MusikTexte 168 – Februar 2021, 75–77

Unsere kulturelle Hybridität

Die Kompositionsausbildung in Chile und Lateinamerika – wie sie ist und sein könnte

von Eduardo Cáceres

Museen der Musik

Die systematische Ausbildung von Musikern und Komponisten in den lateinamerikanischen Ländern konzen­trierte sich bislang ausschließlich auf die Musikhochschulen [„Conservatorios de Música“]. Paradoxerweise zielt der Name dieser Institutionen auf das „Konservieren“ der Musik in ihrem „ursprünglichen“ Zustand. Diese Definition ist so fest in den Köpfen verankert, dass selbst die geringste Veränderung des gewissenhaft Konservierten zu einer Riesenaufgabe wird. Offenbar können wir, die Kolonisierten und Neokolonisierten, nicht ohne Weiteres verändern, was die Kolonisatoren eingeführt haben.

Die sogenannte akademisch-klassische (oder ernste) Musik hat sich in den Ausbildungsinstitutionen Lateinamerikas als ein ideologisches Kulturbanner etabliert, was durchaus in Ordnung wäre, wenn sich das regelrechte Monster der akademisch-klassischen Musik (obwohl man sich etwas anderes einredete) im Laufe der Jahre nicht zu einer elitaristischen Erscheinung entwickelt hätte, die sich hauptsächlich in den Museen der Musik, den sogenannten „Konzertsälen“, abspielt, uns manchmal ein authentisches Zeichen ihrer Stärke gegeben hat und uns Komponierende vor eine inhaltsleere Leinwand stellt, in deren Rahmen wir unsere künstlerischen Landschaften zeichnen können. Wir dürfen daher einige grundlegende Fragen hinsichtlich der politischen und kulturellen Traditionen unserer Länder nicht vernachlässigen, denn schließlich sind diese Traditionen aus Europa zu uns gekommen und haben – quasi als Geschenk – eine in ihren Wurzeln revolutionäre Musik mitgebracht, die sich auf ihrer Reise über den Atlantik jedoch ein anderes Gewand angelegt hat. So erscheint die Musik im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert als exklusiver Luxus einer sozialen und ökonomischen Oberschicht, die über viele Generationen hinweg – bis heute – hegemoniale Machtstrukturen vor allem im schulischen Bereich bewahrt hat.

Ein Verdienst dieser Strukturen ist die Entwicklung einer großen Musiktradition, die über die Jahre jedoch dazu geführt hat, dass Studierende an einem traditionellen Konservatorium bis zuletzt praktisch keine Ahnung von der Musikgeschichte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts haben – und wenn sie doch „etwas andere“ Luft schnupperten, dann wahrscheinlich in einem Kurs, einem Seminar, einer Konferenz oder sonstigen außerplanmäßigen Aktivität, nicht aber im Rahmen der systematischen Ausbildung während ihres Musikstudiums.

Das Paradoxe an dieser Situation liegt darin, dass wir Lateinamerikaner Meister darin sind, eine musikalische Kunst, die gar nicht auf uns zurückgeht, beharrlich auszuüben. Tausende Dollar werden in die Verbreitung einer Musik investiert, die mehr als hundert, zweihundert und auch dreihundert Jahre alt ist und in diesem Zeitalter der Weltkultur einer solchen Investition gar nicht bedarf, weil sie ohnehin von ihren Herkunftsländern gefördert wird (eine Musik, die wir, wenn wir so weitermachen wie bisher, auch in Zukunft konservieren müssen). Wenn kein wirkliches Interesse an dem besteht, was hierzulande zur Zeit geschaffen und erfunden wird, teilen unsere Komponierenden weiterhin das Schicksal, auf ewig Exoten zu bleiben, die mit der klassisch-akademischen Entwicklung konkurrieren und deren Werke in ehrwürdigen Bibliotheken verstauben, ohne jemals zu erklingen oder gehört zu werden.

Entfremdete Ausbildung

Dieses Schicksal liegt auch an den Musikern selbst, da sie einem entfremdeten Ausbildungssystem unterworfen sind. Das betrifft insbesondere die Interpreten der sogenannten klassischen Musik, die, vom Ehrgeiz getrieben, Bach, Mozart und Beethoven hervorragend zu spielen, darauf versessen sind, ihr Spiel des alten Repertoires an europäischen Musikhochschulen zu „perfektionieren“. Diese Ausbildungsphase ist wichtig und unbedingt empfehlenswert – allerdings sollten sich im Ausland Studierende darüber bewusst sein, dass sich die europäischen Interpreten auch um das eigene zeitgenössische Musikschaffen kümmern, während in Lateinamerika die Wertschätzung des Eigenen durch neokolonialistische Visionen verhindert wird.

Jeder Versuch, unsere kulturelle Identität zu finden, bleibt jedoch unrealistisch, wenn wir nicht von den bewährten Ergebnissen unserer eigenen Tradition ausgehen und sie durch neue Ideen und Ausbildungswege unserer Musiker ergänzen. Idealerweise ermöglicht uns beides zusammen das Dasein als Künstler mit einer besseren Vision unseres kulturellen, sozialen, geographischen und politischen Umfeldes und des diesem innewohnenden Potentials.

Jeder Versuch des Suchens und Findens von „Identität“ bedeutet, die musikalischen Praktiken und Musiktheorien, die in den Studierenden das Gefühl eines Staus verursachen, zu verlassen. Zu überwinden ist das Gefühl, keine Ahnung zu haben – wovon eigentlich? – und zugleich irgendwo eingesperrt zu sein, ohne Musik „machen“ zu können, sie zu nutzen, zu schaffen und sie aus sich heraus zu leben – obwohl man acht, neun oder mehr Jahre studiert hat und Musiker ist, ohne sich wirklich so zu fühlen.

Ein jeder solcher Versuch setzt eine radikale Veränderung in den musikalischen Institutionen und ihren Lehrern voraus. Denn diese hatten und haben ihrerseits eine größtenteils leblose und statische Ausbildung erfahren: Formeln wiederholend und mit Heiligen, Mythen, Rezepten und Vorurteilen gespickt, als hätten wir Theologie statt Musik studiert.

Diversität durch Medienvielfalt

Im weltweiten Panorama kann sich Lateinamerika heute nicht mehr über Isolation und fehlenden Zugang zu globaler Information beklagen. In der Vergangenheit mag das ein Motiv des politischen Protests gewesen sein, doch mit den heutigen Möglichkeiten von Internet, Kabelfernsehen, YouTube und digitalen Medien wird der Zugang zu Vernetzung und das Konzept des „globalen Dorfs“ immer selbstverständlicher. Veränderungen finden in der systematischen Ausbildung an Schulen und Institu­tionen erst dann Niederschlag, wenn die Kommunika­tionsmedien uns tagtäglich begleiten und Modelle, Moden, Qualitäten und Wege in der Musik aufzeigen.

Wir Musiker können in diesem großen digitalen Meer Tag für Tag navigieren und Klangvisionen sammeln, nicht nur von unmittelbar Greifbarem, sondern auch von etwas Fernem und Ungreifbarem. Als Komponierende sind wir immer auf der Suche, hinterfragen, riskieren das Unbekannte und finden Wege der Vernetzung, ohne die uns eigene Globalität indigenen Denkens dabei zu vernachlässigen. So können wir uns neuen Vorschlägen annähern, die aus dieser Globalität erwachsen und planetarisches Ausmaß erlangen – aber immer in einer Haltung der Offenheit gegenüber dem, was aus dem indigenen Eigenen und der großen kreolischen Tradition, die in diesen Ländern geboren wurde, mitschwingt und darüber hinausgeht.

Vielfalt als Gesamtkonzept

Wenn wir also die Möglichkeiten der digitalen Medien sinnvoll nutzen und gleichzeitig eine Öffnung der traditio­nellen Bildungseinrichtungen gegenüber musikalischen Realitäten, die nicht die eigenen sind, betreiben, könnten wir die Ausbildung eines Interpreten-Komponisten an­gehen, der geographisch dort lebt, wo der Planet endet. Wenn wir es optimistisch betrachten, leben wir eigentlich dort, wo alles beginnen könnte – denn im Universum gibt es weder oben noch unten.

Unsere Situation als lateinamerikanisches, kolonisiertes und neokolonisiertes Dritte-Welt-Land bietet uns kulturell mehr Vor- als Nachteile. Denn wir sprechen von einer möglichen Zukunft, einem „ab heute“: Vielleicht hat die Vergangenheit uns auf der Weltbühne etwas herabgesetzt, aber nichts von dem, was war, muss so bleiben.

Die Regionalismen in Reinform existieren, weil sie an einem bestimmten Ort entstanden sind. Weil sie dort geboren wurden. Wenn wir Folklore oder oral überlieferte Musiken in der heutigen Globalisierung rechtfertigen müssen, dann deshalb, weil alles seinen Ort der Entstehung hat. Die Krise aber wird erst durch das verursacht, was an einem anderen Ort, in einem anderen Kontext vorgibt, authentisch zu sein. So wie es ein Bürgermeister meines Landes klar gesagt hat: „In diesem Theaterhaus ist die chilenische Kultur geboren, lebt und entwickelt sich weiter“ – wobei er sich auf die europäische Oper bezog. Ist das nicht eine sehr undankbare und simple Wahrnehmung unserer eigenen Kultur?

Unsere geographische und politische Lage auf diesem Planeten bietet den großen Vorteil, dass wir aufgrund unzähliger Migrationen, die bis heute andauern, direkten Zugang zu den meisten Kulturen haben. Als Komponisten sind wir niemandem verpflichtet, weder unseren Ahnen noch der Tradition oder irgendwelchen ästhetischen Referenzen. Chile zum Beispiel hat nichts Besonderes, das es in der musikalischen Tradition auszeichnet, mög­licherweise aufgrund der Vielfalt seiner Geographie oder der Unterschiedlichkeit seiner Regierungen. Auch haben wir in unserem Land keine eigenständige Volksmusik. Die Tatsache, dass auf unseren Schultern keine spezifische Musiktradition lastet, stellt uns vor umfassende und zugleich spannende künstlerische Herausforderungen.

Unsere musikalische Ausbildung und die damit einhergehende Haltung erfordert, unsere kulturelle Hybridität ein für alle Mal anzunehmen: Sie umfasst alles, was ist und bleibt und sich so niederschlägt, als wäre es das Eigene. Aber bisher hat nichts genügend Kraft gehabt, sich als einzigartige Gesamtheit zu behaupten, denn diese unabdingbare, historische Entität liegt in allem, was in unserer Mu­sik eklektisch ist – genauso eklektisch, wie wir selbst sind.

Die Postmoderne wird auf unserer Seite sein, wenn wir sie voll und ganz leben und versuchen, sie zu genießen – denn in Lateinamerika zeigt sie sich ja fast ungeniert, wir erleben sie quasi in Reinform. Das, was wir jahrelang als „abwesend“ bedauert haben und was bis heute heftige Kontroversen aufwirft („Wer oder was ist unsere Identität?“), wird dann in unseren Händen liegen, nachdem wir es geschafft haben, alles Heterogene, das uns das tägliche Leben präsentiert, zusammenzubringen. Denn mit dieser heterogenen Materie können wir auch unsere Musik strukturieren. Die wohl bekanntesten Beispiele, die solchen künstlerischen und identitätsbezogenen Visionen am nächsten stehen, lassen sich in den Werken von Cergio Prudencio aus Bolivien, Alejandro Iglesias-Rossi aus Argentinien oder Javier Álvarez aus Mexiko finden.

Nicht umsonst ist Lateinamerika so vielfältig. Durch seine klimatische Geographie schenkt es uns auch Fangos, Jorongos, Cumbias, Sones, Boleros, Sambas, Landoes, Huainos, Cuecas und Zamacuecas, um einige kreolische Musiken zu nennen. Es ist bezeichnend für unsere Situation, dass auch wir mehr als zweihundert Jahre Bach, Mozart und Beethoven erlebt haben, genauso wie karibische Musik, Jazz, Rock und die Musik des Ostens sich kraftvoll durchgesetzt haben. Zusammen mit den Beiträgen, die Elektronik und Computer zu leisten imstande sind, können wir dann (wenn die Bildungsinstitutio­nen es zulassen oder „sich selbst erlauben“), gemeinsam mit Lehrern, die zu solchem Umdenken bereit sind, eine Ausbildung für Musiker-Komponisten anbieten, die unserer musikalischen und soziokulturellen Realität auch wirklich entspricht: Das heißt, ein Kompositionsunterricht, der weder sendungsbewusst noch religiös sein muss. Unsere Komponierenden können, sind und werden weder ein Beethoven noch eine Violeta Parra sein, auch kein Atahualpa Yupanqui, kein Pixinguinha, kein Gardel, kein Rock- oder Popgenie, sondern sie setzen sich zusammen aus der Gesamtheit dessen, was uns diese Musik geben kann. Das ermöglicht uns eine Künstlervision, die von ihrer eigenen sozialen Realität, Identität, Zeit, Situa­tion und Geographie geprägt ist.