MusikTexte 170 – August 2021, 65

Vom Furor des Verschwindens

von Markus Hechtle

Obwohl es schon mindestens dreißig Jahre her sein muss, erinnere ich mich noch genau, wie mein um einiges älterer – damals schien er mir jedenfalls um einiges älter zu sein, aus heutiger Sicht wäre er wohl wesentlich weniger älter –, wie also mein älterer Komponistenkol­lege Oliver Steinert, über den ich an anderer Stelle bereits ausführlicher berichtete,1 sagte, das mache nichts, er brauche keinen Verlag, oder nein, so hatte er das nicht gesagt, er sagte vielmehr, er hätte sich deshalb noch nie um einen Verlag bemüht, weil er sich sicher sei, dass schon noch ein Verlag bei ihm anklopfen würde, schließlich setze sich Qualität, also die Qualität seiner Kompositionen, irgendwann durch, und er wäre ja schließlich keiner, der sich anböte, der Klingeln putzte, der antichambrierte, und schon gar niemand, der sich aufdrängte, was aber auch nicht nötig sei, da eben der ein oder andere Verlag – wobei er selbstverständlich nur an solchen Verlagen interessiert wäre, bei denen er sich in guter Gesellschaft wüsste – ohnehin noch auf ihn aufmerksam werden würde, da hätte er keine Sorge.

Kurz bevor Oliver Steinert starb, was ungefähr zwanzig Jahre später passierte, griff er dieses Thema noch einmal auf. Wir saßen nach einer hart umkämpften Billardpartie in weichen Ledersesseln, die ihm ein älterer Komponistenkollege vererbt hatte, tranken Brandy auf Brandy, und Steinert schien nun jene ehemals tief verwurzelte Zuversicht verloren zu haben, schien nun tief gekränkt zu sein ob des Vertrauens, das ihm noch immer nicht entgegengebracht, der Anerkennung, die ihm noch immer nicht verliehen wurde, denn bis dato hatte sich nach wie vor kein Verlag bei ihm gemeldet. „Dessen Werk von einem Verlag publiziert wird“, dozierte Steinert zwischen zwei Schlückchen bestem spanischen Brandy, „der kann sich nicht nur sicher sein, dass sein Werk ohne sein eigenes Zutun zugänglich ist und bleibt, also auch den eigenen, möglicherweise unerwarteten Tod überleben wird, der weiß sich vor allem auch geschätzt, sieht sich gesehen und seinem Werk zugetraut, interessant genug für andere, daher auch ökonomisch interessant genug für den Verlag selbst zu sein. Dem Nichtverlegten hingegen haftet stets das Stigma des Kämpfers in eigener Sache an, des Fürsprecherlosen, des Ausgestoßenen, der erfolglos von einer Gelegenheit zur nächsten sich hangelnd nicht verstehen will, dass, wer sich nicht auf das Vertrauen anderer berufen darf, schwerlich das Vertrauen anderer gewinnen kann.“ Man denke nur an die vielen Preistragenden, fuhr Steinert fort, deren Preise nächste Preise wie automatisch nach sich zögen, weil sich die nächsten Preisevergebenden in Ermangelung jeglicher Eigenverantwortung – Steinert sagte „Eierverantwortung“, was mutmaßlich der Wirkung des Brandys geschuldet war – oft auf die zuletzt Preisevergebenden berufen würden. Scheine der junge Künstler noch gegen jede Form des Misserfolgs gefeit, weil er ihn mühelos als Resultat ignoranter Fehlbewertung seines außergewöhnlichen Talents zu erklären und seinen Ausschluss geradezu als Auszeichnung zu feiern wüsste, begänne der Zweifel mit dem Altern verlässlicher zu nagen. Nun spüre der Alternde den kalten Hauch der Geschichte, die an ihm vorbei sich bilde. Und er begänne zu verstehen, dass jedes verlegte Werk ein Vorlass an die Nachwelt sei, also zum Bleiben beitrage, während jedes nichtverlegte das Verschwinden anfüttere. Diese Kränkung auszuhalten, sei dem Nichtverlegten zusätzlich zur Bewältigung seiner Erfolglosigkeit auferlegt, die ja die eigentliche Ursache seiner Verlagslosigkeit ist. Das Zerstörerische an der Verlagslosigkeit sei also nicht der daraus resultierende Mangel an publizistischer Präsenz, sondern vielmehr der Mangel an Vertrauen, Zuspruch, Anerkennung, mit denen der Nichtverlegte zu leben habe, sowie das daraus keimende Bewusstsein seines unaufhaltsamen Verschwindens und die damit verknüpfte Erkenntnis seiner wachsenden Bedeutungslosigkeit. Der dem in jungen Jahren noch erfolgreich sich entgegen Stemmende verlöre mit fortschreitendem Alter peu à peu jene Fähigkeit und Zuversicht, was ihm wiederum als Beweis seines Versagens, seines mangelnden Stehvermögens, seiner dünnstrahligen Kreativität vorgehalten würde. „Tja, Hechtle, man hat’s nicht leicht, aber leicht hat’s einen!“, lallte Steinert zum Ende seines Vortrags, um sich mit erstaunlich ruhiger Hand einen weiteren Brandy zu genehmigen.

Da Steinert ledig war und kinderlos – er vertrat die Meinung, Kinder gehörten zu den vermeidbaren Übeln menschlicher Existenz –, konnte ich nach seinem überraschenden Tod erleben, wie schnell das ging, wie schnell sein Werk verschwand. Seine mit Büchern und Partituren vollgestopfte Altbauwohnung wurde aufgrund der Entscheidung entfernter Verwandter zugunsten einer wohltätigen Stiftung aufgelöst. Und da mir Steinert nie eine seiner Partituren geliehen oder gar geschenkt hatte, bin selbst ich, einer der wenigen, die näheren Kontakt mit ihm hatten, nicht im Besitz auch nur eines seiner Werke. Lediglich seine Triosonate in fis-Moll, die mir Steinert einst zum Beweis seiner frühen Hochbegabung regelrecht aufgedrängt hatte, wäre in meinem Regal zu finden. Was daraus wohl werden wird, wenn auch ich einmal verschwunden bin?

1Markus Hechtle, „Ich hab ja keine Ahnung, aber …!“, in: Neue Zeitschrift für Musik, 3/2011, 41–46, und in: Populär vs. elitär, Edition Neue Zeitschrift für Musik, Mainz: Schott 2013, 77–90.