MusikTexte 168 – Februar 2021, 93

Wie man Grenzen aufhebt

Zu Claudia Maurer-Zencks Sammelband über Younghi Pagh-Paan

von Gerhard R. Koch

In der Biologie bezeichnet „Symbiose“ sowohl das Zusammenleben als auch das (Wechsel)wirken heterogener Arten und Strukturen bei Tieren und Pflanzen – nicht zuletzt im Sinne des Darwinschen „survival of the fittest“ durch nicht selbstverständliche Liaison bestimmter Eigenschaften von bestens an schwierige Situationen angepassten Lebewesen. Botanik wie Zoologie können dafür triftige Beispiele anführen. In der Alltagssprache heißt denn auch „Symbiose“ quasi pragmatische Koexistenz, ja Fusion auch regio­nal disparater Eigenschaften.

Naturwissenschaftliche Begriffe auf Gesellschaft, Politik und Kultur zu übertragen, ist so verlockend wie heikel. Man muss nicht gleich an „Blut und Boden“ denken; aber AfD, Polen, Ungarn und Türkei mit ihren Beschwörungen völkischer Identität können schon das Fürchten lehren. Das „-tum“ hat wieder Konjunktur, das „Eigene“ und das „Fremde“ werden zu polarisierenden Fetischen – bis hin zum „Leitkultur“-Schwadronieren der CDU. Dabei ist gerade das quasi Symbiotische für die Musik konstitutiv, schon allein in den höchst unterschiedlichen Funktionen sowohl zwischen Hochkultur- und Popularmusik, aber auch schon im eher archaischen Gebrauch kriegerischer, sakraler oder arbeitsbegleitender Topoi. Hinzu kommen die exotistischen Ingredienzien der All’ongharese- und Alla-turca-Stücke oder orientalisierend-fernöstlich getönter Werke.

Schon der Flötenkomponist Johann Joachim Quantz bestritt 1752 die Existenz einer genuin „deutschen“ Musik, indem er deren „vermischten Charakter“ als poly­nationale „Schnittmenge“ betonte. Grenzziehungen bleiben allemal heikel: War Chopin ein Warschauer oder Pariser, Brahms ein Hamburger oder Wiener Komponist? War für Händel die deutsche, italienische oder englische Komponente bestimmend? Allein die nationale Zugehörigkeit blieb für Emigranten eine Crux: Eisler fühlte sich in Hollywood als „deutscher“ Tonsetzer, bis hin zum DDR-„Faus­tus“-Dilemma, Kurt Weill wurde ab 1933 dezidiert zum „amerikanischen“.

Nun haben sich europäische und amerikanische Musiker an asiatischen, auch afrikanischen (Steve Reich) Welten orientiert. Der umgekehrte Weg ist seltener. Für diesen stehen hauptsächlich zwei koreanische Namen: Isang Yun und Younghi Pagh-Paan. Führte Yuns Laufbahn von Seoul über Paris nach Berlin, so der von Pagh-Paan von Seoul über Freiburg und Darmstadt nach Bremen (wo sie von 1994 bis 2011 Komposition lehrte), und gemeinsam mit Klaus Huber nach Italien ins umbrische Panicale. War Yuns Beziehung zu seiner koreanischen Heimat trau­matisiert durch die Entführung aus Berlin nach Seoul, wo er von 1967 bis 1969 im Gefängnis saß, so scheint Pagh-Paans Verhältnis zu Korea weniger schmerzlich real, sondern eher imaginär „erinnernd“, vielleicht sogar als beschwörende „Rückwärts-Utopie“.

Dementsprechend liegt der Unterschied zwischen Yun und Pagh-Paan nicht zuletzt in der Fokussierung aufs Politische: Yun hat auf die Greueltaten der Militärjunta 1979–1980 unmittelbar und mit großem „impact“ kompositorisch reagiert. Pagh-Paan war das südkoreanische Verhängnis kaum weniger bewusst, doch die „Heimat“ war ihr scheinbar ferner, der Hor­ror totalitärer Macht­hybris gleichwohl gegenwärtig. Sie hat ihn, obschon quasi historisch dokumentiert, weit stärker individualistisch reflektiert, allerdings als ebenso erregendes wie objektivierendes Gedenken: „In Erinnerung an den 22. 2. 1943, den Hinrichtungstag der ,Weißen Rose‘.“ Ihre Komposition „Flammenzeichen“ steht also in der „Epitaph“-Tradition Luigi Nonos, ist aber in den Textfragmenten aus den Briefen und Plakaten der Geschwister Scholl, aber auch aus der Bibel sehr viel konkreter in seinem Appellcharakter, der wiederum um einiges offener auf die koreanische „P’ansori“-Kultur verweist, halbtheatralisch-vokale Trauerrituale. Dadurch kommt es zur Wechselwirkung von statischen Momenten und scharfen Einschnittakzenten der von der Sängerin intensivierten Schlaginstrumente. „Flammenzeichen“ ergreift unmittelbar emotio­nal, wahrt indes ästhetische Fokussierung weitab von plakativem Agitprop-Kollektivismus. Darin erweist sich das Stück als herausragendes Beispiel engagierter politischer Kunst eigener Prägung.

Anlässlich von Pagh-Paans siebzigstem Geburtstag 2015 fanden in Bremen, Seoul und Berlin drei Symposien über die Komponistin statt. Zehn Beiträge sind nun in diesem Sammelband veröffentlicht. Sie umkreisen in höchst unterschiedlicher Weise die dialektische Spannung zwischen der unerhört reichhaltigen koreanischen Tradition und den Tendenzen der europäischen Avantgarde, ohne sich dabei allzu sehr auf naheliegende Begriffe wie Synthese oder auch Symbiose festzulegen. Deutlich wird stattdessen, dass es Pagh-Paan gerade nicht um West-Ost-Verschmelzung geht, auch nicht um exotisierende „Weltmusik“. Und erst recht wahrt ihr Komponieren Abstand zu den tradierten deutschen Großformaten. Hatte Isang Yun immerhin noch fünf Sinfonien und fünf Opern geschrieben, so gibt es bei Pagh-Paan zwar eine Oper, („Mondschatten“, 2006), doch kaum ausladende sinfonische oder oratorische Werke. Gewiss liegt ihr an osmotischen Übergängen zwischen koreanischer Ritualmusik und westlich-avancierter Textvertonung. Aber schon die Frage nach dem „Eigenen“ und „Fremden“ führt ein klein wenig in die Irre. Während sie nun fast fünfzig Jahre in Deutschland lebt, sind dessen Kulturimpulse, wie auch immer, nicht spurlos an ihrem Komponieren vorbei gegangen, ist manches vermutlich mehrfach codiert. Und ihre enge Verbindung mit Klaus Huber, der stark an arabischer Musik interessiert war, könnte gerade darin noch eine weitere Spiegelkonstruktion erbracht haben.

Wollte man Pagh-Paans „Eigenes“ entdecken, so wäre es das Ineins von melismatisch-ornamentaler Tonziselierung bei gleichwohl oft eruptiver Expression und der stark perkussive Aspekt, nicht nur im Schlagwerk, sondern auch in der Stimmbehandlung – mitunter fast im Sinne des Quid pro quo einer mobilehaften Kalligraphie mit aufblitzend hoher Erregungsqualität. Da scheinen die Ritualcharaktere doch um einiges stärker als die westlichen Impulse. Zufall ist dies nicht: An der Musikhochschule in Seoul gibt es eine große Abteilung für historisch authentische koreanische Aufführungspraxis. Überdies: Bei einem Besuch der Stadt vor einigen Jahren wurde das Konzert einer Pianistin mit ausschließlich spanischer Musik plakatiert. Und eine große Galerie kündigte eine Gesamtaufführung von Brahms’ Kammermusik und Liedern an. Das eigene und das Fremde gewannen da ganz ungewohnte Facetten.

Der Pagh-Paan-Sammelband ist außerordentlich vielseitig instruktiv, setzt zwar einige Kenntnisse voraus, weckt aber erhebliche Lust, diese Musik zu hören.

Auf dem Weg zur Symbiose. Die Komponistin Younghi Pagh-Paan, herausgegeben von
Claudia Maurer-Zenck, Mainz: Schott, 2020.