MusikTexte 170 – August 2021, 3–4

Geld und Geist

von Max Nyffeler

Während des Lockdowns im vergangenen Jahr war viel von den notleidenden Künstlern die Rede, womit aber nur diejenigen der Performing Arts gemeint waren: Sänger, Schauspieler, Musiker, Zirkusleute und andere. Die Komponisten gerieten nicht ins Blickfeld – die säßen ja angeblich nur zu Hause vor ihrem Papier oder Computer und könnten auch in Pandemiezeiten ruhig weiterarbeiten. Doch der Weg in die Öffentlichkeit war ihnen versperrt, und ebenfalls lahmgelegt waren die Musikverlage als wichtige Vermittlungsinstanz zur Öffentlichkeit. Die elektronisch geführten Gespräche mit Veranstaltern konnten natürlich weitergehen. Gesehen aufs Ganze, das schwer bedrohte Musikleben, waren das aber nicht mehr als kommunikative Bypässe.

Dieses Ganze ist ein komplex funktionierender, umsatzstarker Wirtschaftszweig, in dem ein Rädchen ins andere greift. Einige Zahlen vom Oktober 2020: Die Musikwirtschaft erzielte 2019 einen Umsatz von neun Milliarden, prognostiziert wurde bis zum Jahresende 2020 ein Umsatzrückgang bis zu fünfzig Prozent. Umsatzstärkster Bereich waren 2019 die Theater- und Konzertveranstalter mit 2, 3 Milliarden, gefolgt von den Verlagen mit 1, 8 Milliarden. Selbständige Musiker und Musikerinnen kamen auf 287 Millionen. (In diesen Zahlen sind auch alle Formen von U-Musik enthalten.)1

Der Lockdown traf die Verlage und mit ihnen die Autoren hart. Zum Beispiel wurden viele Opernpremieren nur mit reduzierter Besetzung im Internet gestreamt; die ­Höhe der Tantiemen, die sich hauptsächlich nach den Abendeinnahmen bemisst, sank dadurch ins Bodenlose. Für einen mittelständischen Verlag mit Dutzenden von Angestellten und entsprechenden Betriebskosten war das existenzgefährdend, und Insolvenzen konnten nur dank der Kurzarbeiterregelung abgewendet werden.

Inzwischen ist die Talsohle durchschritten, doch der Weg zum Normalzustand ist noch lang. „Das wird mehrere Jahre dauern“, sagt Christiane Albiez, Mitglied der Geschäftsleitung des Schott-Verlags. Der Verlust betreffe natürlich auch die Autoren, denn geplante und dann verbotene Aufführungen könnten nicht einfach nachgeholt werden; die nächsten Spielzeiten seien ja auch schon weitgehend ausgeplant. Ähnlich sieht das Mathias Lehmann, Geschäftsführer der Edition Juliane Klein: „All­mäh­lich zeichnet sich ab, dass immer mehr Projekte, auch Uraufführungen, die zum Teil zweimal oder öfter verschoben werden mussten, nun endgültig ‚beerdigt‘ oder zumindest auf unbestimmte Zeit verschoben sind.“ Dazu kommt eine kleine Zeitbombe: Die GEMA rechnet die jährlichen Tantiemeneinnahmen immer erst im Folgejahr ab; das Katastrophenjahr 2020 wird also erst 2021 finanziell voll durchschlagen. „Das Gesamt-Inkasso der GEMA für Live-Aufführungen ist von 407 Millionen 2019 auf 230 Millionen 2020 um fast die Hälfte zurück­gegan­gen“, sagt Lehmann, „und für das nächste Jahr sieht es auch nicht gut aus.“ Christiane Albiez verweist darauf, dass es in vielen Ländern auch jetzt noch erhebliche Einschränkungen im Konzert- und Opernbetrieb gebe. „Wir können nur beten, dass es im Herbst keine vierte Welle geben wird – das wäre nur noch schwer zu verkraften.“

Nach der Pandemie wird es in den Verlagen vermutlich anders aussehen als vor der Pandemie. Lehmann befürchtet ab 2022 Kürzungen in den öffentlichen Kulturhaushalten, will sich aber nicht auf eine Reduktion der Verlagsaktivitäten einlassen. Bei Schott will man vermehrt auf die Digitalisierung setzen; nicht nur nach innen, was die Möglichkeiten des Home Office angeht, sondern etwa auch im pädagogischen Bereich mit dem Ausbau der Unterrichtsmaterialien für Distance Learning.

Aber was macht ein Musikverlag eigentlich im Normalfall? Ein alter Musikerwitz lautet: Er verlegt die Partitur, so dass sie keiner mehr findet. So weit, so witzig, und manchmal kann das sogar vorkommen. Die Realität sieht natürlich anders aus. Einerseits gibt es einen Backkatalog, der je nach Umfang und Titeln einen beträchtlichen Vermögenswert darstellt, aber auch gepflegt werden muss, und andererseits das aktuelle Schaffen. Bei diesem dreht sich alles um das einzelne Werk und seine schriftliche Fixierung in der Partitur, wobei man drei Ebenen unterscheiden kann: Erstens wird sie durch das Lektorat und den Druck in eine physisch handelbare Existenz gebracht. Zweitens wird sie Veranstaltern und Interpreten zur Aufführung empfohlen – das nennt sich Promotion. Drittens ist sie Träger immaterieller Werte, und das betrifft einerseits den geistigen Gehalt, andererseits die Rechte. Der Verlag hat die Aufgabe, diese Rechte „wahrzunehmen“. Die Einnahmen (Tantiemen) teilt er mit dem Autor oder der Autorin nach einem bestimmten, im Verlagsvertrag festgelegten Schlüssel.

Bei den Autorenrechten herrschte bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Wildwuchs. Erst 1903 erfolgte der entscheidende Schritt, der die Basis zur heutigen Form des Urheberrechts legte. Damals wurde die „Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht“, eine Vorläufer­orga­ni­sation der heutigen GEMA, gegründet. Maßgeblich daran beteiligt war Richard Strauss, der immer ein gesundes Verhältnis zum Geld hatte. Das Urheberrecht wird je nach Land und Kulturkreis unterschiedlich gehandhabt – wenn es überhaupt ernstgenommen wird. Das europäische Urheberrecht besagt, dass die Rechte des Autors an seinem Werk unver­äußerlich sind und erst siebzig Jahre nach seinem Tod erlöschen. In den USA kann der Autor seine Rechte hingegen an einen Verlag, einen Film- oder CD-Produzenten verkaufen. In Europa geht das nicht. Er kann aber die Verwertung der Rechte einem Verlag übertragen, wobei die Details in einem Vertrag festgeschrieben werden. Der Verlag meldet die Werke wiederum bei einer Verwertungsgesellschaft an, die die Erträge aus Konzertaufführungen und Medien­übertragungen kollektiv sammelt und anteilig an Komponistin und Verlag überweist.

Um die Bühnenrechte, das sogenannte Große Recht, kümmert sich der Verlag selbst. Bei szenischen Werken wird für jedes Werk einzeln ein Vertrag abgeschlossen. Die Tantiemen richten sich nach der Höhe der Abendeinnahmen und betragen normalerweise zwischen zehn und fünfzehn Prozent. Vor allem bei großen Häusern können Verlag und Autoren mit stattlichen Erträgen rechnen. Für eine Aufführungsserie des „Rosenkavalier“ im Großen Festspielhaus Salzburg, so rechnete mir 2005 der damalige Salzburger Intendant Peter Ruzicka vor, fielen für Verlag und Strauss-Erben rund 400.000 Euro an. Ruzicka: „Es wird also eigentlich Papier vermietet, und das löst eine solche Vergütungssumme aus.“2 In dieser Summe waren auch die Leihgebühren für das Orchestermaterial – das „Papier“ – enthalten. Diese sind eine zweite bedeutende Einnahmequelle.

Das Verhältnis zwischen Verlag und Komponist gleicht einer Symbiose, bei der jede Seite ihren Vorteil hat. In der Realität ist der Verlag jedoch meistens der Stärkere und diktiert die Bedingungen. Wer das nicht will, kann natürlich kündigen, aber die Chancen, einen „besseren“ Verlag zu finden, sind gering. Und wer seine Partituren vom Verlag zurückfordern möchte, müsste unter Umständen erhebliche Summen dafür zahlen – der Verlag würde zumindest die in das Werk investierten, noch nicht amortisierten Beträge zurückfordern. Wenige Komponisten könnten ein solches „Lösegeld“ erbringen. Einer von ihnen war Stockhausen, der fast alle seine frühen Werke von der Universal Edition freikaufte und in seinen eigenen Verlag überführte.

Im Zeitalter der neuen Medien wird die Rechteverwertung immer komplizierter, aber auch rentabler. Besonders lukrativ ist die Lizenzierung von Musik bei einer Kombination mit bewegten Bildern, als besonders unattraktiv erweist sich das Abspielen im Internet. Der Streamingdienst Spotify zahlt den Autoren pro Click eines Audiotracks lediglich 0,002 Cent. Allgemein verbindliche Regelwerke mit klaren Tarifen gibt es nicht, alles ist in Bewegung. Über konkrete Zahlen geben weder Verlage noch mediale Veranstalter Auskunft, der Markt ist extrem intransparent und wird zunehmend von den Multis bestimmt.

Im Big Business ist ein Musikstück nur noch eine Art Markenprodukt, dessen Rechte nach allen Regeln der Kunst ausgebeutet werden. Um kulturelle Werte geht es hier schon lange nicht mehr. Kleinere Verlage werden aufgekauft und ausgeweidet, Rechte paketweise für Mil­lio­nen gehandelt. Im Dezember 2020 ging die Nachricht um die Welt, dass Bob Dylan die Rechte an allen seinen Songs für geschätzte dreihundert Millionen Dollar an die Universal Music Group (UMG) verkauft hatte. UMG gehört wiederum dem französischen Medienkonzern Vivendi, und der will seine Musiksparte, also UMG, loswerden. Sechzig Prozent des Unternehmenswerts von sechsunddreißig Milliarden Dollar sollen an der Börse angeboten werden, zwanzig wurden bereits an den chinesischen Konzern Tencent verkauft, weitere zehn sollen an einen Hedgefonds des amerikanischen Milliardärs Bill Ackman gehen.3 Zur UMG gehört seit 2007 auch Ricordi. Varèse, Nono und Heiner Goebbels werden also in Zukunft tröpfchenweise die internationalen Finanzmagnaten und das anonyme Aktienkapital miternähren.

Das Kaufen und Wiederverkaufen begann mit dem Aufkommen des Internets, das die Verlage in eine Krise stürzte. Als der italienische Traditionsverlag Ricordi 1994 zunächst an Bertelsmann verhökert wurde, fragte ich ein Vorstandsmitglied des Medienkonzerns, was denn für ihn an Ricordi so interessant sei. Er antwortete: „Die Rechte.“

Seit Ottaviano Petrucci, der 1501 in Venedig den ersten Musikverlag gründete, besteht das Unternehmensziel eines Verlags darin, ein geistiges Produkt auf den Markt zu bringen und Geld damit zu verdienen. Ohne ihn gäbe es kein funktionierendes Musikleben. Das ursprüngliche – stets labile – Gleichgewicht von Geld und Geist hat im globalisierten Kapitalismus eine schwere Schlagseite bekommen. Bei den Multis, die den Wert der Musik nur noch ökonomisch bestimmen, wird das Werk zu einer „Marke“ gemacht, zur Handelsware in einem wie geschmiert laufenden medialen Betrieb. Die geistigen Werte haben wohl nur noch in jenen Verlagen eine Chance, in denen Persönlichkeiten und nicht sachfremde Manager den Ton angeben, und das sind häufig Unternehmen mit überschaubaren Besitzverhältnissen. Zu letzteren gehören in Deutschland die wenigen verbliebenen Traditionsverlage wie Schott, Breitkopf oder Bärenreiter und die engagierten Kleinverlage, deren Eigentümer mit den Komponisten auf Du und Du stehen. Hier trifft man noch auf Leute, die an die von ihnen verlegte Musik glauben. Sie sorgen dafür, dass die fünfhundertjährige Musikverlags­tradition nicht im Sog der Globalisierung untergeht.

Der Autor war von 1991 bis 1998 Künstlerischer Leiter des Verlags Ricordi in München.

1Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft 2020 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.

2Gedruckte Noten unter Druck. Musikverlage im Zeitalter von Computer und Internet, Sendung WDR 3, 10. Februar 2005.

3FAZ vom 4. Juni 2021: „Vivendi findet weiteren Käufer für Universal Music“, FAZ vom 19. Juli 2021: „Der ameri­kani­sche Investor Bill Ackman zieht den Universal-Deal neu auf.