MusikTexte 169 – Mai 2021, 3–4

Lichtung des Nebels

Zweifel an künstlerischer Forschung

von Gordon Kampe

Artistic research heißt das Gebot der Stunde! Nach und nach ploppen an deutschen Kunsthochschulen entsprechende Studienprogramme auf, um sich dem theoretisch sowie methodisch noch weitgehend unbestellten Feld zu widmen. Wegbereitern der künstlerischen Forschung, wie Isidor von Sevilla oder Guido von Arezzo – die auf ihrer Wolke bestimmt gerade die einschlägigen Curricula studieren – gefällt das! Das Mittelalter ist zurück, wenn auch im schickeren Design und mit allerlei diskursiver Verbalakrobatik ausgerüstet. Ars cantus und Ars musica versöhnen sich erneut, bewerben sich um Drittmittelprojekte und schaffen zwei halbe Stellen! Da bemühte sich „die“ Musik vom Spätmittelalter über Renaissance, Romantik und Moderne von den rationalen Zwängen des Quadri­viums zu emanzipieren, ward als geheimnisvolle Sprache eines fernen Geisterreichs apostrophiert, machte sich kurzzeitig fast frei von äußeren Zwängen, nur um schließlich im neoliberal geprägten Bologna-Prozess ebenso schleichend wie wortreich ins Mittelalter zurückgebeamt zu werden – E. T. A. Hoffmann gefällt das gar nicht. Den Humboldts auch nicht.

„Zunächst fällt allerdings auf“, so die Kunst- und Design­theoretikerin Anke Haarmann, „dass vor allem die Hochschulpolitik zum Durchbruch des Begriffs der künstlerischen Forschung in Zentraleuropa geführt hat. Durch den so genannten Bologna-Prozess, dessen Ziel es war, über die europäischen Ländergrenzen hinweg eine Vereinheitlichung der Ausbildungssysteme zu erreichen, wird das Forschen in der Kunst aktuell.“1 Die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, die intrinsische Motivation, fünf Jahre lang zweckfrei einem noch so nerdigen Thema nachzujagen: Pustekuchen!

Zugegeben, der Einstieg ist ein bisschen überspitzt. Vertreterinnen der künstlerischen Forschung rollen standesgemäß mit den Augen: Da hat wieder einer was nicht verstanden, da ist wieder einer konservativ, da fürchtet einer um irgendwas. Mitnichten! Ich fürchte nichts und grolle nicht. Was mich treibt, ist nicht Ablehnung, sondern: Zweifel! Ich habe das ein oder andere Symposium besucht, Texte studiert, diskutiert und bin als Lehrer und Betreuer sogar Teil eines sehr nachgefragten Studienprogramms an meiner Hochschule in Hamburg. Was ich im Rahmen von künstlerischer Forschung allerdings gelegentlich traf, war eine große Begeisterung ob der neuen Termini mit einer nonchalanten Nähe zur Affirmation des eigenen Tuns – nicht selten mit einer gewissen Überheblichkeit insbesondere der Musikwissenschaft gegenüber, deren neuere Inhalte und Methoden man geflissentlich zu ignorieren scheint. Was ich seltener traf, waren Zweifel, Selbstkritik und insbesondere ein Qualitätsmaßstab. Ich möchte dabei längst nicht so weit wie Peter Ablinger gehen und von Verrat an der Kunst sprechen: „Dagegen den Komponisten und Kreativen, die sich mit dem Etikett des Wissenschaftlichen schmücken, gilt mein ganzer Zorn und die Anklage des Gottesverrats: Für dreißig Silberlinge verkaufen sie die Kunst an die Wissen­schaft.“2 Ich möchte allerdings Zweifel an der ein oder anderen gängigen Praxis anmelden. Ich bin interessiert, aber – noch – nicht ganz überzeugt.

Stutzig wurde ich im Rahmen der Uraufführung einer Doktorandin. Sie habe sehr lange an ihrem Stück geforscht, nun komme es zur Aufführung! Ich fragte mich: Wie kann man Orchesterstücke „forschen“, während andere Orchesterstücke „schreiben“? Die Komponistin hatte sich intensiv mit interkulturellen Fragen beschäftigt und ihre Gedanken in Musik gesetzt. Aber: Forschung? Warum wurden denn gebräuchliche Wörter wie „schreiben“ oder „komponieren“ ausgetauscht, obwohl das Ergebnis ein schönes Stück Musik war? Solch „unzureichenden Analogien“ werden in einem höchst lesenswerten Manifest der künstlerischen Forschung als echtes Problem beschrieben: „Angeführt werden beispielsweise die aus der Wissenschaftsforschung stammenden Laborstudien und Experimentalsysteme, die von vornherein irreführende Anleihen machen, als ob sich einerseits das Künstlerische des Forschens in Serien von Experimenten erschöpfte und sich andererseits Forschung als Kunst im Labor als deren bevorzugter Stätte vollziehen müsse.“3

Ich zweifle auch – um weiterhin konkret zu bleiben –, wenn moderierte Konzerte als künstlerische Forschung ausgegeben werden. Wenn man Sätze wie „Der Halbton B-Ces befindet sich in T. 7, 85, 88, 90, 180–186 in dramatischen Kernmomenten“4 schreibt, diese auch auf dem Klavier spielen kann und einen Text dann lapidar mit: „Genau deswegen brauchen wir künstlerische Forschung!“ be­­endet, dann denke ich mir: nee, das ist ganz normale Musiktheorie. Oder … wenn eine Geigerin Zitate und Quellen über den Kontakt zwischen Komponierenden und Performern vorliest und mit Neue-Musik-Gesten und Spieltechniken garniert, dann höre ich ein normales Stück neuer Musik mit Textfragmenten, aber warum sollte das Forschung sein?5 Und wie um Himmels willen kann etwas Forschung sein, wenn man Untersuchungsgegenstand und Autorin in Personalunion ist? Ein wenig mehr Distanz zur Quelle kann nicht schaden.

Ich ahne hier ein grundlegenderes Problem. Wenn ich als promovierter deutscher Musikwissenschaftler, der an einer ganz „normalen“ Universität studiert und unterrichtet hat, von Forschung spreche – dann habe ich eine recht konkrete Vorstellung davon, was das meint. „Research“ oder „Recherche“ meint etwas anderes. Bevor derlei nicht geklärt ist, wird es immer wieder zu Missverständnissen kommen. Wenn ich einen Froschklang erforsche und recherchiere, welche Tubax-Multiphonics dem Frosch ähnlich sind, dann ist das keine Wissenschaft. Und wenn ich den Frosch mit einem selbstentwickelten Computerprogramm forsch durch den Raum wirble, dann ist das – für mich – immer noch keine Wissenschaft. Sollte also herauskommen, dass ich nicht „geforscht“, sondern „nur“ komponiert habe, dann ist das immer noch okay und ich verdiene meine Kröten als selbstbewusster Komponist. Und auch wenn ein an einer amerikanischen Elite-Universität eingereichtes Konvolut an Partituren dort „Dissertation“ heißen mag und dafür ein PhD verliehen wird, dann wäre das in Deutschland äquivalent mit einem Konzertexamen und kein Doktortitel ... et cetera. Ergo: Räumen wir die Übersetzungsprobleme ab und implementieren zudem nicht unreflektiert6 andere Bildungs- und Forschungskulturen: „Die institutionellen Zwänge, curricularen Arabesken und die hochschulpolitische Konjunktur des Begriffs der künstlerischen Forschung zeigen den erkenntnistheoretischen Klärungsbedarf.“7

Hinzutreten müsste unbedingt die Einstudierung von Kritik, die für die Etablierung von Qualitätsmaßstäben unabdingbar ist. Kritik findet sich meines Erachtens vor lauter Metaebenen zum einen zu wenig am konkreten Beispiel. Oft geht es eher um die Wahrung der Defini­tionshoheit und um die Abwehr von Kritik und Zweifel. Wo weder dieses noch jenes – so es denn konstruktiv vorgetragen wird – nicht recht willkommen ist, dort ahne ich nichts Gutes. Zum anderen bedarf es natürlich immer auch der Kritik an der Institution: Wenn sie – etwa im Rahmen eines Graduiertenkollegs – das Thema setzt, dann hat der untersuchte Gegenstand immer auch das Placet der Politik, die qua Forschungsmittel mit am Schreibtisch sitzt: „Politik macht künstlerische Forschung, indem sie Begriffe und Denkrichtungen evoziert, aus denen Diskurse, Praktiken und schließlich Institutionen werden, an denen die Kunst als Forscherin auftritt.“8 Aufgerufen wäre die Politik dann aber auch, nicht nur für eine immer größer werdende Anzahl an Promovierten zu sorgen, sondern auch zu überlegen, was die Doktorscharen nach erfolgter Promotion denn tun. Der Verweis auf den prekären Arbeitsmarkt ist nicht sehr sympathisch, allein: Ein wenig Realismus könnte hier und dort nicht schaden und ein Plädoyer dafür sein, die Programme insbesondere als Exzellenz- und Ausnahmeprogramme einzurichten. Schließlich – und hier müsste die künstlerische Forschung von der Wissenschaft lernen – ist eine intensivere Methodenkritik notwendig. Ich nehme ein Sammelsu­rium an Methoden wahr, als hätten dieselben nicht auch ihre Geschichte, ihre Zusammenhänge, Implikationen, Zwänge … Wissenschaftliche Methoden liegen nicht auf dem unkritischen Grabbeltisch der Möglichkeiten herum. Dieses würde weder den künstlerischen noch den wissenschaftlichen Anteilen gerecht. So wird denn selbst im Manifest der künstlerischen Forschung festgehalten, dass sich eine Forschungspraxis etabliert hat, „die Kunst eher sekundär gebraucht – und missbraucht –, als dass sie wirklich in ihr denken und mit ihr arbeiten würde. [...] Statistiken, Interviews, teilnehmende Beobachtung, Datenvisualisierung, technische Innovationen oder naturwissenschaftliche Experimentalanordnungen, bespickt mit einer Streuung mehr oder weniger zusammenhängender Kommentare, versperren den Blick auf die eigentliche künst­lerische Un­ruhe, bis hin zu einem Umsturz, der erschließen kann, was den wissenschaftlichen und technischen Vor­gehensweisen unzulänglich bleibt.“9

Die „eigentliche künstlerische Unruhe“ aber sollte es doch sein, die nicht müde wird, Zweifel am eigenen Tun und Denken zu äußern. Eine gewisse Selbstgefälligkeit, die sich bis jetzt eher aus hochschulpolitischen Erfolgen speist, als dass sie sich durch denkwürdige Innovationen rechtfertigen ließe, ruht sich aus, noch bevor es überhaupt losgegangen ist. Was künstlerische Forschung also sein könnte, das definieren zahlreiche Texte. Was künstlerische Forschung aber ist, das schimmert gelegentlich nur vage vor lauter Selbstbegeisterungsnebel durch. Mehr Kritik, mehr Distanz, größere Selbstzweifel, weniger Modenhörigkeit und ein Verständnis von Kunst und Wissenschaft, die ihre jeweiligen Eigengesetzlichkeiten nicht ne­gie­ren, sondern sogar stärken und schätzen, all das könnte Nebel lichten.

1Anke Haarmann, Artistic research. Eine epistemologische Ästhetik, Bielefeld: transcript, 2019, 14.

2Peter Ablinger, „Kann Kunst Forschung sein?“, in: MusikTexte 161, Mai 2019, 9 (Fußnote 25).

3Silvia Henke, Dieter Mersch et al., Manifest der künstlerischen Forschung. Eine Verteidigung gegen ihre Verfechter, Zürich: diaphanes, 2020, 11.

4Florence Millet, „Zitate, Motive und Form in Sonaten von Ives und Beethoven“, in: Musik, die Wissen schafft, Perspektiven künstlerischer Musikforschung, herausgegeben von Arnold Jacobshagen, Würzburg: Königshausen, 2020, 157.

5Vergleiche dazu zum Beispiel Barbara Lüneburg, youtube.com/watch?v=r-UeTTOdXVs, Stand: 18. April 2021.

6„Die Begrifflichkeit der künstlerischen Forschung kam nicht in erster Linie von den Künsten und den Künstlern selbst, sondern ist wissenschaftstheoretisch vornehmlich ein Kon­strukt geisteswissenschaftlicher Bemühungen. Praxisbezogen kommt die Begrifflichkeit aus dem Ausland, nicht aus dem deutschen Kunst- und Wissenschaftssystem.“ Peter M. Lynen, „Künstlerische Forschung und die dritte Phase an Kunsthochschulen: Sieben Thesen“, in: Musik, die Wissen schafft, siehe Fußnote 4, 288.

7Anke Haarmann, siehe Fußnote 1, 15.

8Ebenda, 119.

9Silvia Henke, Dieter Mersch et al, siehe Fußnote 3, 17.