MusikTexte 168 – Februar 2021, 89–90

Klangkunst-Utopien

DYSTOPIE sound art festival 2020: Berlin – Brasilien

von Nico Daleman

Die COVID-19-Pandemie stellt unsere Vorstellung und Wahrnehmung von Normalität und Zeit permanent in Frage, insbesondere alle Gewissheit, mit der wir die nahe Zukunft planen. Als das diesjährige DYSTOPIE-Festival am 16. Oktober er­öff­net wurde, hatten wir uns fast schon an die „neue Normalität“ gewöhnt, und der Lockdown im Frühjahr war nicht mehr als eine ferne Erinnerung. Doch am letzten Festivaltag, dem 1. November, gingen wir wieder in einen „Lockdown light“. So wurde die Finissage zu einer der letzten Kulturveranstaltungen, an der das Publikum noch leibhaftig teilnehmen konnte.

Um das Pathos dieser Nacht noch zu verstärken, präsentierte der mexikanische Künstler Mario de Vega seine sogenannte Intervention „El Intruso“ (der Eindringling). Die Sound-Performance thematisierte das Gefühl der Entfremdung, mit dem wir sowohl individuell als auch gesellschaftlich seit dem ersten Lockdown konfrontiert sind. Das Werk erinnerte an Julio Cortazars Kurzgeschichte „Casa Tomada“, in der ein Haus von einem unbekannten Wesen übernommen wird. Die Hausbewohner meiden die besetzten Räume und richten sich in dieser „neuen Normalität“ ein.

Für das große Festivalfinale besetzte de Vega alle Räume in der Alten Münze, dem Hauptveranstaltungsort des Festivals, samt den dort ausgestellten Kunstwerken, indem er die Räume nicht nur mit den für seine Musik charakteristisch- schleifenden Klängen einnahm, sondern auch die vorhandenen Installatio­nen miteinbezog. Die physische Anwesenheit der Choreographin Mathilde Invernon, die auch als Protagonistin der Videos in Erscheinung trat, verstärkte die Vorstellung vom Eindringling als ein Virus – ein stummes Wesen, das ein System erobert und langsam, aber aggressiv und feindselig dessen vielfältige Funk­tions­weisen und Schwachstellen offenbart.

DYSTOPIE 2020 ist die dritte Ausgabe eines Klangkunstfestivals, das als Tandem konzipiert ist. Erster Partner war 2018/2019 die Türkei: Zuerst lud Berlin türkische, danach Istanbul deutsche Künstler ein. In diesem Jahr war der Tandem-Partner Brasilien, wo auch das Festival 2021 stattfinden wird. Diese Wahl erfolgte nicht von ungefähr, denn dem Vorstand des Künstlerkollektivs Errant Sound, das dieses Festival organisiert, gehört die in Berlin lebende brasilianische Klang­künst­lerin Laura Mello an.

Besonders eindrücklich gelang es Vivian Caccuri und Gustavo von Ha, das Wesen der brasilianischen Dystopie einzufangen. Ihre surreale Videocollage „Vivian & Gustavo“ befasst sich mit der brasilianischen „Sertanejo“-Kultur. Ähnlich der länd­lichen Gesellschaft im Süden der USA lässt sich die Kultur rund um die Sertanejo-Musik, die ursprünglich aus den südwestlichen Ebenen Brasiliens stammt, mit dem Begriff „Bancada BBB: Bala, Buey e Biblia“ (Bullet, Beef, Bible) beschreiben. Dieser Begriff steht für eine Fraktion des brasilianischen Nationalkongresses, die durch ihre rechtsextreme Rhetorik auffällt und dem Aufstieg des derzeitigen Prä­sidenten Jair Bolsonaro Vorschub geleistet hat. Die systematische Verbrennung des Amazonasregenwaldes, der rechtsex­treme brasilianische Diskurs über Ordnung und Fortschritt sowie die Hegemonie Brasiliens in Lateinamerika erscheinen versteckt hinter Texten über Liebe und Sehnsucht – von Caccuri und von Ha mit Übertreibung, Humor und Ironie dargestellt. Anstatt simple Kritik zu üben, spiegelt das Werk eine ausweglose Situation wider, in der „Meme-isierung“ und Spott die einzigen Heilmittel gegen den Irrsinn der Realität sind.

Bruno Golas Installation „Bruto“ bezog sich ebenfalls auf die politische Situation in Brasilien. Das Stück versetzte das Publikum in einen Zustand der Angst, ausgelöst durch Suchscheinwerfer, Klänge von Protesten, die aus aufgehängten Handys tönten, Wand-Graffitis und Sirenen. „Sonic Life, Social Death“, eine „Archivinstal­lation mit Userinterface“ von Bartira + Caetano, spielte mit Klängen aus einem Archiv afro-brasilianischer Musik auf die brasilianische DIY-Kultur von Soundsystemen in Autos an.

Die Komplexität von Kunst in und aus „Entwicklungsländern“ zeigte Christian Diaz Orejarena in seinem Musikvideo „Fronteras Visibles“, in dem es um Kunstprojekte und Stipendien in wirtschaftlich benachteiligten Vierteln wie La Boquilla im kolumbianischen Cartagena geht. „Breath“ von Hyunju Oh ist ein in­stallatives Hörspiel, dessen szenographischer Ansatz nicht nur Ton und Video, sondern auch Klangflecken, Barrikaden, Neonlichter, zer­brochene Spiegel und Türen umfasst. Diese Arbeit geht über die Definition von Klangkunst hinaus und lässt das Publikum in eine dystopische Parallelwelt eintauchen, in der Klang nur eine von vielen Schichten ist, aus denen sich unsere Wahrnehmung des Raums zusammensetzt.

Neben Installationen gab es Konzerte, Performances und Soundwalks mit brasilianischen Künstlern, darunter eine instal­lative Performance für Subwoofer von Stefanie Egedy. Tiefen Frequenzen wohnt per se ein besonderer Reiz und eine eigene Energie inne. Sie machen das Hören zu einer körperlichen Erfahrung, bei der abwechselnd sich verdichtende und verdünnende Luftströme mit dem Raum interagieren. Die komponierte Struktur der Performance kommt mit nur wenig Material aus, wobei jede klangliche Geste wohlüberlegt und durchdacht wirkt.

Die direkteste Verbindung zwischen Brasilien – genauer gesagt, Salvador da Bahia – und Berlin wurde durch die Macchina Som Allstars und deren Soundwalk „Zero, Land der Zukunft“ hergestellt: Zwei Darsteller wandern durch Salvador, zwei andere die Spree entlang. In „Dor de Árvore“ (Baumschmerz) der Brasilianerin LauraL, einer „interaktiven Konzertinstallation mit abgestorbenen Bäumen“, erzeugen die Aufführenden mit Holzscheiten Klänge, die von Kontaktmikrophonen aufgenommen, digital verarbeitet und mit weiteren Field Recordings überlagert werden.

Die jüngste Performance der Stimmkünstlerin Ute Wassermann ist eine Reflexion über das Singen und Atmen in Zeiten der Pandemie für „einatmende Vokalistin und Ausatemluft in Tüten“. Das breitgefächerte Konzert des Ensemble Adapter zeichnete ein buntes musikalisches Bild von Brasilien. Thom Kublis Stück „Brasil Now“ erwies sich darin geradezu als klangliche Allegorie des Landes: Auf den Pullovern der Ensemblemitglieder prangte das Logo des Fußballclubs Corinthians São Paulo, während sie selbst den Klang von Vuvuzelas imitierten. In perkussiven Momenten schlugen die Musiker auf die Metallteile ihrer Stühle und Notenständer, so wie Demonstranten in Lateinamerika ihrem Protest durch lautstarkes Schlagen von Töpfen und Pfannen Ausdruck geben. Chico Mello und Fernanda Farahs naiv-süße, augenzwinkernde Komposition „De-consolation“, eine zeitgenössische Melange von geschmeidigem Bossa Nova mit unkonventioneller Instrumentierung, wurde von nostalgischer, offen sexistischer Foto-Werbung für Bikinis aus den Achtziger- und Neunzigerjahren begleitet.

Auch das DYSTOPIE-Festival wurde von COVID-19 teilweise in virtuelle Räume gezwungen. Zu den verschiedenen Online-Aktivitäten gehörte eine Art Schaufenster, in dem Werke brasilianischer Künstler, darunter Kompositionen, In­stallationen und Videokunst ausgestellt wurden. Dem Kuratorenteam war es ein Anliegen, auch Werke aus Regionen jenseits der Achse Rio de Janeiro – São Paulo einzubeziehen und somit einen Überblick über die verschiedenen Regionen Brasiliens zu geben.

Angesichts der politischen Implikationen des DYSTOPIE-Festivals gab es unter dem Motto „Listening as a tool to blow out the bubble“ eine Reihe von Vor­trä­gen und Seminaren über die Rolle von Klangkunst in der aktuellen politischen Situation in Brasilien und in der Welt. Im Mittelpunkt des Symposiums standen kulturtheoretische Überlegungen zum Thema Kunst und Macht, insbesondere mit Blick auf Gender, Race und Postkolonialismus. Das Frauen-Kollektiv „Sonora: Músicas e feminismos“ zum Beispiel stellte die Kunst von nichtweißen Frauen in Brasilien heraus. Das Denken von Dystopien und Utopien im Kontext des Kolonialismus eröffnet neue Perspektiven auf diese Begriffe, beleuchten sie doch die Machtverhältnisse zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre: Die „Entdeckung“ Amerikas war für die europäischen Siedler verbunden mit den Verheißungen einer Utopie, die durch Unterdrückung und Ausbeutung zur Dystopie wurde. Alexandre Sperandéo Fenerich bringt dies in seinem Einführungs­text zum Festival, „Die brasilianische Dystopie“, auf den Punkt:

In Brasilien ist das Projekt eines idealen Ortes (Utopie) nie in Erwägung gezogen worden. Seit seiner Gründung litt das Land unter der unverhohlenen Ausbeutung seiner Bevölkerung und Natur zum Nutzen derer, die den Staat kontrollieren: des Königs, seines Gefolges, des Militärs, der Priester, Kaufleute und Verwalter. Dieser starren Hierarchie unterworfen ist es ein Reich des Chaos: eine Dystopie.

Leider gab es in den Diskussionen keine konkrete Bezugnahme auf die aufgeführten Werke, zum Beispiel in Form von kurzen Kritikerrunden. Es bleibt zu hoffen, dass die für 2021 in Brasilien geplante Ausgabe des Festivals der Herausforderung gewachsen sein wird, die bisher bloß diskutierte Theorie auch in die Praxis umzusetzen – nicht nur politisch und kulturell, sondern auch ästhetisch.

Für ein Festival, das Beziehungen und kulturelle Tandems als eines seiner Hauptmerkmale ansieht, fehlte es zumindest in diesem Jahr an Interaktion. Auch wenn der Veranstalter Errant Sound viel Zeit und Mühe eingesetzt hat, um brasilianische Künstler, deren Arbeiten, Ideen und Sorgen über die aktuelle politische Situation durch die Linse der Klangkunst zu zeigen, fand ein wirklicher Austausch nicht statt. Workshops, Runde Tische oder Residencies, in denen eine deutsch-brasilianische Zusammenarbeit hätte Gestalt annehmen können, wo beide Kulturen sich eher gegenübergestanden hätten – anstatt ohne Berührungspunkte nebeneinander –, wären wünschenswert gewesen. Nur wenige Künstler näherten sich der Idee eines kulturellen Austauschs (Diaz Orejarena, Thom Kubli und Macchina Som Allstars). Der Utopie von Klangkunst als einem Raum der Begegnung von Kulturen und des Austauschs von Ideen, der neue Weltbilder hervorzubringen vermag, erteilte das DYSTOPIE-Festival so (bewusst oder unbewusst) eine Absage.