonos „Fragmente – Stille, An Diotima“ (1979/80).

27So etwa in seiner im Rahmen des von der Paul Sacher ­Stiftung, Basel, organisierten Symposiums „Musiktheater heute“ (21.–24. November 2001) gehaltenen Rede, die nicht im von Hermann Danuser herausgegebenen Tagungsband (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Band 9, Mainz: Schott Musik International 2003) dokumentiert ist.

28Philippe Albèra, „Ein Gespräch mit Heinz Holliger“, in: Heinz Holliger – Komponist, Oboist, Dirigent, 18–58, hier 31.

29Wie gesagt, verweigerte sich Holliger dieser Ironie bei der Aufführung am 18. Dezember 2019, siehe Fußnote 16.

30Peter Gülke, „Im Goldgrund des Schweigens. Zu Holligers ,Atembogen‘“, in: Neue Zeitschrift für Musik 5/1989,20–21, hier 21.