MusikTexte 170 – August 2021, 87–88

Sehnsucht nach der „alten Normalität“?

Die Wittener Tage für neue Kammermusik 2021

von Rainer Nonnenmann

Wie 2020 konnten die Wittener Tage für neue Kammermusik auch dieses Jahr wegen der Pandemie nicht live stattfinden. Daher wurden an drei Abenden insgesamt acht Konzerte mit rund zwölf Stunden Musik von WDR3 im Radio und Internet übertragen. Siebzehn geplante Uraufführungen wurden zu Ursendungen, vorproduziert von SWR, ORF, Ircam und WDR in Stuttgart, Wien, Paris, Frankfurt sowie Witten und Köln, größtenteils auch als Videos mit mediengerecht aktiver Kameraführung. Hinzu kamen Moderationen und Äußerungen von Komponistinnen und Komponisten, die man bei Live-Konzerten nicht gehört hätte. Dafür fehlte vor dem heimischen Radio oder Computer die lebendige Interaktion der Musizierenden mit Raum, Akustik und Publikum sowie der gemeinschaftliche Austausch über das Gehörte. Dass Musik gegenwärtig ausschließlich in mediale Vermittlung gezwungen wird, verändert nicht nur ihre äußere Erscheinung, sondern greift tief in ihre Produktions- und Rezeptionsweise ein. Nach mehr als einjähriger Corona-Krise sind Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst längst auch im aktuellen Musikschaffen spürbar. Die allgemeine Sehnsucht nach der „alten Normalität“ unseres Gesellschafts- und Kulturlebens zeigt sich hier in zunehmenden Rückgriffen auf bewährte Magien der „alten Tonalität“.

Klaus Lang komponiert gerne obertonreich leuchtende, vielfarbige, warme Klangflächen von geradezu buddhistischer Gleichmut. Nun ließ der Österreicher in der „Covid19-gerechten Filmversion“ seines „nirgends.“ den E-Gitarristen des ensemble ascolta zu düsteren Drones immer wieder mit voller Wucht lautstark verzerrte Akkorde anschlagen. Illustriert wurde der postapokalyptische Sound durch ein Video der steirischen Künstlerin Sabine Maier. Es zeigte das diffus beleuchtete Innere einer grau-schwarzen Kiste wie das traurige Sinnbild eines zur fensterlosen Monade verkapselten Ich. Zwischen plötzlich losratternden Dia- und Filmprojektoren, die statt Fotos und Filmen nur flimmernde Lichtrechtecke an die Wand warfen, öffnete sich der Blick in einen mystisch verdunkelten Saal. Unter salbungsvollen Orgelklängen in hellem Dur senkten sich aus unbekannter Lichtquelle verheißungsvolle Strahlen auf einen zentralen Kubus wie auf einen Altar, von dem zu österlichem Glöckchen-Schall weiße Weih­rauchwolken emporstiegen. Anschließend schlich ein rotes Lichtband von links über die Wände bis über den mittigen Alter, um dort wie zur Eucharistie einen Moment lang segnend zu verweilen und schließlich nach rechts abzuziehen: Die Klaus-Lang-Klang-Kirche schien perfekt, hätten nicht die erneut einfallenden Projektoren gestört und die wüste Klangdystopie des Anfangs den im Werktitel enthaltenen Schlusspunkt gebildet. Dieselbe schwarze Kiste ließ dann allerdings durch Ritzen erkennen, dass außerhalb des Unorts lockende Helligkeit der gefangenen Seele den Weg zu Licht, Glanz, Heil, Gott, Nirwana … verhieß. Gedreht wurde das erbauliche Video in einem Modellraum mit zirka einem Kubikmeter Volumen, der wie in alten Stummfilmen durch entsprechende Beleuchtung die Ausmaße erhabener Monumentalarchitektur suggerierte. Im Werkkommentar sprachen Lang und Maier betont nüchtern von Klang-, Raum- und Lichtstrukturen, die ohne zu erzählen oder zu belehren nur eine „ihnen eigene, reiche Schönheit“ entfalten. So ließ man mit höflichem Understatement dem Publikum die Freiheit, die vielen psychischen, theologischen, spirituellen, kultur- und filmgeschichtlichen Aufladungen der eindrücklichen Raum-Licht-Klang-Komposition selbst zu erleben.

Wie eine spiritistische Sitzung wirkte Mauro Lanzas Zyklus „Aether is a haunted place“ für Streichquartett und Elektronik. Statt durch Tischrücken meldeten sich Geister von Verstorbenen über zugespielte elektronische Störgeräusche, deren Knacken und Rauschen das Quatuor Dio­tima aufgriff, um ebenso schabend, brummend, schnaufend weitere Stimmen heraufzubeschwören: Bruchstücke aus der TV-Serie „Doctor Who“, historische Radio­aufnahmen erdnaher Satelliten sowie für Geister gehaltene Signale, die der Pionier der sogenannten Transkommunikationsforschung, Friedrich Jür­gen­son, Ende der Fünfzigerjahre aufgenommen hatte. Das gut halbstündige Werk blieb letztlich jedoch geheimnis- und geistlos, wie viele neue Musik, die durch mehr oder minder interessante außermusikalische Anleihen mit Bedeutung aufgeladen werden soll. Der reine Sonorismus von Sasha J. Blondeaus vierzigminütigem „Des mondes possibles“ eröffnete mit sattsam bekannter Ircam-Elektronik freilich auch keine neuen Klang- und Erfahrungswelten. In Céline Steiners „Vier Perlenzeichen im Gold“ behauptete sich das Quartett immerhin als ungebrochen vitales Kommunikations- und Interaktionsmodell.

Mit vier Werken porträtiert wurde Brice Pauset, der bereits mehrfach in Witten vertreten war. Der 1965 in Besançon geborene Komponist und Pianist hat bei Gérard Grisey, Franco Donatoni und Brian Ferneyhough studiert und lehrt seit 2008 Komposition an der Musikhochschule Freiburg. Für seine einstündige Komposition „Vertigo / Infinite Screen“ nach Alfred Hitchcocks gleichnamigem Film von 1958 arbeitete er mit dem Wiener Video-Duo Arotin & Serghei zusammen. Dessen Video-Projektion verselbständigte die in Hitchcocks Film zentralen Farben Blau, Rot und Grün zu eigenständigen Flächen, Mustern, Perspektiven und Rotationen. Da kaum originale Filmszenen durchschimmerten und alle Farben ständig gleichzeitig und unabhängig von Tempo, Dynamik und Dichte der Musik erschienen, entstanden jedoch lediglich leerlaufende Tapetenmuster ohne symbolische und psychotische Dignität. Pausets Komposition für das Klangforum Wien unter Leitung von Titus Engel erregte indes durchaus Schwindel mit ständigen Wechseln, Überlagerungen und Gegenläufen von Live-Musik, Live-Elek­tronik und Zuspiel von Fragmenten aus dem Soundtrack von „Vertigo“ und Bernard Herrmanns Filmmusik. Momentweise trat das wilde Wirbeln hinter dunklen Schleiern zurück, die Bariton-Oboe, Bass-Wagnertube und Basstuba mit langen Liegetönen aufspannten, als erfasse die Musik eben jene lähmende Schockstarre, die wahlweise zum Sturz in tödlichen Abgrund oder zu orgasmischem Selbstverlust führt.

Im Dialog-Porträt mit Martina Seeber zeigte sich Pauset als ausgezeichneter Interpret eigener Werke sowie profunder Kenner der Musik des siebzehnten Jahrhunderts und historischer Cembali, von denen er selbst mehrere Nachbauten anfertigte. Seine „Six Préludes“ für Cembalo von 1999 sind allesamt Virtuosenstücke mit instrumententypischen Stilanleihen bei den französischen Clavecinisten. Pralltriller, hochdifferenzierte Rhythmik, impulsive Läufe und improvisatorisch wirkende Freiheit kleiden sich in ein atonales Gewand mit scharfen Dissonanzen, wuchtigen Akkorden, geräuschhaften Clustern. Für einen Wiener Hammerflügel mit besonderen Pedalisierungsmöglichkeiten der Zeit um 1820 schrieb Pauset zwei erste Stücke seines neuen Zyklus „Minutes“, mit dem er die Idee einer Werkreihe über die sechzig Minuten der Stunde aufgreift, die Karlheinz Stockhausen nach Jahreslauf, Sternkreiszeichen, Wochentagen und dem unvollendeten Zyklus „Klang“ über die vierundzwanzig Stunden des Tages noch hätte realisieren wollen. Auch diese Klavierstücke wirkten rhapsodisch mit starken agogischen Schwankungen und kapriziös auf und ab zuckenden Figuren. Im ebenfalls uraufgeführten Klavierkonzert „Konzertkammer“ brachte Pauset als Initialzündung mehrere Luftballons stellvertretend für die Immobilien- und Finanzblase 2008 zum Platzen, um dann Solist Jean-Pierre Collot und das WDR-Sinfonieorchester unter Leitung von Michael Wendeberg die vielen Millionen verlorener Banknoten als ebenso viele Musiknoten möglichst schnell – Paulo Alvares half als zweiter Pianist – verbrennen zu lassen: Furie der Verschwendung als Abbild eines sich überschlagenden Hyperkapitalismus.

Im Konzert von Klangforum Wien und ensemble ascolta ließ Christian Winther Christensen die präparierten Instrumente seines Klavierquartetts „In touch“ klappern, ticken und pusten als handle es sich um einen defekten Musikautomaten, der dann mit einem Ruck plötzlich doch wieder halb kaputte Akkorde, Melodiefetzen und Tanzformeln ausspuckt. Wiederbegegnungen mit vergangener Musik bereitete auch Mirela Ivičević in „Subsonically Yours“, als sie gegen Ende unversehens melancholische Moll-Töne anstimmte. Michael Pelzel verband in „Dark Side of Telesto“ den Namen des hellsten Saturnmonds mit dem meistverkauften Pink-Floyd-Album „The Dark Side of the Moon“. Dem präparierten Flügel wurden obertonreich schwebende Gong- und Glockenklänge entlockt, deren Dunkelheit dann besonders grelles Hämmern, Fauchen und Schnattern verdrängte, bis schließlich alles in kosmische Kälte und Nacht versank.

Neben nostalgisch gefärbten Rückgriffen auf traditionelle Idiome und unterhaltende Genres gab es auch eine forsch-fröhliche Achterbahnfahrt durch schlingernden Stilpluralismus. Birke Bertelsmeier wollte mit ihrem Kammerorchesterwerk „Frischzellenkur“ die Frage stellen, ob Anleihen bei alter Musik eine „Verjüngungskur in der Musik“ ermöglichen können, als bräuchte das verschrumpelte Antlitz des alternden Genres eine Botox- oder Vitaminspritze. Der verabreichte Cocktail – geschüttelt, nicht gerührt! – enthielt spritzigen Neobarock, saftige Hollywood-Sinfonik, zartbitter Zirkusmusik und crunchy Minimalismus, wirkte trotz allem Zappeln aber leider letal. Eine Flucht nach vorne trat auch Żaneta Rydzewska an, die ihr Stück „Zauberwürfel“ für das Blechbläserquintett Ensemble Schwerpunkt von repetierten Floskeln zu swingenden Kreisfiguren steigerte, als sollten alle Kombinationsmöglichkeiten der sechsundzwanzig Würfelsegmente möglichst rasch durchgedreht werden. Im Newcomer-Konzert präsentierte das ausgezeichnete IEMA Ensemble 2019/20 unter Dirigent Marc Hajjar zwei Ur- und drei deutsche Erstaufführungen. Kathrin Denners „vertical loop task II“ verband versprengte Klangpunkte zu wogenden Wellen, aus deren vertikaler Verteilung harmonische Hüllkurven und schließlich liegende Spektralakkorde resultierten.

Zwölf Arbeiten im Bereich Klangkunst und mobile Kammermusik waren für den 1910 angelegten Schwesternpark des Wittener Diakonissinnen-Krankenhauses geplant. Bei Freiluftkonzerten unter Beteiligung des Ensemble Garage sowie weiterer Instrumentalistinnen und Sänger hätten sich die Besucher durch Heide, Obstwiese, Kiefernwald und Eichenhain individuelle Hörwege bahnen können, was jetzt nur in Ausschnitten radiophon abgebildet wurde. Bei den Kammermusiktagen 2022 soll der Parcours vor Ort jedoch so realisiert und erlebbar gemacht werden, wie ihn die zwölf Komponistinnen und Komponisten gedacht haben. Dann hoffentlich im nächsten Jahr: Auf Wiederhören und Wiedersehen in Witten!