MusikTexte 168 – Februar 2021, 3–4

Pro und Contra: Festivals neuer Musik

von Daniel Mennicken

Es gibt sie allerorten in allen Formen und Größen: Festivals, so scheint es, sind in der neuen, zeitgenössischen, experimentellen Musik das Mittel der Wahl, wenn es um Veranstaltungsformate geht. Sie sprießen sprichwörtlich wie Pilze aus dem Boden und erfreuen sich allgemein großer Beliebtheit. Neben alteingesessenen Schauplätzen wie Donaueschingen, Witten und Darmstadt scheint zur Zeit vor allem für die junge, freischaffende Generation auf der Suche nach neuen Formaten die Antwort immer häufiger „Festival“ zu heißen. Warum das so ist? Da bedingen sich mehrere Faktoren gegenseitig – und um es gleich vorweg zu nehmen: Ich halte das Festival in der neuen Musik prinzipiell für eine gute Sache, solange man sich seiner Schwächen und Fallen bewusst ist. Da aber viel zu oft wild drauflos kuratiert wird, geraten gerade die zahlreichen Neugründungen in meinen Augen zu ­einer zweischneidigen Angelegenheit, während die etablierten Festivals gut daran täten, sich selbst immer wieder kritisch zu hinterfragen.

Die Vorteile der zeitlichen und räumlichen Verdichtung von Konzerten, Performances und so weiter zu einer inhaltlich stringenten Gesamtheit liegen auf der Hand: Festivals sind deutlich leichter subventionierbar und kosteneffizienter als Einzelkonzerte oder Konzertreihen, erzeugen mehr Aufmerksamkeit und somit einen oft höheren Publikumszulauf. Das macht sie zum beliebten Format bei Veranstaltern wie Förderern. Etablierte Künstlerinnen, Künstler und Ensembles dienen programmatisch als Zugpferde, und der Nachwuchs kann sich ein neues, größeres Publikum erschließen, ohne selbst die Werbetrommel rühren zu müssen. Und diejenigen, die kuratieren, können sich nach Herzenslust austoben und an den eigenen Konzepten erfreuen. Alle gewinnen, sollte man meinen.

Fördernde Einrichtungen haben von der kommunalen bis zur internationalen Ebene alle dasselbe Problem: Sie erhalten deutlich mehr Anträge, als sie bewilligen können. Und selbst die wirklich guten Projekte übersteigen in der Regel die verfügbaren Mittel. Je größer das Spielfeld wird, auf dem sich ein Förderer bewegt, umso mehr bestimmen politische Überlegungen den Auswahlprozess: Die geographische Verteilung der Förderungen, die Diversität und Ausgewogenheit von ländlichen Gebieten und Ballungsräumen sind Kriterien, die bei überregionalen Förderungen genauso relevant sind wie inhaltliche Aspekte. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln soll so viel wie möglich gefördert werden. Dafür erscheint das Konzept Festival perfekt: Hier können auf einen Streich mehrere, im besten Fall zahlreiche Kunstausübende un­ter­stützt werden, während gleichzeitig die ungeliebten „Overheadkosten“ für Organisation, Umsetzung, Werbung et cetera vergleichsweise niedrig ausfallen. Der Grundsatz, möglichst viel Geld für die Kunst, möglichst wenig für die Verwaltung, funktioniert beim Festival eben besser als bei Einzelkonzerten. Ein schöner Nebeneffekt dabei: Festivals strahlen. Sie lassen sich besser verkaufen und schaffen damit eine Öffentlichkeit, die für Förderer attraktiv ist, denn – obwohl selten so klar kommuniziert – mit Großprojekten kann man sich schlicht besser schmücken oder den Jahresbericht gestalten. An dieser Stelle geben sich Geldgeber und Organisatoren die interessenpolitische Klinke in die Hand, denn Attraktion und Strahlkraft sind die eigentliche Währung im (voll)subventionierten Kulturbetrieb.

Künstlerische Kleinode haben es dagegen schwer. Sie werden oft mit selbstausbeuterischem Engagement realisiert und müssen sich schließlich am Publikumsinteresse messen lassen. Das ist traurig, aber wahr. Weil Veranstalter jedoch lernfähig sind und wissen, dass Projektförderung nur zur Hälfte etwas mit künstlerischen Kriterien zu tun hat, ist das Zusammenziehen von Kräften – Stichwort Synergieeffekt! – die logische Konsequenz. Auch fallen für ein Festival viel weniger Strukturkosten an. Ein öffentlichkeitswirksames Design, Plakate, Flyer, einmal hängen, einmal verteilen, gebündelte Raum- und Technikmieten – zugegeben, deutlich mehr Koordination und Kommunikation, aber über einen komprimierten Zeitraum, und deshalb am Ende kosteneffizienter. Aufwendigere Projekte erfordern geradezu den Festivalrahmen, weil nur ein solcher die nötigen Budgets bietet. Ich erinnere an die Aufführung von Iwan Wyschnegradskys „Arc-en-ciel“ für sechs Klaviere im Zwölfteltonabstand bei den Donaueschinger Musiktagen 2010 – das Stück dauert keine zehn Minuten, die Vor- und Nachbereitung der Instrumente dagegen Wochen. Ein solcher Aufwand (inklusive des Kompositionsauftrags für Georg Friedrich Haasʼ „limited approximations“ mit derselben Anzahl ebenso gestimmter Klaviere samt großem Orchester) kann nur mit einem riesigen Überbau betrieben werden, durch den die Aufführung zu einem Anziehungspunkt und Leuchtfeuer wird.

Hinzu kommt der heute so wichtige Event-Charakter und damit das erhöhte Publikumsinteresse an allem, was mehr bietet als nur Musik: mehr Erleben, mehr Licht, mehr Trubel, mehr Lametta. Und genau da, wo ein Festival gleichsam zum Soziotop wird, Raum schafft für Begegnungen und Austausch, für das Eintauchen in Themen und musikalische Zusammenhänge, für die Möglichkeit eingehender Beschäftigung mit ausgewählten künstlerischen Bereichen, da geht es hinaus über die oft zitierte „Summe seiner Einzelteile“. Die spezielle Atmosphäre, das Eintauchen in den musikalischen Mikrokosmos, die sozialen Kontakte zu Gleichgesinnten und im besten Falle das Aufnehmen neuer künstlerischer Impulse in den eigenen Erfahrungshorizont sind Eigenschaften, die das Festivalformat so unverzichtbar machen.

Über Sinn und Unsinn des Kuratierens im Allgemeinen oder im Besonderen in der Musik, wurde schon geschrieben (siehe Kommentar „Kuratorentheater“ von Bernd Künzig in MT 156). Aber auch hier gilt: Wer sein Fach ernstnimmt, kann für das Publikum einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert erzeugen. Ich selbst erinnere mich gern zurück an Festivals, die mich aus meiner Blase herausgeführt haben zu neuen Denk- und Sichtweisen, und das nicht nur durch Konzerte. Es ist die konzentrierte Beschäftigung mit der Materie, die einem den Freiraum eröffnet, überhaupt die eigenen Muster und Erwartungshaltungen zu identifizieren, um sie womöglich zu hinterfragen und zu ändern, zu korrigieren, zu erweitern. Um diesen Effekt zu erreichen, ist allerdings einige Arbeit von Seiten der Veranstalter nötig – wenn nicht sogar zwingend. Es reicht nicht, ein Motto zu finden und sich daran mehr oder weniger programmatisch abzuarbeiten. Dar­über hinauszudenken, ist eine der größten Herausforderungen, der sich Festivalverantwortliche stellen müssen.

Nun gut, ein vortreffliches Festival zu veranstalten, ist also keine leichte Sache. Aber am Ende vereint sein Konzept für Sponsoren, Organisatoren, Kuratoren und Publikum doch alle Vorteile in sich – wieso also Skepsis gegenüber Festivals? Weil in der oben aufgemachten Gleichung noch kein Wort über die Interpreten verloren wurde. Festivals werden nicht aus Sicht der Musiker geplant. Sicher, es gibt Komponistenporträts und Kompositionsaufträge, aber dabei geht es um die Werke und nicht darum, wer sie aufführt. Oftmals gibt das Festival die Struktur und den Ton vor und an. Das konzeptuelle Korsett bringt von sich aus Vorgaben mit, denen sich Musikerinnen anpassen müssen. Das beginnt bei Probezeiten vor Ort, die oft aus ganz profanen Gründen nicht in dem Umfang zur Verfügung stehen können wie bei einem selbstveranstalteten Konzert. Und es endet bei Programmwünschen von Seiten der Veranstalter, die das Konzert ins Festivalkonzept einpassen wollen.

Wer normalerweise mit raumgreifenden Konzepten arbeitet, wer zur akustischen und visuellen Einrichtung in der Regel eine Woche Vorbereitungszeit vor Ort benötigt, wer nur bestimmte Werke von bestimmten Komponisten spielt, wird damit im Festivalbetrieb kaum in offene Arme laufen. Und trotzdem sagt niemand deshalb seinen Auftritt ab. Denn der erhöhte Publikumszuspruch ist für Ensembles und Solistinnen ein nicht zu unterschätzender Faktor. Ein Auftritt bei den Donaueschinger Musiktagen gleicht einer Auszeichnung, die Aufnahme ins Programm verheißt dem Publikum Qualität.

Die großen Spezialensembles, sei es das Ensemble Modern oder die Musikfabrik, um nur zwei zu nennen, sind nicht durch Festivalauftritte zum dem geworden, was sie sind, sondern durch eigene Konzertreihen und Kooperationen. Hier bildeten sie das Repertoire, mit dem sie anschließend in die Welt ziehen konnten. Die künstlerische Hoheit über Form und Inhalt der eigenen Konzerte versetzt sie erst in die Lage, eigene Schwerpunkte zu setzen und Grenzen auszuloten, gleichermaßen zu scheitern und erfolgreich zu sein. Ein lebendiger Kulturbetrieb braucht beides – die großen Events und die kammermusikalischen Reihen und Kleinode. Deshalb plädiere ich mit Nachdruck dafür, dass Konzertveranstalter nicht ausschließlich die Verwirklichung eigener Ideen in den Vordergrund stellen, sondern ihr Ego zugunsten der Mit­wir­ken­­den auch einmal zurücknehmen. Gerade wir, die freien Veranstalter ohne eigenes Haus, brauchen den Erfolg, um weitermachen zu können, und greifen deshalb zu großen Formaten. Wenn das aber dazu führt, dass wir uns am Ende in einer festivaldominierten Szene bewegen, dann tritt die Kunst auf der Stelle.

Doch viele Ensembles werden zum Glück selbst aktiv. In Köln zum Beispiel veranstalten die Gruppen hand werk und Garage eigene, öffentlich geförderte Konzertreihen, bei denen sie ihre eigenen Ideen verwirklichen können. Bis ein Ensemble sich solch ein Format leisten kann, vergehen jedoch viele Jahre, und der Aufwand ist entsprechend groß. Aber es lohnt sich. Und denjenigen, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen, denen müssen Veranstalter und Förderer immer wieder Gelegenheit geben, sich auf diese Weise auszuprobieren und selbst zu finden. Nur so erhalten wir ein lebendiges Konzertleben.

Unausweichlich bleibt ein Corona-Addendum: In einer Zeit, in der Kultur so gut wie überhaupt nicht stattfinden kann, mutet es bizarr an, über den Sinn und Unsinn von Festivals zu schreiben. Der Kern- und Grundgedanke des persönlichen Miteinanders, des Kontakts zwischen Publi­kum und Künstlerinnen, das Eintauchen in unterschiedliche Orte und Konstellationen – all das konterkariert die geltenden Verordnungen von Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln. Die Festivals fielen als erste dem Veranstaltungsverbot zum Opfer, und die Festivals werden auch die letzten sein, die ihren Weg wieder zurück ins Konzertleben finden. Das ist traurig, denn die Menschen sehnen sich in der derzeitigen Situation nach Austausch, Zusammenkünften, gemeinsamem Erleben, wie es sich im Festivalgedanken eins zu eins wiederfindet. Es werden zunächst die kleinen Formate sein, mit denen wir wieder zurück ins Leben und an die Öffentlichkeit gehen, bis Schritt für Schritt die größeren wieder erklommen werden können. Deshalb ist diese Beleuchtung des Festivalthemas am Ende doch eine Liebeserklärung an ebendiese Veranstaltungsform, denn ohne sie geht es nun einmal nicht. Unsere Kulturlandschaft in ihrer Diversität und Heterogenität zu erhalten, ist die große Aufgabe, die jetzt vor uns liegt.

Der Autor ist Geschäftsführer von ON – Neue Musik Köln.