MusikTexte 168 – Februar 2021, 88–89

Gyno, Homo, Novo, Pseudo …

Die Konzertreihe „Frau Musica Nova“ als Internetstream

von Rainer Nonnenmann

Was waren das für Klänge? Wer hat sie wie und womit erzeugt? Bei vielen Stücken der neuen Musik gibt es nicht nur etwas zu hören. Auch die Sichtbarkeit von Performern, Instrumenten, Objekten und Aktionen erschließt die Materialität, Expressivität und Form einer Komposition. Doch wie schon im Frühjahr 2020 führte der zweite coronabedingte „Lockdown“ zur Absage sämtlicher Musikveranstaltungen. Einige Konzerte konnten durch Rundfunk­über­tragungen und Internetstreamings gerettet werden. Doch blieb dabei vom Gesamtereignis Live-Musik oft nur der reine Klang oder ein flaches Videobild.

Einzelne Ensembles und Veranstalter ent­wickelten daher neue Formate speziell mit und für die digitalen Medien. Video und Internet dienen dann nicht nur als Transmitter zwischen Aufnahme und Publikum, sondern werden gemäß ihrer spezifischen Möglichkeiten eingesetzt und als prägende Dispositive der Produktion und Rezeption thematisiert. Ins Internet wanderte dieses Jahr auch Frau Musica Nova. Die 1998 von Gisela Grone­meyer ins Leben gerufene Konzertreihe präsentierte im Deutschlandfunk Köln zunächst profilierte Komponistinnen neuer Musik in Porträtkonzerten. Seit Brigitta Muntendorf 2013 die Leitung übernommen hat, liegt der Schwerpunkt auf transmedialen Produktionen und der „Überwindung der Grenzen von Genre und Gender“ zum Zweck einer „Öffnung des Genres ,Zeitgenössisches Musik-Festival‘ hin zu einer offenen Begegnungsplattform der Künste.“ Dabei wird ein klares Verständnis dessen, was neue Musik sein könnte, ebenso verlassen wie das übliche Konzertformat.

Beteiligt ist nun auch immer wieder das von Muntendorf gegründete Ensemble Garage. Dessen Konzert „Audible Land­scapes“ wurde aus dem Kammermusiksaal des Deutschlandfunk Köln live gestreamt und war anschließend einige Tage online abrufbar. Angesagt waren Stücke bekannter Komponistinnen der mittleren Ge­ne­ration, für dezente Inszenierung sorgte Max Pross. Die musikbezogene Gestaltung von Raum, Licht, Kostümen, Maske und Kameraführung machte diese Übertragung zu einem Lichtblick inmitten aller eindimensionalen Streamings. Die En­­semblemitglieder erschienen in Arbeitskleidung wie Automechaniker in einer Garage inklusive Öl- und Rußspuren im Gesicht. Ihre starren Blicke in die Kamera erweckten den Eindruck, es sei ihnen Gewalt angetan worden. Der oberflächliche Schmutz signalisierte tiefer gehende Verletzungen ihres Lebensunterhalts und Selbstverständnisses als Musikschaffende durch die momentanen Konzertverbote.

Im 2011 entstandenen „Hyperoxic“ der schwedischen Komponistin Malin Bång bespielte Flötistin Maruta Staravoitava zuerst nur das Bassflötenmundstück, dann auch das komplette Instrument mit verschieden gefärbten Blasgeräuschen. Dazu agierte Bratschistin Annegret Mayer-Lindenberg wie an einer Werkbank mit Luftpumpe, Plastikfolie, Handventilator, Megaphon und einem immer praller aufgepumptem Luftballon. Alle Instrumente und Handlungen wurden präzise mikrophoniert und durch die Live-Video-Spezia­listen von Warped Type mit einer Handkamera aus wechselnden Perspektiven ins Bild gesetzt, um die Funktionsweise der Objekte und das dialogische Verhältnis beider Partien zu verdeutlichen. Indem die Interpretinnen plötzlich direkt in die Kameras blickten, machten sie die Beobachter an den heimischen Computerbildschirmen ihrerseits zu Beobachteten und erhellten schlaglichtartig die mediale Vermittlung.

Als Überleitung zum nächsten Stück vollzog die ohne Schnitte fortlaufende Kamerafahrt einen Schwenk durch den Saal, so dass Monitore in den Blick kamen, die den Klarinettisten und die Pianis­tin des Ensembles wie auf Überwachungskameras zeigten. Die Erwartung, beide würden später auftreten, erfüllte sich allerdings nicht, so dass es bei einer Grußadresse an die nicht beteiligten Ensemblemitglieder blieb. In Sarah Nemtsovs Stück „Brief.Kasten“ von 2014 agierten Bratschistin und Posaunist Till Künkler zunächst rein perkussiv mit den Deckeln, Schnallen, Klappen und Stoffbezügen ihrer Instrumentenkästen. Erst später wurden die Instrumente direkt gezupft, ge­strichen, geblasen, angeschlagen. In Pausen griffen die Musiker rasch zu Smartphones, als würden sie rasch ihre Kontakte checken. In Wirklichkeit nahmen sie sich mit ihren Handys gegenseitig auf, um die datenreduzierten Sounds über Mikrophon und Lautsprecher in den Saal zu projizieren.

Nemtsovs Stück quasi fortsetzend, heftete sich die Kamera an die Fersen des Posaunisten, der sein Instrument schnell einpackte, zur nächsten Station eilte und es dort wieder herausholte, um mit Yuka Ohta am Schlagzeug das 2020 fertig gewordene Duo „3 audible land­scapes“ von Elnaz Seyedi zu spielen. Zu sanften Klangflächen schwenkte die Kamera dann erneut in den Saal, wo andere Ensemblemitglieder verloren vor sich hin tanzten, wie gebannt auf Monitore starrten oder ihre nicht benutzten Streichinstrumente vorzeigten. Auch bei Clara Iannottas „Limun“ von 2011 entfernte sich der Kamerablick von Geiger Rostislav Kozhevnikov und der Bratschistin. Immerhin blieb erkennbar, dass die schillernde Harmonik und melancholische Melodik natürlicher Flageoletts stellenweise durch zwei im Hintergrund geblasene Mundharmonikas eingefärbt wurde.

Erst nach dem letzten Auftritt sah man die Totale des Sendesaals mit allen Instrumenten, Mikrophonen und Scheinwerfern. Das Publikum war eingeladen, am heimischen Computer über eine Menü­leiste kleine Bildsymbole zu aktivieren: Klatschen, Winken, Hutwerfen, Bier­humpen aneinanderstoßen, rote Herzchen aufsteigen lassen. Zudem ließen sich über den Live-Chat diverse Emojis sowie Einwort-Kommentare verschicken: „spooky“, „Bravo“, „Oberhammer“, „fantastisch“, „super !!!“…

Den Anfang der auf drei Abende verteilten Konzerte machten Schriftstellerin Sybille Berg und Performer Sita Messer. Die jüngere deutsche Literaturgeschichte verdankt Bergs Nahzeit-Dystopie „GRM Brainfuck“ von 2019 den schönen Romananfang „Das Jahrtausend begann lausig“, woraufhin dann über sechshundert Seiten alles noch viel schlimmer kommt. Nun boten Berg und Messer als Duo „Die Penisschwestern“ eine halbe Stunde lang Internet-Radio, eingebettet in die lapidare Rahmenerzählung, man befinde sich auf der „MS Earth“, die nach der Kollision mit einem Schweinefrachter zu sinken drohe. Dem Untergang von Schiff beziehungsweise Mutter Erde trotzte man dann mit einem mäßig unterhaltsamen Mix aus Pop und House. Zwischen wenig einfallsreichen Anmoderationen wurden einfach der Reihe nach Songs abgespielt, was mit dem angekündigten „Eccentric Listening“ wenig zu tun hatte, mehr dagegen mit der in allen Medien kommerziell erfolgreichen Kombination aus Untergangsszenario und leich­tem Entertainment. Als „exzentrisch“ empfinden konnte man allenfalls die Songtexte aus den LGBTQI-Szenen über verschiedene Geschlechtsteile, Geschlechtskrankheiten und sexuelle Vorlieben.

Nach 2018 schon zum zweiten Mal – wieso eigentlich? – bei Frau Musica Nova zu Gast war die Londoner Turntable- und Elektronik-Performerin Shiva Feshareki. Als einzige Neuproduktion zeigte das Künstlerduo Colin Self & Santiago Latorre den „experimentellen“ Musikfilm „Archi­tecture of Friendship“. Zu hören gab es billigen Softpop mit den üblichen drei, maximal vier Grund­ak­korden, mainstreamig globalisiertem Folk­lorismus und standardisiertem Sound- und Drumcomputer-Ambiente. Zu sehen waren Szenen mit einer über Bettlaken schleichenden Schlange, einem vor rauher Felsküste im Brautgewand singenden Mann, sowie über Lichtquellen sich räkelnde Hände und Arme. Schließlich geht ein ganz in Weiß gekleideter Mann – der Bräutigam? – durch einen winterkahlen Wald, wo er wenig später von seinem Partner tot aufgefunden wird, gleichwohl noch eine weitere traurige Schnulze singt, um endlich doch unter Laub vergraben zu werden: sentimentaler Splatter-Trash-Kitsch.

Zu sanft tröpfelnden Klängen sollte das Publikum die Augen schließen und siebzehn Minuten lang an einer Atemmeditation teilnehmen. Bei fortan schwarzem Bildschirm und hunderte Male kreisendem Loop rauschte sanftes Ein- und Ausatmen. Das Zwischenhoch von siebenund­dreißig Besuchern sackte prompt um zehn Zähler ab. Für Aufhellung im Barometer sorgte ein mediterranes Weichbild aus Zikadensirren, Ziegengemecker, Hundegebell, leisem Menschengeplauder und mehrstimmigem Hirtengesang. Erst ganz am Schluss meldete sich auch der „experimentelle Musikfilm“ wieder zurück. Zu Gitarre und hauchig gesungener Folklore tanzten vier halbnackte Männer mit ständigen Griffen an ihre durch Erektionen – oder bloß Schaumstoff? – ausstaffierten Unterhosen. Das war weder „experimentell“ noch hatte es etwas mit „Frau“ und „Musica Nova“ oder den von der Konzertreihe angekündigten „Themen von hochaktueller sozialpolitischer Relevanz“ zu tun.