MusikTexte 168 – Februar 2021, 94

Das Morgen im Heute

Zum Hörspiel „Stadt [Land Fluss]“ von Daniel Kötter und Hannes Seidl

von Gerardo Scheige

Ist unser Planet bereits vollständig kartographiert? Unzählige im Weltall kreisende GPS-Satelliten, die jeden Millimeter der Erde abgemessen haben dürften, drängen uns förmlich ein entschiedenes Ja auf. Dennoch: Wäre die Welt ein Gemälde, stünde die Sichtbarkeit aller Farbtupfer nicht zwingend für das Erkennen und Begreifen ihrer Zusammenhänge. Genauso verhält es sich im Kleinen mit der (Groß-)Stadt, diesem paradigmatischen modernen Mikrokosmos. Gebäude, Straßen, Parks, Kanalisationssysteme, Lichtsignalanlagen stellen eine visuelle und haptische Ordnung her, die ein schier endloser, aus Stimmen, Hupen und Sirenen geknüpfter Geräuschteppich ergänzt, hinterfragt und bisweilen wieder aufhebt. Und mittendrin: das Individuum.

„ ... It always seemed to me that we should pay much more attention to the question of who produces and reproduces urban life…“: Nach einer Minute mit elektroakustischen Klängen, rufenden Kindern und einem vorbeirauschenden Flugzeug spricht eine Männerstimme über die Produktion und Reproduktion des urbanen Lebens. Wer zeigt sich dafür verantwortlich? Und wie? So beginnt das 2020 realisierte Hörspiel „Stadt [Land Fluss]“ von Daniel Kötter und Hannes Seidl nach dem gleichnamigen, abendfüllenden Musiktheaterstück von 2017. Im Werkkommentar zu letzterem fragt der Komponist Seidl konkret nach den akustischen Eigenschaften einer Stadt als gesellschaft­lichem Raum: „In STADT (LAND FLUSS) spüren wir der sozialen Dimension der Klanglichkeit einer Stadt nach, die noch immer von Stadtplanern und Architekten vernachlässigt wird. Wie klingt die Stadt, wie könnte sie klingen? Wer hat das Recht, den Stadtraum zu gestalten und seine Grenzen zu definieren?“ Der erste Teil einer Trilogie – es folgten „Land [Stadt Fluss]“ (2018) und „Fluss [Stadt Land]“ (2019) – nimmt unterschiedliche Perspektiven ein und durchschreitet buchstäblich verschiedene Räu­me, um „die radikal vernetzte Stadt hörbar und die Auswirkungen ihrer permanenten Veränderung sinnlich erfahrbar“ zu machen. Die Bühne wird begehbar, diegetische Räume und deren Grenzen werden ausschließlich durch Trennwände angedeutet, während sich das ,wahre‘ urbane Leben draußen abzuspielen scheint. Eindrücke davon erhalten die Zuschauenden lediglich per Smartphone-Videos, so dass der stets im Wandel begriffene Organismus Stadt sich als imaginäres Gebilde entpuppt; ein Umstand, der in der Hörspielfassung besonders zum Tragen kommt.

Hier knistert es. Dem pausenlosen Rauschen und Knacken wohnt eine ungeduldige, auf den nächsten Augenblick lauernde Stimmung inne, in der sich Zukunft und Veränderung manifestieren. Für (An-)Spannung sorgen vorrangig die Klänge elektromagnetischer Felder, deren sonst unhörbare Schwingungen Christina Kubisch mittels Induktionsspulenkopfhörer hörbar macht. Im übertragenen Sinne wird das Aufdecken vorhandener, aber nicht vernehmbarer Klänge zu einer Handlungsmaxime: Im Heute liegt bereits das Morgen verborgen, den Zukunftsschlüssel haben wir gegenwärtig in der Hand. Und die Stadt? „Bulldozer planieren die Wüste, Wohnviertel werden eingezäunt, Strom durchzieht das Informelle, eine Menschenmenge besetzt den Mittelstreifen“, heißt es im Werkkommentar weiter. Wie sang die Band „Fehlfarben“ vor vierzig Jahren? „Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran.“ Dass Einzelne bei aller Zielstrebigkeit auf der Strecke bleiben beziehungsweise aus der Spur geraten, findet in „Stadt [Land Fluss]“ eine musikalische Entsprechung, wenn Sebastian Berweck die Nadel seines Plattenspielers kleinschrittig über kreisende Rillen flanieren lässt. Gewissermaßen als Nebenprodukt entstehen dabei – zusammen mit den akustischen Beiträgen von Martin Lorenz und Andrea Neumann – flirrende Klangbilder, die der Idee von Soundscape bewusst widersprechen. Mit konkreten Objekten generieren Musikerin und Musiker wiederum eine abstrakte Klangwelt.

Und die gesprochenen Passagen? Sie erzählen von urbanen Problemen und Herausforderungen, etwa in der Hambur­ger HafenCity rund um die Elbphilharmonie. Das von Hannes Seidl und Filmemacher/Theaterregisseur Daniel Kötter nach Zitaten unterschiedlicher Provenienz erarbeitete, mitabgedruckte Skript fragt nach Chancen und Entwicklungen einer modernen, klimaneutralen, gerechten Stadt. Vieles scheint möglich. Alles bleibt offen – worauf die durchdachte, nachhaltige Aufmachung der beim Frankfurter Label Gruenrekorder veröffentlichte Compact Disc bereits hinweist: Undefinierte, voneinander nicht abgegrenzte, nur rudimentär kartographierte Räume künden von Freiheit. Was zunächst nach übertriebenem Pathos klingt, ist jedoch Programm. Alle können, dürfen, sollen mitdiskutieren, mitplanen, mitarbeiten. Es müssen Entscheidungen getroffen werden. Und genau darin liegen Vor- und Nachteil der Hörspielfassung gegenüber dem Musiktheater „Stadt [Land Fluss]“. Lässt letzteres durch seine interaktive Faktur noch eine Vielzahl an Versionen zu, zieht erstere als festgelegter Parcours tönende Mauern hoch, baut akustische Straßen und Parkanlagen, denkt klanglich über Mobilität nach. Die Entscheidung für eine Stadt ist notwendig – in einem Traumschloss lässt sich nämlich schlecht überwintern –, gibt aber zugleich andere Optionen preis. So könnte es also sein. Oder doch ganz anders?

Eine konstant anschwellende Spannung, die sich der oben erwähnten Klang­erzeu­gung verdankt, drängt einerseits unaufhörlich nach vorne, während ihre kontinuierliche Wandlung andererseits für ein kontemplatives Moment sorgt. Zwischen Minute achtzehn und neunzehn findet eine ebenso geradlinige wie richtungslose klangliche Verdichtung statt, die sich im gesprochenen Text spiegelt: „Eine Unkontrolliertheit oder eine Informalität zu planen, ist eben schwierig. Planning the unplanned. Wie geht das?“, heißt es aus dem Off. Diese vordergründig mittels Sprache artikulierte Planbarkeit weicht allmählich einer um sich greifenden Klanglandschaft, die jeden Gedanken zu überwuchern scheint. In den letzten vierzehn Minuten dominieren Rauschen, Surren und Flirren – stoisch und doch voller Überraschungen. Die von Seidl geforderte soziale Dimension von Klanglichkeit gewinnt schließlich die Oberhand. Mit diesem konsequenten und überzeugenden Kunstgriff wird das gesprochene Wort ,denkende‘ Musik: „So, there’s a lot of power which resides it seems to me in thinking about the urban as a place to organise and as a place to come back together […].“ Gemeinsam eine Stadt erbauen. Für alle. Neben Ideen, Mörtel und Strom ist ein weiterer Aspekt entscheidend: zuhören. „Stadt [Land Fluss]“ redet nicht nur darüber, sondern macht es direkt vor.